BVwG W123 2211027-1

BVwGW123 2211027-119.8.2021

AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2021:W123.2211027.1.00

 

Spruch:

W123 2210725-1/19EW123 2211027-1/10E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerden

1. der XXXX (im Folgenden: Erstbeschwerdeführerin), geb. XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2018, Zl. 1016458810-160012912 (W123 2210725-1), und

2. der mj. XXXX (im Folgenden: Zweitbeschwerdeführerin), geb. XXXX , gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.11.2018, Zl. 1189567508-180412375 (W123 2211027-1),

beide StA. Afghanistan und vertreten durch RA Mag. Sabine ZAMBAI, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und die gesetzliche Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin.

2. Die Erstbeschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige, stellte am 04.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am darauffolgenden Tag erfolgte die Erstbefragung der Erstbeschwerdeführerin durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes.

Zu ihrem Fluchtgrund befragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihr Ehemann anerkannter Flüchtling in Österreich sei und sie zu diesem nachgereist sei. Zudem sei ihr Leben aufgrund von Feindschaften in Gefahr.

3. Am 07.02.2018 fand die Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde statt.

Zu ihrem Fluchtgrund erneut befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin Folgendes wortwörtlich an (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…]

F: Warum stellen Sie einen Asylantrag? Nennen Sie alle Ihre Fluchtgründe!

Können Sie in freier Erzählung erzählen, was Ihr Fluchtgrund ist?

A: Das letzte Jahr, was ich in Afghanistan verbracht habe, war sehr schwer für mich. Es gab für mich keine Sicherheit. Es gab für mich keine Freiheit. In der afghanischen Gesellschaft haben die Frauen keine Rechte. Ich durfte nicht rausgehen. Ich wurde einmal bedroht, dass ich ein Tschador tragen soll. Man hat mich bedroht, dass ich gesteinigt werde.

F: Wer bedrohte Sie und sind Sie hilfesuchend zur Polizei gegangen?

A: Ein Unbekannter auf der Straße. Nein, ich bin nicht zur Polizei.

F: Warum nicht?

A: Ich hatte Angst.

F: Waren Sie alleine oder mit einer anderen Person auf der Straße, als Sie bedroht wurden?

A: Ich war alleine. Nachgefragt gebe ich an, dass ich in Kakrak Shaki bedroht wurde.

F: Wohin sind Sie gegangen, als Sie da bedroht wurden?

A: Ich bin alleine einkaufen gegangen.

F: Sie haben vorhin gesagt, dass Sie nicht rausgehen durften, wer hat es Ihnen nicht erlaubt?

A: Niemand. Ich bin wegen der Sicherheit nicht rausgegangen.

[…]

F: Haben sie sonstige Fluchtgründe?

A: Mein Bruder wurde umgebracht.

[…]“

4. Am XXXX wurde die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Am 02.05.2018 langte ihr Antrag auf internationalen Schutz bei der belangten Behörde ein, in dem keine eigenen Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen der Zweitbeschwerdeführerin geltend gemacht wurden.

5. Am 11.07.2018 erfolgte eine ergänzende Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde zu ihrem Asylverfahren und zu jenem der Zweitbeschwerdeführerin. Die Niederschrift lautet auszugsweise (Schreibfehler teilweise korrigiert):

„[…]

F: Erzählen Sie mir bitte, wie Sie in Afghanistan gelebt haben, wie waren Ihre Lebensumstände?

A: Die Frauen haben in Afghanistan keine Freiheit, sie haben auch keine Sicherheit dort. Nachdem ich geheiratet habe, ist mein Mann aus Afghanistan in den Iran geflüchtet. Ich durfte nicht rausgehen. Ich hatte zunächst niemanden, der mich finanziell unterstützt. Mein Schwager hat mir eine Zeit lang ausgeholfen, er wurde aber umgebracht.

F: Warum sind Sie nicht in Ihr Elternhaus zurück?

A: Meine Eltern waren damals auch im Iran.

F: Warum hat Ihr Mann Sie damals nicht in den Iran mitgenommen?

A: Er hat Schwierigkeiten bekommen, er musste dringend aus Afghanistan flüchten.

F: Welche Schwierigkeiten?

A: Die haben behauptet, mein Mann hätte seinen Cousin getötet.

F: Wer sind die?

A: Der Onkel meines Ehemannes.

F: Haben Sie die täglichen Erledigungen in Afghanistan allein oder mit Begleitung getätigt?

A: Alleine konnte ich gar nichts machen. Ich durfte nur in Begleitung rausgehen.

[…]

F: Was hätten Sie im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten?

A: Ich habe dort keine Sicherheit. Ich habe Angst.

F: Wovor haben Sie Angst?

A: Ich habe Angst vor dem Onkel meines Mannes. Er wird uns vielleicht Schwierigkeiten machen.

[…]

F: Wurden Sie jemals persönlich verfolgt oder bedroht?

A: Mein Mann war hier und als ich eines Tages alleine draußen war, wurde ich von einem fremden Mann bedroht.

F: Sie haben oben angegeben, dass Sie in Afghanistan ohne Begleitung nicht rausgehen durften. Jetzt sagen Sie, Sie wären allein draußen gewesen. Wie passt das zusammen?

A: Ich konnte nicht rausgehen, aber ich habe es einmal doch getan und da hat mich dieser Mann bedroht.

F: Wer war dieser Mann?

A: Ich weiß es nicht.

F: Wann war das?

A: Als ich von Iran nach Afghanistan abgeschoben wurde. Das war vor ungefähr 3 Jahren.

F: Was hat dieser Mann zu Ihnen gesagt?

A: Ich bin ohne Kopftuch rausgegangen und dieser Mann wollte, dass ich ein Kopftuch anziehe. Ich wollte nur kurz in ein Geschäft, um was zu kaufen.

[…]“

6. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 08.11.2018 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 bzw. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführerinnen der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 08.11.2019 erteilt (Spruchpunkt III.).

7. Am 04.12.2018 brachten die Beschwerdeführerinnen fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der obgenannten Bescheide der belangten Behörde ein. Die Erstbeschwerdeführerin brachte vor, dass ihr zum einem aufgrund der allgemeinen Diskriminierungslage von Frauen und zum anderen aufgrund ihrer speziellen Lebenssituation als westliche orientierte Frau bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung drohe.

8. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 10.10.2019 wurde den Beschwerdeführerinnen die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 08.11.2021 verlängert.

9. Am 01.07.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt.

10. Am 04.08.2021 erstattete die Erstbeschwerdeführerin durch ihre Rechtsvertreterin eine Stellungnahme zu den Länderberichten und wies insbesondere auf die sich verschlechternde gesamtpolitische Situation in Afghanistan aufgrund des Vormarsches der Taliban hin. Zudem hätte die Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mangels familiärer Anknüpfungspunkte keine Bewegungsfreiheit und wäre den Übergriffen der patriarchischen Gesellschaft ausgesetzt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zu den Beschwerdeführerinnen:

1.1.1. Die Beschwerdeführerinnen sind Staatsangehörige Afghanistans, schiitische Musliminnen und gehören der Volksgruppe der Hazara an. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und die gesetzliche Vertreterin der Zweitbeschwerdeführerin. Mit dem leiblichen Vater der Zweitbeschwerdeführerin ist die Erstbeschwerdeführerin verheiratet. Die Muttersprache der Erstbeschwerdeführerin ist Dari.

1.1.2. Die Erstbeschwerdeführerin stammt aus der Provinz Ghazni in Afghanistan und zog mit ihrer Familie im Kindesalter in den Iran, wo sie ca. 15 Jahre lang lebte und die Schule besuchte.

Im Jahr 2006 heiratete die Erstbeschwerdeführerin ihren Ehemann in Afghanistan, der in weiterer Folge das Land verließ. Die Erstbeschwerdeführerin lebte dort ca. ein Jahr lang bei ihrer Schwiegerfamilie, bevor sie wieder in den Iran übersiedelte und die Schule beendete, die sie mit Matura abschloss. Die Erstbeschwerdeführerin und ihre Familie wurden danach nach Afghanistan abgeschoben.

Einige Monate später reiste die Erstbeschwerdeführerin aus Afghanistan zu ihrem in Österreich aufhältigen Ehemann. Diesem war in Österreich der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden.

Die Eltern, der Bruder und die Schwester der Erstbeschwerdeführerin leben in Österreich. Ein Bruder ist bereits verstorben.

Ein Onkel mütterlicherseits der Erstbeschwerdeführerin ist in Ghazni wohnhaft, eine Tante in Kabul. Eine andere Tante der Erstbeschwerdeführerin ist inzwischen verstorben. Zu diesen Verwandten unterhält sie keinen Kontakt.

1.1.3. Die Erstbeschwerdeführerin stellte im Jänner 2016 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.

Die Zweitbeschwerdeführerin kam im XXXX in Österreich zur Welt. Hinsichtlich ihrer Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen wurde auf jene der Erstbeschwerdeführerin bzw. des leiblichen Vaters verwiesen.

Im November 2019 brachte die Erstbeschwerdeführerin ihr zweites Kind zur Welt.

1.1.4. Die Erstbeschwerdeführerin leidet an keiner lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Krankheit. Die Zweitbeschwerdeführerin leidet an einem angeborenen Herzfehler. Sie sind strafgerichtlich unbescholten bzw. strafunmündig und nehmen Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch.

1.1.5. Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über keine Berufsausbildung und war bzw. ist weder im Iran bzw. in Afghanistan noch in Österreich erwerbstätig. Zuerst ist ihre Familie und danach ihre Schwiegerfamilie bzw. ihr Ehemann für ihren Lebensunterhalt aufgekommen. In Afghanistan durfte die Erstbeschwerdeführerin ohne Kopfbedeckung und ohne Erlaubnis nicht das Haus verlassen. Im Iran musste die Erstbeschwerdeführerin ein Kopftuch tragen.

Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin waren im Iran bzw. in Afghanistan nicht streng religiös. Ihr Vater war in beiden Ländern praktizierender Muslim. In Österreich übt die Erstbeschwerdeführerin den islamischen Glauben weiterhin manchmal aus. Wenn sie außer Haus geht, trägt sie kein Kopftuch. Dieses hat sie einige Monate nach ihrer Ankunft in Österreich abgelegt.

In Österreich wohnt die Erstbeschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern. Sie verfügt nach eigenen Angaben über ein Bankkonto.

Die Erstbeschwerdeführerin besuchte in Österreich im Jahr 2016 Deutschkurse bis inklusive Niveau B1. Von März bis Juli 2017 nahm sie an dem „Brückenkurs Modul A (Mathematik, Englisch, IKT, DaZ)“an einer Wiener Volkshochschule teil. Ihren letzten Kurs („Basisausbildung für Jugendliche und junge Erwachsene Sprachkompetenzen B1“) schloss sie im Dezember 2017 ab. Weiters absolvierte sie den Werte- und Orientierungskurse des ÖIF im Dezember 2018 und legte die Integrationsprüfung des ÖIF auf Sprachniveau B1 im August 2019 ab.

Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich bisher weder im Rahmen gemeinnütziger Tätigkeiten geholfen noch ist sie Mitglied in einem Verein.

An einem durchschnittlichen Tag in Österreich kümmert sich die Erstbeschwerdeführerin um ihre Kinder, geht mit ihnen in den Park oder bringt die Zweitbeschwerdeführerin in den Kindergarten. Sie trifft sich auch mit Freunden und geht mit diesen zum Beispiel Kaffeetrinken.

Zu ihren Hobbys zählt das Lesen in deutscher Sprache.

Die Erstbeschwerdeführerin konnte nicht glaubhaft machen, dass sie während ihres Aufenthalts in Österreich eine Lebensweise angenommen hätte, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.

1.1.6. Die Erstbeschwerdeführerin war in Afghanistan keiner konkreten Verfolgungs- bzw. Gefährdungssituationen ausgesetzt. Sie konnte nicht glaubhaft machen, dass sie selbst oder ihre Familie bedroht wurde.

1.1.7. Zudem konnte von der Erstbeschwerdeführerin nicht glaubhaft gemacht werden, dass sie bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer wie immer gearteten Verfolgung ausgesetzt wäre bzw. ein besonderes Interesse an der Person der Erstbeschwerdeführerin besteht bzw. bestehen könnte. Sie wäre auch nicht patriarchischen Übergriffen ausgesetzt, weil sie in einem funktionierenden Familienverband lebt.

1.2. Zum Herkunftsstaat:

1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 11.06.2021

Frauen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 26.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.7.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (SIGAR 2.2021; vgl. HRW 30.6.2020, STDOK 25.6.2020, AA 16.7.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.7.2020; vgl.: REU 2.12.2019, STDOK 25.6.2020). Dennoch arbeiten Frauen als Gesetzgeberinnen, Richterinnen, Lehrerinnen, Gesundheitsarbeiterinnen, Beamtinnen, Journalistinnen und Führungskräfte in Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Von den etwa 9 Millionen eingeschriebenen Schülern sind 3,5 Millionen Mädchen. Der gesetzliche Rahmen Afghanistans bietet Frauen - zumindest auf dem Papier - viele Schutzmaßnahmen, einschließlich gleicher Rechte für Frauen und Männer (SIGAR 2.2021). Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (STDOK 13.6.2019). In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände für Frauen verglichen mit anderen Landesteilen beispielsweise gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben (STDOK 21.7.2020).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. STDOK 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen - beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken - zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Jedoch ist sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen, sowohl national als auch international zum Thema regelmäßiger Diskussionen geworden (STDOK 25.6.2020; vgl. AT 6.11.2019). Aus unterschiedlichen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen (STDOK 25.6.2020; vgl. RY 1.8.2019, BBC 10.7.2019).

Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Gemäß Artikel 83 und 84, sind Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm "Women's Economic Empowerment" gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 28.2.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das Projekt "Enhancing Gender Equality and Mainstreaming in Afghanistan" (EGEMA) beispielsweise ist ein Gemeinschaftsprojekt der afghanischen Regierung und des UNDP (United Nations Development Program) Afghanistan und hat den Hauptzweck, das Ministerium für Frauenrechte (MoWA) zu stärken. Es läuft von Mai 2016 bis Dezember 2020 (UNDP o.D)

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.6.2020; vgl. BBC 27.2.2020, BP 31.8.2020, TN 31.5.2019, Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass 'im Namen der Frauenrechte' Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte (HRW 22.3.2021, IWPR 8.3.2021; vgl. BP 31.8.2020, WP 12.9.2020). Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten (BP 31.8.2020). Am 18.3.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich. Afghanische Frauenrechtsaktivistinnen haben die Sorge geäußert, dass Frauen von den geplanten Friedensgesprächen in der Türkei weitgehend ausgeschlossen werden, wodurch die Rechte der Frauen bei einer endgültigen Einigung stark gefährdet sind (HRW 22.3.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).

Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.6.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).

Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Frauen waren auch im Jahr 2020 konfliktbedingter sexueller Gewalt ausgesetzt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuellen Gewalt in Afghanistan widerspiegeln. Tief konservative Geschlechternormen, Stigmatisierung und ein Mangel an speziell auf Opfer ausgerichteten Diensten tragen dazu bei, dass wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt (UNAMA 2.2021a).

Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 - November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (STDOK 25.6.2020; vgl. RFE/RL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHCR 23.3.2020; vgl. STDOK 25.6.2020). Ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie z.B. die Sensibilisierung der Frauen für ihre Menschenrechte und die Reaktion auf häusliche Gewalt, ein geringes öffentliches Bewusstsein für die Rechte der Frauen, eine schwache Rechtsstaatlichkeit und die Ausbreitung von Unsicherheit in verschiedenen Teilen des Landes (AIHRC 23.3.2020). Die afghanische Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte, die für sexuelle Übergriffe verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen (HRW 13.1.2021).

Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen (IWPR 8.3.2021). Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat in den vergangenen zwölf Monaten [Anm.: März 2020 - März 2021] mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert - darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum verwiesen wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden in Zufluchtsorten untergebracht (RSF 11.3.2021; vgl. CPAWJ 7.3.2021).

In vielen Fällen haben Aufständische Frauen beschuldigt, durch die Übernahme einer öffentlichen Rolle gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen. Es ist oft nicht klar, ob die ISKP, die Taliban oder andere Gruppen für die Drohungen und Angriffe verantwortlich sind (HRW 16.3.2021).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 16.7.2020).

Anmerkung: Ausführliche Informationen zur Lage der Frauen in Herat können der Analyse der Staatendokumentation vom 13.6.2019 entnommen werden (Abschnitt 6, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/file/local/2010507/AFGH_ANALYSE_Herat_2019_06_13.pdf ). Weitere Informationen zum Thema Frauen in Afghanistan können der Analyse der Staatendokumentation "Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan" vom 25.6.2020, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/document/2032387.html , entnommen werden.

[…]

Bildung für Mädchen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt worden war, Schulbildung erhalten (HRW 30.6.2020; vgl. KUR 17.12.2019, STDOK 25.6.2020), Bildung afghanischer Mädchen sowie die Stärkung afghanischer Frauen ist seitdem ein Schwerpunkt internationaler Bemühungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 2.12.2019). Auf nationaler Ebene hat das afghanische Bildungsministerium im Februar 2019 eine Bildungsrichtlinie eingeführt, um Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung zu erleichtern sowie die Analphabetenrate zu reduzieren (STDOK 25.6.2020; vgl.: OI 3.12.2019, AT 6.11.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 30.3.2021; vgl. UNICEF 8.2020). Untersuchungen von Human Rights Watch (HRW) und anderen belegen eine steigende Nachfrage nach Bildung in Afghanistan, einschließlich einer wachsenden Akzeptanz eines Schulbesuchs von Mädchen in vielen Teilen des Landes. NGOs, die "gemeindebasierte Bildung" unterstützen - Schulen, die sich in Häusern in den Gemeinden der Schülerinnen und Schüler befinden - waren oft erfolgreicher, wenn es darum ging, Mädchen den Schulbesuch in Gegenden zu ermöglichen, in denen sie aufgrund von Unsicherheit, familiärem Widerstand und Gemeindeeinschränkungen nicht in der Lage gewesen wären, staatliche Schulen zu besuchen. Doch das Versäumnis der Regierung, diese Schulen in das staatliche Bildungssystem zu integrieren, hat in Verbindung mit der uneinheitlichen Finanzierung dieser Schulen dazu geführt, dass vielen Mädchen die Bildung vorenthalten wird (HRW 30.6.2020).

Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 8.2020). Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019). Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi in Kabul, einer von mehrheitlich schiitischen Hazaran bewohnten Gegend, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen getötet und mehr als 100 verletzt wurden (AJ 9.5.2021; vgl. RFE/RL 9.5.2021, BBC 9.5.2021, NYT 9.5.2021, TN 8.5.2021).

Schätzungen zufolge sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017). Bis zu 3,5 Millionen Mädchen (ca. 40 Prozent von insgesamt ca. 9 Millionen Schülern) sind in der Schule eingeschrieben, obwohl die Zahl der Mädchen, die tatsächlich die Schule besuchen, höchstwahrscheinlich niedriger ist (SIGAR 2.2021).

Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt - speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die nun vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (STDOK 13.6.2019).

Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch lang anhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Obwohl die Taliban offiziell erklären, dass sie nicht mehr gegen die Bildung von Mädchen sind, gestatten nur sehr wenige Taliban-Entscheidungsträger Mädchen tatsächlich den Schulbesuch nach der Pubertät. Andere gestatten Mädchenschulen überhaupt nicht. Diese Ungereimtheiten führen zu Misstrauen in der Bevölkerung. Beispielsweise haben Taliban in mehreren Distrikten von Kunduz den Betrieb von Mädchen-Grundschulen zugelassen und in einigen Fällen Mädchen und jungen Frauen erlaubt, in von der Regierung kontrollierte Gebiete zu reisen, um dort höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Im Gegensatz dazu gibt es in einigen von den Taliban kontrollierten Distrikten in der Provinz Helmand keine funktionierenden Grundschulen für Mädchen, geschweige denn weiterführende Schulen - einige dieser ländlichen Distrikte hatten keine funktionierenden Mädchenschulen, selbst als sie unter Regierungskontrolle standen. Ihre inkonsistente Herangehensweise an Mädchenschulen spiegelt die unterschiedlichen Ansichten der Taliban-Kommandeure in den Provinzen, ihre Stellung in der militärischen Kommandohierarchie der Taliban und ihre Beziehung zu den lokalen Gemeinschaften wider. In einigen Distrikten hat die lokale Nachfrage nach Bildung die Taliban-Behörden überzeugt oder gezwungen, einen flexibleren Ansatz zu wählen (HRW 30.6.2020; vgl. RFE/RL 13.4.2021).

Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung, genannt Kankor, ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).

Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und -aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).

Es gibt aktuell (Stand Oktober 2020) 424.621 Studenten an den öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans. Davon sind 118.893 (28%) weiblich. Im Jahr 2020 haben 61.000 Frauen die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium bestanden (RA KBL 12.10.2020a). Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht.

Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studentinnen zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen - Bamyan und Kunar - sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Mithilfe des Higher Education Development Programms haben 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, 65 Frauen waren dabei im Ausland ein Masterstudium abzuschließen und 41 weitere standen vor ihrem Studienbeginn (WB 6.11.2018).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für 'Frauen- und Genderstudies' (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018, Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).

Anmerkung: Weitergehende Informationen zum Bildungswesen in Afghanistan können dem Kapitel 'Kinder', Unterkapitel 'Schulbildung in Afghanistan' entnommen werden.

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Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Letzte Änderung: 11.06.2021

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und bei den Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 30.3.2021). Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein (STDOK 25.6.2020, vgl. WS 2.12.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 16.7.2020; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat im Vergleich zur Bevölkerung auf dem Land weniger ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (STDOK 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten von außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019). Zusätzlich zu patriarchalen Normen, Diskriminierung und Stigmatisierung schränkt der anhaltende Konflikt die Bewegungsfreiheit von Frauen ein, was wiederum ihren ohnehin schon eingeschränkten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und dem Arbeitsmarkt untergräbt (UNAMA 2.2021a).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019) wobei nach Angaben der Weltbank der Anteil der arbeitenden Frauen im Jahr 2020 mit 22,8% angegeben wurde (WB 21.6.2020). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die, als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten (STDOK 21.7.2020). Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 20.5.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.6.2020; vgl. WS 26.11.2019). Frauen, die sich in nicht-traditionelle und historisch männerdominierte Bereiche - wie Medien, Sicherheitskräfte und Politik - vorgewagt haben, sind einem höheren Risiko von Vergeltungsmaßnahmen durch die Taliban und regierungsfeindliche Elemente ausgesetzt (SIGAR 2.2021).

Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019), bleiben jedoch weiterhin begrenzt (AI 7.4.2021). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: elf stellvertretende Ministerinnen, drei Ministerinnen und fünf Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und, bis 2020 sollten mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 hatten 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen waren in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019).

Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 30.3.2021); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 30.3.2021; vgl. AI 7.4.2021). Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses, oder ein Studium nicht erlauben (STDOK 21.7.2020). Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women's Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019).

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (STDOK 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 68 der 250 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, SIGAR 2.2021).

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 16.7.2020; vgl. SIGAR 2.2021), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 30.3.2021). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) hat sich die Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst von 22% auf 24% für das Jahr 2019 und 26% im Jahr 2020 zum Ziel gesetzt (AA 16.7.2020).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 30.3.2021).

Am 6.12.2020 wurden neun Frauen zu zweiten stellvertretenden Provinzgouverneurinnen für soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten ernannt, und zwar in Badghis, Ghazni, Laghman, Logar, Kapisa, Kunar, Nimruz, Nuristan und Zabul (UNGASC 12.3.2021).

Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).

Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender - Radio Roshani - nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Mitarbeiterinnen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).

Anmerkung: Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 'NGOs und Menschenrechtsaktivisten', 'Meinungs- und Pressefreiheit' und 'Sicherheitsbehörden' entnommen werden.

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Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Letzte Änderung: 11.06.2021

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (USDOD 6.2019). Der Zugang von Frauen zur Justiz für diese Verbrechen bleibt ebenfalls dürftig, da der Justizsektor nur begrenzte Wiedergutmachung für die Gewalt bietet, die viele afghanische Frauen erleben (UNAMA 2.2021a). Häusliche Gewalt wird Berichten zufolge vor Gericht nicht als legitimer Grund für eine Scheidung angesehen (STDOK 21.7.2020). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z.B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den 'Familienfrieden' durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 16.7.2020). Im Fall einer Scheidung wird häufig die Frau als alleinige Schuldige angesehen. Auch ist es verpönt, Probleme außerhalb der Familie, vor Gericht zu lösen (STDOK 21.7.2020). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 30.3.2021). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Gesellschaftlicher Widerstand erschwert es den FRUs Verbrechen geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel anzuzeigen (USDOD 12.2019).

EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch Maßnahmen gegen die weit verbreitete häusliche Gewalt (AA 16.7.2020; vgl. SIGAR 2.2021). Das EVAW sowie Ergänzungen im Strafgesetzbuch werden jedoch nur unzureichend umgesetzt (AA 16.7.2020). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung, Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern - das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, und bis zu 20 Jahre oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 30.3.2021).

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.8.2019).

Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch, obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter das EVAW-Gesetz fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt. Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, verweisen EVAW-Institutionen und NGOs Fälle von Ehrenmorden und anderen schweren Straftaten oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018).

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Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Letzte Änderung: 11.06.2021

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 16.7.2020). Es gibt 27 - 28 Frauenhäuser (USDOS 30.3.2021) in Afghanistan unter dem MOWA (Ministry of Women Affairs) und der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), die vom Staat und von NGOs betrieben werden (RA KBL 12.10.2020a).

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt (AA 16.7.2020). Selbst in Städten wie Mazar-e Sharif ist es nur schwer vorstellbar, dass Frauen völlig alleine leben (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 16.7.2020). Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 16.7.2020). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Auch das Ministerium für Frauenangelegenheiten arrangiert manchmal Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 30.3.2021).

Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 16.7.2020).

Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und die EVAW-Gerichtsabteilungen wurden im Laufe des Jahres 2020 erweitert, um auf der ersten und der Berufungsebene in allen 34 Provinzen zu arbeiten (USDOS 30.3.2021; vgl. UNSC 30.3.2021).

In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal, wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Die Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert. Es kommt auch vor, dass Frauen stellvertretend für männliche Verwandte inhaftiert werden, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 30.3.2021).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Die Überwachung und Berichterstattung über sexuelle Gewalt in Afghanistan wird durch chronische Instabilität, strukturelle Geschlechterungleichheit und ein Klima der Straflosigkeit behindert, mit minimalem Zugang zu Hilfsleistungen für Opfer. Die Hilfsleistungen werden durch pandemiebedingte Bewegungseinschränkungen weiter eingeschränkt, und mindestens zwei multisektorale Hilfszentren haben nach Drohungen der Taliban im Jahr 2020 ihre Arbeit eingestellt (UNSC 30.3.2021). Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist, unabhängig von der Ethnie, weit verbreitet und kaum dokumentiert (AA 16.7.2020; vgl. AI 30.1.2020). Von den im Jahre 2019 4.693 durch AIHRC dokumentierten Fällen von Gewalt gegen Frauen waren 194 (4,1%) sexueller Gewalt zuzuschreiben (AIHRC 23.3.2020). Akte konfliktbezogener sexueller Gewalt werden Mitgliedern der Taliban zugeschrieben, aber auch Mitglieder der afghanischen Nationalarmee, der afghanischen Nationalpolizei und der afghanischen Lokalpolizei sind darin verwickelt (UNSC 30.3.2021).

Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 16.7.2020). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (STDOK 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 30.3.2021). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (UNAMA/OCHR 5.2018).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, MBZ 7.3.2019, 20 minutes 28.11.2018), wobei die Datenlage hierzu sehr schlecht ist (AA 16.7.2020). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 30.3.2021; vgl. AA 16.7.2020). Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht hat, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden (USDOS 30.3.2021). In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht (MBZ 7.3.2019). Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden (MBZ 7.3.2019). Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert (USDOS 30.3.2021). Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens eine Person unter 18 Jahren verheiratet (MBZ 7.3.2019).

Mahr ist eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet (MoLSAMD/UNICEF 7.2018), insbesondere im ländlichen Raum (WAW o.D.) und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen - das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist - selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen (AAN 25.10.2016). Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen (WAW o.D.).

Die Praktiken des Badal (Vergeltung) und Ba‘ad/Swara (die Praxis der Streitschlichtung, bei der die Familie des Täters ein Mädchen an die Familie des Opfers verkauft) (STDOK 7.2016), sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Das Gesetz kriminalisiert Zwangs-, Minderjährigen- und Ba'ad-Ehen sowie die Einmischung in das Recht der Frau, ihren Ehepartner zu wählen. NGOs berichten von Fällen, in denen Ba'ad nach wie vor praktiziert wird, oft in abgelegenen Provinzen. Die Praxis des Brautaustauschs zwischen Familien wurde nicht kriminalisiert und bleibt weit verbreitet (USDOS 30.3.2021; vgl. WAW o.D.). Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen (EASO 12.2017).

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Familienplanung und Verhütung

Letzte Änderung: 11.06.2021

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 16.7.2020; vgl. UNPF 17.7.2018). Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben (UNPF 17.7.2018). Dem Strafgesetzbuch zufolge ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (USDOS 30.3.2021).

Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u.a. für Frauen an und verteilt Arzneimittel (Pille). In Herat-Stadt und den umliegenden Distrikten steigt die Zustimmung dafür und es gibt Frauen, welche die Pille verwenden; in den ländlichen Gebieten hingegen stoßen solche Maßnahmen meistens auf Unverständnis und werden nicht akzeptiert. Internationale NGOs und das Gesundheitsministerium bieten hauptsächlich in den Geburtenabteilungen der Krankenhäuser Aufklärungskampagnen durch Familienplanungsberater an (STDOK 13.6.2019).

Ein von den US-Amerikanern initiiertes Programm, welches im Zeitraum von 1.2015 bis 1.2020 (RA KBL 20.10.2020) lief, USAID’s Helping Mothers and Children Thrive (HEMAYAT), zielte darauf ab, den Zugang und die Verwendung von Verhütungsmitteln, Mütter-, Neugeborenen- und Kindergesundheitsdienstleistungen zu erhöhen. Ein weiteres Ziel war das Zuweisungssystem auf Provinzebene zu verbessern. Allein durch die Ausbildung und die Bereitstellung von Ausrüstung konnten 25 Hebammenzentren in den Provinzen Balkh, Herat und Kandahar etabliert werden (SIGAR 30.7.2019).

Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 16.7.2020). Frühe und Kinderheiraten und eine hohe Fertilitätsrate mit geringen Abständen zwischen den Geburten tragen zu einer sehr hohen Müttersterblichkeit [Anm.: Tod einer Frau während der Schwangerschaft bis 42 Tage nach Schwangerschaftsende] bei. Diese ist mit 638 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten die höchste in der Region (UNICEF 8.2020; zum Vergleich Österreich: 4).

Es gibt keine Berichte über Zwangsabtreibungen oder unfreiwillige Sterilisationen seitens der staatlichen Behörden (USDOS 30.3.2021).

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Reisefreiheit von Frauen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Diesbezüglich bewegen sich die Aussagen der Quellen innerhalb einer gewissen Bandbreite. Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen definitiv eingeschränkt (USDOS 30.3.2021; vgl. STDOK 25.6.2020, STDOK 4.2018, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). Eine Quelle gibt an, dass Frauen sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen können. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen (STDOK 4.2018). Generell hängt das Ausmaß an Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit der Frauen unter anderem vom Wohnort, der Einstellung ihrer Familien, der Sicherheitslage und dem Bildungsgrad ab (STDOK 21.7.2020). In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert (MBZ 7.3.2019).

Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 13.6.2019). Es gibt in Mazar-e Sharif eine Fahrschule für Frauen. In rund drei Jahren haben dort ca. 500 Frauen einen Führerschein gemacht, was von der DoWA (Departments of Women’s Affairs) unterstützt wird (STDOK 21.7.2020).

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1.2.2. Analyse der Staatendokumentation vom 25.06.2020: „Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan“

„Gesellschaftliche Einstellungen zu Frauen in Afghanistan

Zur Zeit der Taliban-Herrschaft in den Jahren 1996 bis 2001 verhängten die Taliban eine rigide Form des islamischen Rechts. Afghanische Frauen und Mädchen waren von Bildung, Arbeit und Politik ausgeschlossen – ohne männliche Begleitung durften sie nicht außer Haus. Seitdem hat Afghanistan beträchtliche Fortschritte gemacht – Frauenrechte, aber auch die Verfassung aus dem Jahre 2004 zählen unter anderem zu den Errungenschaften, die seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 erzielt wurden. In dieser nach wie vor gültigen Verfassung haben alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz. So ist das Recht auf Bildung für Frauen in der Verfassung festgehalten. Gleichzeitig ist aber auch der Islam als Staatsreligion gesetzlich verankert, gegen dessen Grundsätze und Bestimmungen kein anderes Gesetz verstoßen darf. Dadurch ergeben sich konservative Interpretationen des islamischen Rechts, die nach wie vor richtungweisend innerhalb der afghanischen Gesellschaft sind. Diese Interpretationen verstoßen in vielen Bereichen gegen westliche Menschenrechtsstandards, wovon speziell afghanische Frauen und Mädchen betroffen sind. Aus dieser Situation heraus fordern afghanische Frauen politische Mitspracherechte und sprechen sich gegen Ungerechtigkeit aus.

Afghanische Frauen – speziell in den städtischen Regionen – haben sich in den letzten zwanzig Jahren verändert: Junge Afghaninnen ergreifen Möglichkeiten sich zu bilden, durch verbesserte Bildungschancen im Inland und Stipendien im Ausland, auch gehen sie vermehrt arbeiten. Sie sind durchsetzungsfähiger und stehen, bestärkt durch die Familie, finanziell oft auf eigenen Beinen. Dennoch ist die afghanische Gesellschaft nach wie vor männlich dominiert. Städtische Regionen sind von traditionellen Werten weniger geprägt, als die ländlichen Gebiete, wo Frauen mit vielen Problemen zu kämpfen haben, sich außerhalb des Hauses frei zu bewegen oder arbeiten zu gehen. In diesen Regionen entscheidet die Familie – insbesondere Väter und Brüder – über das Leben afghanischer Frauen und Mädchen. Städtische Afghaninnen können – die Unterstützung ihrer Familien vorausgesetzt – freier über ihr Leben entscheiden.

In den Straßen der Hauptstadt Kabul, wo Frauen sich ungehindert und ohne männliche Begleiter bewegen können, ist Fortschritt sichtbar. Die Stadt Kabul wird seit zwei Jahrzehnten von einer westlich geprägten Demokratie regiert und ist politisch fortschrittlicher geworden. Dennoch ist auch hier nach wie vor eine sozial-konservative afghanische Kultur vorherrschend, die Frauen oft nachrangige Rollen zuweist. Auch repräsentiert die afghanische Hauptstadt nicht das ganze Land. Die Kluft zwischen urbanen und ruralen Regionen Afghanistans ist evident.

Gewalt an afghanischen Frauen

Afghanische Frauen haben mit Patriarchat, Armut und häuslicher Gewalt zu kämpfen. Häusliche Gewalt ist weit verbreitet; dazu zählen Zwangsehen, Ehen zur Streitbeilegung, sexueller Missbrauch und weitere Formen von Gewalt wie Ehrenmorde. Afghanische Frauen werden oft ihrer Erbschaft, der Möglichkeit zur Bildung und der ihnen nach afghanischem Recht garantierten Rechte beraubt. Gewalt an Frauen wird in der afghanischen Gesellschaft nicht oft als Verbrechen angesehen, auch erachten viele Behörden häusliche Gewalt nicht als ernsthaftes Vergehen. Obwohl häusliche Gewalt bereits im Jahr 2009, mit dem EVAW-Gesetz (Law on Elimination of Violence against Women) unter Strafe gestellt wurde, werden die meisten Gewalttaten gegen Frauen, darunter auch erzwungene Prostitution und Vergewaltigung, selten strafrechtlich verfolgt. Manchmal begehen afghanische Frauen nach Gewalttaten Selbstmord. Gegen den Willen und die Interessen von Frauen, werden Mediationen von Gemeinschaftsältesten oder der Polizei geführt. Den Vereinten Nationen zufolge, wurden im Jahr 2018 nur in 18% der registrierten Mordfälle mit weiblichen Opfern rechtliche Schritte gegen den Täter eingeleitet. Häusliche Gewalttäter genießen oft weiterhin Straffreiheit. Die von afghanischen Männern an ihren Ehefrauen verübten Gewaltverbrechen werden gesellschaftlich oftmals hingenommen, solange sie auch weiterhin ihre Familie versorgen.

Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 – November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge, wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen. Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle.

Afghanische Frauen und Mädchen aus ländlichen Regionen kennen ihre Rechte oftmals nicht. Fehlende Bildung und Krieg haben dazu geführt, dass in manchen Familien selbst elementare Rechte von Frauen nicht akzeptiert werden. Mehrere Quellen sind sich einig, dass eine stärkere Mithilfe religiöser Führer einerseits und eine Einbindung von Frauenrechten bzw. Gleichbehandlungsthematiken in den Schulunterricht andererseits, notwendig sein wird, um negativen Einstellungen gegenüber Frauen innerhalb der afghanischen Gesellschaft entgegenzuwirken.

Beispiele häuslicher Gewalt in den Provinzen

Die Provinz Herat ist von häuslicher Gewalt stark betroffen; die Selbstmordrate von Frauen und die Zahl häuslicher Gewaltfälle ist in der Stadt Herat vergleichsweise hoch. In Zeitraum eines Jahres (nach afghanischer Zeitrechnung; ca. 2018-2019) registrierten afghanische Behörden in der Provinz Herat 801 Vorfälle häuslicher Gewalt – eine Zunahme von 21% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres mit 645 Vorfällen. Aufgrund kultureller Hindernisse und fehlender Gerichte, waren speziell Frauen in den ländlichen Regionen der Provinz häuslicher Gewalt ausgesetzt. Im Vergleich dazu, wurde in einem siebenmonatigen Berichtszeitraum der AIHRC in den östlichen Provinzen, zu denen Nangarhar, Kunar, Laghman und Nuristan zählen, insgesamt 220 Fälle häuslicher Gewalt registriert. Innerhalb von sechs Monaten des Jahres 2019 wurden von lokalen Behörden der Provinz Daikundi 106 Fälle häuslicher Gewalt registriert – was eine Zunahme von 30% darstellt. In der westlichen Provinz Ghor ging die Gewalt an Frauen 2019 um 33% zurück (2019: 113 Fälle; 2018: 170 Fälle). Ein verbessertes öffentliches Bewusstsein innerhalb der Provinz, wird als Ursache für diese Entwicklung gesehen. Insgesamt wurden 2019 in Ghor 76 Opfer häuslicher Gewalt in Schutzeinrichtungen gebracht.

Sexuelle Gewalt und Belästigung

Sexuelle Gewalt und Belästigung stellen in vielen Bereichen des afghanischen Lebens ein Problem dar: im Berufsleben, im sportlichen Bereich oder in Bildungseinrichtungen. Von den im Jahr 2019 von AIHRC dokumentierten 4.693 Vorfälle häuslicher Gewalt, waren 194 Vorfälle (4,1%) auf sexuelle Gewalt (dazu zählen unter anderem sexuelle Übergriffe und Belästigung, Zwangsheirat und Zwangsprostitution) zurückzuführen.

Sexuelle Belästigung von Frauen und Mädchen wird in Afghanistan nur selten untersucht. Opfer bevorzugen es oft solche Vorfälle zu verbergen, da sie entweder keine familiäre und gesellschaftliche Unterstützung oder keine rechtliche Unterstützung von relevanten Organisationen erhalten. Opfer von Sexualverbrechen und Gewalt werden oft unter Druck gesetzt, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Häufig werden sie für die Übergriffe selbst verantwortlich gemacht. Opfer sexueller Belästigung zögern auch solche Vorfälle zu melden, um nicht des Ehebruchs bezichtigt zu werden, weswegen Vorfälle sexueller Gewalt in der Vergangenheit meist unerwähnt blieben. In Afghanistan wird sexuelle Gewalt bzw. Belästigung als Tabuthema erachtet. Strafrechtliche Verfolgung sexueller Gewalt in Afghanistan ist seit langem schwierig – verstärkt wird dieses Problem, wenn die Täter mächtige bzw. einflussreiche Personen sind.

Früher wurde nicht über sexuelle Belästigung gesprochen. In dieser Hinsicht hat sich die afghanische Gesellschaft verändert: in der Vergangenheit wurde die Auffassung von „guten“ und „schlechten“ Frauen geteilt – von denen nur „schlechte“ Frauen belästigt werden. Deswegen haben viele Frauen nicht über das Thema der sexuellen Belästigung gesprochen. Heutzutage wird über sexuelle Belästigung gesprochen, Frauen unterstützen einander und sind offener, ihre Erfahrungen zu teilen, wie z.B. Belästigung am Arbeitsplatz. Auch die Art und Weise wie Frauen in Afghanistan sexuell belästigt werden hat sich geändert: früher wurden Frauen nur auf der Straße belästigt. Heute findet die Belästigung auf der Straße und am Arbeitsplatz statt. (Anmerkung: Was vermutlich mit der erhöhten Teilname von Frauen am Erwerbsleben zusammenhängen könnte). Wurde einem Opfer, das sich zur Wehr gesetzt hat, früher selbst die Schuld gegeben, hat sich dieser Diskurs mittlerweile geändert. In den letzten Jahren melden immer mehr Afghaninnen Fälle sexueller Belästigung, was von Rechtsvertretern als gutes Zeichen gewertet wird.

Sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen, sind sowohl national als auch international zu Themen regelmäßiger Diskussionen geworden. Aus unterschiedlichen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen. Stein des Anstoßes waren die Aussagen eines ehemaligen Sicherheitsberaters des afghanischen Präsidenten, General Ahmadzai, über einige Regierungsmitglieder, die Positionen gegen sexuelle Gefälligkeiten eintauschen würden. Die Generalstaatsanwaltschaft untersucht diese Vorfälle, während ein Sprecher des Präsidenten diese als haltlos bezeichnet. Eine ehemalige Mitarbeiterin des Nationalen Sicherheitsrates bestätigte die Vorwürfe.

Nationale und internationale Stimmen äußerten schwere Bedenken über die Aussagen des Generals, woraufhin die afghanische Regierung im Sommer 2019 das Secretariat for Investigation of Allegations of Sexual Harassment errichtete, mit dem Ziel Vorwürfe sexuellen Missbrauchs an Frauen in staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen auf transparente Weise zu untersuchen. Unter Wahrung der Anonymität von Opfern sexueller Belästigung, sollen Meldungen zu sexuellen Vergehen registriert, dokumentiert und untersucht werden. Das Sekretariat untersteht der afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC – Afghanistan Human Right Commission) und ist eine Menschenrechtsinstitution mit einer nicht staatlichen Struktur, weshalb sie unabhängig handelt. Sobald eine Beschwerde die Justizbehörden erreicht, wird der Fall und dessen Ausgang vom AIHRC beobachtet. Im November 2019 wurden drei Täter bereits strafrechtlich verfolgt und ihrer Positionen enthoben. Die Generalstaatsanwaltschaft kündigte die Gründung einer Abteilung zur Bekämpfung sexueller Belästigung in Regierungsinstitutionen an.

Sexuelle Belästigung innerhalb der afghanischen Regierung, ist ein Problem, das nicht auf eine Person oder ein Ministerium beschränkt ist. Einige afghanische Frauen berichteten in den Medien über unangemessenes Verhalten männlicher Beamter in Kabul. Eine ehemalige Regierungsmitarbeiterin, war gezwungen ihren Job aufzugeben, nachdem ein hochrangiger Minister sie wiederholt um sexuelle Gefälligkeiten gebeten hatte. Zwar ist dies innerhalb der höchsten Regierungsebene der erste öffentliche Fall sexuellen Fehlverhaltens, jedoch kursierte bereits im Jahr 2017 ein Video, in dem ein Oberst der afghanischen Luftwaffe sich an einer jungen Frau sexuell verging.

Fußballspielerinnen und -spieler beschuldigten hochrangige Beamte des afghanischen Fußballverbandes des sexuellen und körperlichen Missbrauchs. Nach diesen öffentlichen Vorwürfen kämpften die Fußballspielerinnen mit erschwerten Bedingungen, wie etwa Gewalt, Drohungen, Verleumdungen und Entlassungen aus dem Fußballteam. In manchen Fällen baten die Familien die Spielerinnen mit dem Fußballspielen aufzuhören. Wie Fußballspielerinnen in Afghanistan behandelt werden – auch jene, die keine Vorwürfe sexuellen Missbrauchs geltend gemacht haben – veranschaulicht wie innerhalb der afghanischen Gesellschaft mit Weiblichkeit in der Öffentlichkeit sowie der Teilnahme von Frauen an sportlichen Aktivitäten, umgegangen wird.

Zwischenzeitlich wurden drei Funktionäre von der FIFA sanktioniert: der Präsident des afghanischen Fußballverbandes – Keramuddin Karim – wurde im Juli 2019 auf Lebzeiten von der FIFA ausgeschlossen. Der Verbandspräsident Karim, dessen Stellvertreter, der Generalsekretär, ein Mitglied aus dem Trainerstab der Frauen-Nationalmannschaft und ein weiterer Funktionär wurden im Dezember 2018 suspendiert. In Afghanistan erzielten die Untersuchungen aufgrund sexueller Übergriffe durch den ehemaligen Fußballverbandspräsidenten keine Fortschritte. Obwohl die afghanische Generalstaatsanwaltschaft bereits im Juli 2019 einen Haftbefehl gegen ihn erließ, ist seine Verhaftung nach wie vor ausständig (Stand: Februar 2020). Drohungen haben die meisten seiner Anklägerinnen veranlasst Afghanistan zu verlassen – trotz dieser Ausreise berichten einige von anhaltenden Drohungen.

Arbeitswelt

Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein. Seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 treten afghanische Frauen, insbesondere gebildete, für verbesserte Frauenrechte in Afghanistan ein. Sie berichten nach wie vor mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben – sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamistischer Gruppierungen oder gewöhnlichen afghanischen Männern. Diese ablehnenden Einstellungen, kulturelle Einschränkungen, aber auch sexuelle Belästigung wirken hinderlich für Frauen, wenn es darum geht Eigenverantwortung zu übernehmen. Zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten herrscht eine Kluft; anders als in der Hauptstadt Kabul haben sich westliche Ansichten, vor allem in den von Taliban kontrollierten Gebieten, wie z.B. Kunduz und Kunar, nicht verbreitet. Die Stadt Kabul kann hier nicht als repräsentativ für das ganze Land gesehen werden.

Im Jahr 2017 machten afghanische Frauen 29% der Erwerbsbevölkerung aus – eine Zahl, die seitdem stetig gewachsen ist. Auch haben afghanische Frauen in einer konservativen Gesellschaft, die durch Traditionen die Rolle und Bildung von Frauen stark einschränkt, einen Raum für sich geschaffen: Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women's Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern.

Der Ruf eines Unternehmens ist in Afghanistan besonders wichtig – Frauen, die in Afghanistan ein Unternehmen führen, haben es nicht einfach: eine Unternehmerin berichtet von Rufschädigung durch männliche Konkurrenten. Als in Kabul im Jahr 2008 ein Restaurant von einer Frau eröffnet wurde, war dies – so die Restaurantleiterin – ein Schock für viele Menschen. Eine Frau, die ein Restaurant betreibt, war für viele nicht akzeptabel. Mittlerweile betreiben viele Frauen in Afghanistan ein Restaurant bzw. ihr eigenes Unternehmen. Neu im Kabuler Stadtbild sind auch die solarbetriebenen Rikscha-Wagen, die von Frauen durch Kabul gefahren werden und von denen aus Essen verkauft wird. Afghanische Frauen hinter dem Steuer eines Rikscha-Wagens zu sehen – traditionell ein männlich dominierter Beruf – ist ein seltener Anblick in Afghanistan. Unter dem Namen „Banu‘s Kitchen“ wurden diese fahrenden Restaurants im Jahr 2018 eröffnet. Rund 60 Frauen sind derzeit in diesem Betrieb angestellt: 55 Fahrerinnen und fünf Köchinnen. Widerstand gegen diese fahrenden Restaurants gab es weder von Aufständischer noch von konservativer Seite – beide hatten in der Vergangenheit Fahrerinnen scharf verurteilt. Das Unternehmen hofft bis Ende des Jahres 2020 seine Rikscha-Flotte von 25 auf 100 zu erhöhen.

Frauen in Verwaltung und Politik

Geschlechterinklusion wird in vielen Bereich neu definiert; erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen. Seit dem Umsturz des islamischen Regimes sind fast zwei Jahrzehnte vergangen, dennoch sind afghanische Frauen nach wie vor mit geschlechtsspezifischer Diskriminierung konfrontiert. Allein die Tatsache, dass Frauen in der afghanischen Regierung bzw. Verwaltung Posten einnehmen, ist ein Widerspruch gegen traditionelle Geschlechterrollen, die sich nur langsam verändern. Wenngleich andere Bereiche hinterherhinken, ist die vorgesehene Frauenquote im Unterhaus des Parlaments (68 von 250 Sitzen), höher als der globale Durchschnitt von 24%. Diese Quote soll afghanischen Frauen den Einstieg in die Politik erleichtern; wobei es ihnen oft an finanziellen Mitteln mangelt und sie einem größeren Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind.

Seit 2017 ist der Anteil an Juristinnen innerhalb der afghanischen Generalstaatsanwaltschaft von 3% auf 22% gestiegen. Die Generalstaatsanwaltschaft beruft sich dabei auf eine verbesserte Rekrutierungspraxis innerhalb ihrer Organisation. Ebenso hat sich die Anzahl weiblicher Staatsanwälte und Richter erhöht. So hat beispielsweise der hohe afghanische Friedensrat 16 weibliche Mitglieder. Als Präsident Ashraf Ghani im Jahr 2019 eine Versammlung einberief, um mit 3.200 Delegierten über Wege zu Frieden in Afghanistan zu diskutierten, waren rund 30% der Anwesenden weiblich. Jedoch berichteten mehrere von ihnen, sich ignoriert, ausgegrenzt oder bevormundet gefühlt zu haben. Viele männliche Delegierte vertraten auch die Meinung, Frauenrechte sollten lediglich im Rahmen der Scharia unterstützt werden – eine Ansicht, die auch von den Taliban geteilt wird. Obwohl Präsident Ghani versprochen hatte Frauen in hochrangige Entscheidungen miteinzubeziehen und Anfang 2020 verlautbarte, afghanische Frauen würden auf allen (politischen) Ebenen partizipieren, veröffentlichte die afghanische Regierung ein Foto eines hochrangigen Treffens, auf dem nur männliche Teilnehmer zu sehen waren.

Um jungen und qualifizierten Afghaninnen und Afghanen die Möglichkeit zu geben in der Verwaltung bzw. Politik tätig zu werden, organisiert die afghanische Zentralregierung Eignungstests, die zum einen ungefährlicher als lokale Wahlen sind und zum anderen einen niedrigeren finanziellen Aufwand darstellen. So kam auch Zarifa Ghafari, eine von zwei Bürgermeisterinnen Afghanistans, zu ihrem Posten. Sie war die einzige Frau unter 138 Mitstreitern, die sich im Zuge einer öffentlichen Ausschreibung um den Bürgermeisterposten bewarb. In der afghanischen Gesellschaft als junger Mensch so viel Einfluss zu bekommen, ist ungewöhnlich – insbesondere, wenn man weiblich ist. In sozialen Netzwerken wurde ein Foto von Zarifa Ghafari verbreitet und gefragt, welche sexuellen Gefälligkeiten sie wohl eingetauscht hätte, um ihren Job zu bekommen. Im Sommer 2018 versperrte ihr ein Mob von Männern am ersten Arbeitstag den Weg zum Regierungsgebäude in Maidan Shahr. Danach musste sie neun Monate kämpfen, um ihre Stelle als Bürgermeisterin tatsächlich antreten zu können. Nach wie vor pendelt sie täglich von Kabul nach Maidan Shar – zwei Autostunden in jede Richtung. Als unverheiratete Frau allein in Maidan Shar zu leben, wäre zu gefährlich. In der Hauptstadt der konservativen Provinz Wardak bleiben Frauen in der Regel unsichtbar, sind kaum unterwegs und wenn, tragen sie die Burka.

Auch in anderen Provinzen berichten Afghaninnen von einer hinderlichen Einstellungspolitik gegenüber Frauen. In der Provinz Daikundi sind 3.730 Regierungsangestellte männlich und 1.340 weiblich; dazu zählen unter anderem auch elf Direktorinnen und stellvertretende Direktorinnen sowie fünf Abteilungsleiterinnen – acht Regierungsabteilungen haben gar keine weiblichen Angestellten. Betroffene in Daikundi berichten von Korruption innerhalb der Regierung, die die Anstellung von Frauen behindert. Die Beamten hingegen erklären dies mit dem niedrigen Qualifikationsniveau der Bewerberinnen und weisen gleichzeitig auf den Bedarf an mehr weiblichem Personal hin. Ein Zivilrechtsvertreter macht sowohl Korruption, als auch mangelnde Bildung für die Unterrepräsentation von Frauen in Regierungsinstitutionen in Daikundi verantwortlich. Frauen in der Provinz Khost arbeiten nicht in Regierungsfunktionen, da diese Positionen großteils von Männern besetzt sind. Mit rechtswidrigen Begründungen werden Frauen abgehalten, sich für Regierungspositionen zu bewerben, damit Posten an Männer vergeben werden können.

Landesweit wurden Bemühungen gesetzt, um den öffentlichen Bereich für Frauen zu öffnen und sicherer zu machen, diese haben jedoch nicht immer den gewünschten Effekt: bessere Gehälter für Frauen haben zu Ressentiments und Belästigung durch männliche Kollegen geführt; auch Frauen im militärischen Dienst sind in hohem Maße von sexuellem Missbrauch bzw. Übergriffen betroffen, da männliche Vorgesetzte oft sexuelle Gefälligkeiten im Austausch für Beförderungen oder Gehaltserhöhungen fordern. Oftmals werden Frauen, die von ihren männlichen Kollegen als Bedrohung wahrgenommen werden, mit Gerüchten über sexuelle Unanständigkeit verleumdet.

Bildung

Fehlender Zugang zu Bildung ist eines der größten Probleme afghanischer Frauen und Mädchen. Rund die Hälfte der 35 Millionen Bewohner Afghanistans sind Frauen; dennoch ist ihr Anteil an der Weiterentwicklung des Landes relativ niedrig. Rund 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, gehen nicht zur Schule – Mädchen machen dabei 60% aus, in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85%. Nur 54% der in Schulen eingeschriebenen Mädchen absolvieren die Volksschule. Seit Beginn des Jahrhunderts ist die Zahl afghanischer Schulkinder im Jahr 2018 erstmalig rückläufig. Als Hauptursachen dafür werden die fragile Sicherheitslage sowie ein Mangel an Lehrerinnen, speziell in den ländlichen Gebieten, genannt. Traditionen, etwa Mädchen nicht in die Obhut eines ihnen nicht verwandten Mannes zu übergeben, gepaart mit einem Mangel an Mädchenschulen sind weitere Gründe warum Bildung von Mädchen, und Frauen in Afghanistan stark einschränkt ist. In manchen Fällen wollen die Familien ihre weiblichen Mitglieder auch einfach nicht in die Schule senden. In einigen Provinzen wird Frauen nach wie vor Bildung verweigert, indem sie jung zwangsverheiratet werden, abgehalten werden arbeiten zu gehen oder ganz allgemein schlecht behandelt werden. Einer Studie der Asia Foundation aus dem Jahr 2019 zufolge, verbieten Familien 40% schulreifer Mädchen, ihnen zur Schule zu gehen und fast 20% werden von ihren Familien gezwungen, die Schule nach der sechsten Klasse zu verlassen.

Das afghanische Bildungssystem ist aufgrund des jahrzehntelangen Konflikts stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Auch wurden in den letzten Jahren viele Schulen aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage geschlossen. Mangelnde Bildung in den ländlichen Gebieten Afghanistans hängt nicht ausschließlich mit den Taliban zusammen. Mädchenschulen bzw. Schulen im Allgemeinen werden nicht nur von Taliban, sondern auch von unbekannten bewaffneten Männern angegriffen. Angriffe der Taliban auf Mädchenschulen decken eine Spaltung innerhalb der Organisation auf: ein wichtiger Bestandteil der islamischen Religion ist Bildung. Dessen sind sich auch die Taliban bewusst; dennoch haben sie scheinbar keine klare Position zur Bildung von Mädchen. Wenn es um die Bildung von Frauen und Mädchen geht, äußert sich selbst die Taliban-Führung vage. Innerhalb der Talibanorganisation wären sogar einige der „zivilen“ Behörden bereit, Bildung von Mädchen zu tolerieren, aber einige der lokalen Militärkommandanten sind dagegen.

Schon während ihrer Herrschaft in den 1990er Jahren trafen Taliban in lokalen Gemeinschaften Vereinbarungen mit lokalen Dorfältesten, um Schulen offenzuhalten. Wie komplex die Situation ist, zeigt auch das Beispiel des Dorfes Badikhel in der Provinz Ghazni: Manche Schülerinnen der dortigen Schule sind mit Talibanaufständischen verwandt. Diese Männer leben zwar nicht in der Dorfgemeinschaft, da sie aktiv kämpfen, nichtsdestotrotz haben sie den Dorfbewohnerinnen ausdrücklich versichert, kein Problem mit Mädchenschulen zu haben und ermutigen ihre weiblichen Verwandten die Schule zu besuchen.

Seit 2001 ist Bildung afghanischer Mädchen sowie die Stärkung afghanischer Frauen ein Schwerpunkt internationaler Bemühungen. Auf nationaler Ebene hat das afghanische Bildungsministerium im Februar 2019 eine Bildungsrichtlinie eingeführt, um Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung zu erleichtern sowie die Analphabetenrate zu reduzieren. Als eine erste Maßnahme des Bildungsministeriums wurde die Lehrerinnenanzahl um 30% erhöht – weitere ähnliche Schritte in dieser Hinsicht sollen folgen. In Afghanistan verfügen nur 48% des Lehrpersonals über die akademische Mindestqualifikation Schüler/innen zu unterrichten. Auf universitärem Niveau ist die Anzahl weiblicher Fakultätsmitglieder seit dem Jahr 2001 gestiegen. Im Jahr 2016 waren 14% der Fakultätsmitglieder weiblich, mit dem Ziel diese Prozentzahl auf 20% im Jahr 2020 zu steigern.

Frauen müssen ihre Rechte kennen, um für diese kämpfen zu können. Ein Großteil afghanischer Frauen und Mädchen ist sich ihrer Rechte nicht bewusst bzw. haben sie zu große Angst diese auszuüben. Immer mehr Frauen und Mädchen absolvieren mittlerweile eine Ausbildung – auch in jenen Bereichen, die traditionellerweise von Männern dominiert werden. So gehören Schülerinnen und Studentinnen längst wieder zum Straßenbild der Städte Kabul und Mazar-e Sharif. Mittlerweile verändert sich selbst in den ländlichen Regionen die Mentalität konservativer Väter, die von ihren Töchtern überredet werden sie doch auf weiterführende Schulen gehen zu lassen.

Neben den bereits genannten Aspekten wie Diskriminierung, der fragilen Sicherheitslage sowie dem Konflikt in Afghanistan, ist Armut ein wesentlicher Faktor weswegen Frauen und Mädchen keine Ausbildung in Anspruch nehmen können. Beispielsweise können in der Provinz Bamyan rund 3.000 Mädchen ihre Ausbildung aufgrund finanzieller Probleme nicht beenden. Um Kinder mit kostenfreier Bildung – und Unterkunft – zu versorgen, schicken arme Familien landesweit ihre Kinder in Madrasas. Nicht alle Madrasas sind bei der afghanischen Regierung registriert: landesweit sind mehr als 1.000 Madrasas beim Bildungsministerium eingetragen, andere sind beim Direktorat für Hajj und religiöse Angelegenheiten registriert und operieren ohne jegliche Regierungskontrolle.

Religion

In der afghanischen Gesellschaft durchdringen islamische Werte alle Lebensbereiche. Religiöse Gelehrte, die üblicherweise den „Titel“ Mullah, Maulawi oder Maulana vor ihrem Namen tragen, genießen ein hohes Ansehen. Die urbane, wie auch die rurale Bevölkerung respektiert Mullahs und lässt sich von ihnen in unterschiedlichen Angelegenheiten beraten. Auskünfte der Mullahs haben immer einen religiösen Hintergrund. Religion wird politisiert und interpretiert, um Positionen zu stützen, die oftmals nicht mit den Absichten des Islams übereinstimmen. Bereits die Taliban stützten ihre Interpretationen mit Grundlagen der islamischen Theologie. Extreme Interpretationen sowie patriarchale Normen und Bräuche innerhalb der afghanischen Kultur werden verwendet, um Frauen zu unterdrücken. Diese tief verwurzelten Einstellungen sind schwierig zu ändern.

Gemäß der Direktorin für Frauenfragen der Afghan Independent Human Rights Commission, stehen Frauenrechte in keinem Widerspruch zum Islam. Um die Einstellung gegenüber Frauen in Afghanistan verändern zu können, wird man mit religiösen Führern zusammenarbeiten müssen, da die afghanische Bevölkerung, speziell jene in den ländlichen Gebieten, auf sie hört. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) schlägt vor, anhand von religiösem Lehrmaterial, zu zeigen, dass der Islam geschlechtsspezifische Gewalt missbilligt. Dies setzt eine verstärkte Sensibilisierung von religiösen Führer, aber auch den Gemeinschaften in Afghanistan voraus.

Der Hijab und dessen Rolle innerhalb der afghanischen Gesellschaft

Afghanistan kann in zwei Teile geteilt werden: die liberalen städtischen Eliten und die konservativen ländlichen Gebiete mit ihren Stammesführern, wo traditionelle Werte stärker verbreitet sind, als in der Stadt. Frauen auf dem Land haben deswegen mit vielen Problemen zu kämpfen, während Frauen in der Stadt – sofern ihre Familien sie dahingehend unterstützen – freier über ihr Leben entscheiden können. Väter und Brüder bestimmen speziell in den ländlichen Gebieten über das Leben der Frauen. Neben der Hauptstadt Kabul – in der man afghanische Frauen bunte Kopftücher, als auch himmelblauen Burkas tragend sieht – existieren weitere Ausnahmen, wie z.B. die Stadt Mazar-e Sharif, wo die Gesellschaft die persönliche Entscheidung einer Frau den Hijab zu tragen oder nicht zu tragen, respektiert. Die Familie spielt hier eine wesentliche Rolle, hängt doch von ihr ab, ob Frauen diese Freiheiten ausleben können. In vielen Provinzen Afghanistans, insbesondere in Gebieten unter Taliban Kontrolle, würden afghanische Frauen sich Problemen ausgesetzt sehen, wenn sie weder einen Schal, der ihren Kopf bedeckt, noch einen Hijab tragen. Manchmal entscheiden sich Frauen auch, ohne von ihrer Familie gezwungen zu werden, eine Burka zu tragen – weil das für sie bequemer ist oder weil sie das für sich als notwendig erachten.

In Herat begann der religiöse Gelehrte Mujeeb Rahman Ansari eine Kampagne, die zu gemischten Reaktionen innerhalb der afghanischen Gesellschaft führte. Auf dutzenden Plakatwände und Schildern in der Stadt Herat, verlangte er von afghanischen Frauen den islamischen Hijab aufzusetzen. Während seiner Kampagne, die nicht in Zusammenarbeit mit der Regierung geführt wurde, forderte er seine Anhänger in mehreren öffentlichen Reden dazu auf, gegen jene vorzugehen, die diese Regeln missachten und in solchen Fällen "nicht auf die Regierung zu warten". Dem Provinzdirektorat für Hajj und religiöse Angelegenheiten zufolge, verstoßen die Lehren von Ansari gegen den Islam. In sozialen Medien wird die Kampagne als "extremistisch" und "frauenfeindlich" bezeichnet und auch die Herater Bevölkerung ist eher distanziert.

In einem weiteren Fall wurden zwei Afghaninnen aufgrund der Missachtung des “islamischen Schleiers“ im Zuge eines Aufenthalts bei den 25. asiatischen Bowlingmeisterschaften in Kuwait, aus der afghanischen Bowling-Nationalmannschaft geworfen. Eine der beiden Spielerinnen, nannte dies eine "Verleumdung", weil der „Vorfall“ nicht während eines offiziellen Termins, sondern in der Freizeit geschehen war. Eine afghanische Frauenrechtsaktivistin hält die Entscheidung des Verbandes für diskriminierend und sieht darin eine klare "Gewalt gegen Frauen".

Bewegungsfreiheit von Frauen

Auch die Bewegungsfreiheit afghanischer Frauen unterscheidet sich regional und ist abhängig von der familiären Situation bzw. der Sicherheitslage. In den urbanen Regionen finden sich unterschiedliche familiäre Einstellungen zu Frauenrechten. Manche Familien erlauben Frauen, ohne Begleitung das Haus zu verlassen, zu arbeiten und studieren zu gehen. Andere Familien wiederum akzeptieren dies nicht.

Ob eine Frau sich alleine von einem Ort zum anderen Ort bewegen kann – indem sie ein privates Auto mietet oder mit dem Bus fährt – kommt unter anderem auch auf die Einstellung ihrer Familie an. In manchen Fällen lernen afghanische Frauen Autofahren, um unabhängiger von ihren Ehemännern zu sein. Kein Gesetz in Afghanistan verbietet Frauen das Autofahren. Selbst in der Stadt Kabul sieht man selten Frauen ein Auto lenken. Zwischen 2012 und 2016 erhielten insgesamt 1.189 Frauen in der Hauptstadt einen Führerschein. Diese Zahl erhöht sich stetig: in der ersten Jahreshälfte 2019 wurden 275 Fahrgenehmigungen an Frauen in Kabul ausgestellt. Im Jahr 2019 wurde 80 Frauen in der Provinz Bamiyan eine Fahrerlaubnis erteilt. Die Provinzregierung organisiert sogar spezielle Kurse, um Frauen in Bamiyan das Autofahren beizubringen. In der Stadt Mazar-e Sharif wurden im Jahr 2019 über 300 Führerscheine an Frauen ausgestellt. Frauen aus Kabul berichten von der Freiheit ein Auto zu besitzen und zu lenken, wenngleich sie dadurch täglich auch Belästigungen ausgesetzt sind.

Neben anderen Herausforderungen, sind afghanische Frauen in der Hauptstadt Kabul auch aufgrund mangelnder Transportmöglichkeiten Belästigungen ausgesetzt. Um Frauen durch die afghanische Hauptstadt Kabul zu navigieren, wurde das Pilotprojekt „Pink Shuttle“ ins Leben gerufen; ein Transportservice, bei dem nur Frauen als Fahrerinnen eingesetzt werden, um weibliche Passagiere und ihre Kinder durch die afghanische Hauptstadt Kabul zu befördern. Das Transportservice wird derzeit nur einer begrenzten und vorab genehmigten Anzahl von Passagieren angeboten. Vier Fahrerinnen sind derzeit bei Pink Shuttle angestellt, welches von der italienischen NGO Nove Onlus betrieben und von USAID (US Agency for International Development) unterstützt wird.

Nur wenige öffentliche Bereiche existieren in der Stadt Kabul, in denen Frauen vor Belästigung geschützt sind. Mehr als ein halbes Dutzend Gärten und Parks in Kabul wurden in den letzten Jahren speziell für Frauen instand gesetzt, um sie sicherer und zugänglicher zu machen. Ausgewählte Tage an denen nur Frauen alleine in den Park gehen können sowie genügend Einrichtungen dieser Art werden als hilfreich angesehen, um afghanischen Frauen öffentliche Bereiche zugänglich zu machen. Bagh-e Zanana als einziger Frauengarten der Stadt, dient gleichzeitig auch als Marktplatz für Frauen. In den Chihilsitoon Garden dürfen mittwochs nur Frauen und Kinder. In einem örtlichen Kino sind wöchentliche Filmvorführungen nur für Frauen vorgesehen und an einem weiteren Tag für Familien. Solche Initiativen sind dem Bürgermeister von Kabul zufolge, entscheidend, um Frauen stärker am Leben teilhaben zulassen. Im neuen Entwicklungsplan von Kabul sind mehr Bereiche für Frauen, einschließlich Märkte und Parkanlagen sowie ein verbessertes öffentliches Verkehrsnetz vorgesehen, um die Mobilität zu erleichtern und damit den Zugang zu Arbeitsplätzen zu verbessern.

In der Stadt Kabul haben in den letzten Jahren neue Cafés und Restaurants eröffnet, sie werden symbolisch für den Fortschritt von Frauen in Afghanistan erachtet. Junge Männer und Frauen können diese Lokale gemeinsam ohne räumliche Trennung besuchen. Lokale, in denen sich Frauen mit Männern treffen können, existieren nur in den größeren Städten wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif. In Lokalen sind normalerweise die Haupträume für Männer vorgesehen und der Familienbereich für Frauen und Kinder. Nach einer Reihe von Angriffen durch die Taliban auf diese Cafés im Jahr 2014 – in denen unter anderem auch Alkohol serviert wird – haben seit 2016 diese Cafés wieder angefangen zu eröffnen.

Status-quo und innerafghanische Verhandlungen

Seit den repressiven Tagen der Taliban-Herrschaft hat Afghanistan einen weiten Weg zurückgelegt. Wenngleich afghanische Frauen und Mädchen in diesen zwei Jahrzehnten in unterschiedlichen Bereichen Fortschritte erzielt haben, so sind nach wie vor viele Herausforderungen zu bewältigen. Wie viel auf dem Spiel steht wird anhand der innerafghanischen Gespräche mit den Taliban deutlich, von denen afghanische Frauen befürchten in ihren hart erkämpften Rechten beschnitten zu werden.

Die innerafghanischen Verhandlungen sollten in Bälde starten. Vier Frauen sind Teil des 21-köpfigen Teams, das mit den Taliban verhandeln wird. Fragen betreffend Frauenrechte werden vermutlich Grundlage hitziger Diskussionen sein. Mittlerweile haben die Taliban vage angedeutet, Frauen einige Rechte einräumen zu wollen, Sie bezeichnen sich selbst als moderater; auch würden sie bestimmte Rechte der Frauen, allerdings nur "innerhalb der Grenzen des islamischen Rechts und der afghanischen Kultur", zugestehen. Wie das konkret aussehen würde und wie diese Rechte Frauen, im Vergleich zum Status quo einschränken würden, bleibt offen. Die Taliban erachten als Rechte von Frauen unter anderem Zugang zu Bildung und Arbeit, Erbschaft, die Auswahl des Ehemannes, Sicherheit usw. Expert/innen stehen dem skeptisch gegenüber. Denn die Frage bleibt nach wie vor bestehen, ob sich die Taliban genügend verändert haben, um die Bestrebungen einer neuen Generation zu akzeptieren, die erst nach der Taliban-Herrschaft zur Welt gekommen bzw. groß geworden ist. Für sie wäre es unvorstellbar zu den strengen Vorgaben der Taliban zurückzukehren. Da Afghanistan stark von ausländischer Hilfe abhängig ist, ist anzunehmen, dass auch Geberregierungen einem nachhaltigen Schutz von Frauenrechten Vorrang in den innerafghanischen Verhandlungen einräumen werden."

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der Erstbeschwerdeführerin vor dieser und dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der bekämpften Bescheide und des Beschwerdeschriftsatzes sowie in die im Verfahren vorgelegten Urkunden.

2.1. Zur Person der Beschwerdeführerinnen:

2.1.1. Die Feststellungen zu Identität, Sprachkenntnissen, Familienverhältnissen, Herkunft und Staatsangehörigkeit sowie zu den Lebensumständen der Beschwerdeführerinnen gründen sich auf den diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben der Erstbeschwerdeführerin vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde, in dem Beschwerdeschriftsatz und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerinnen aufkommen lässt.

2.1.2. Die Feststellung zum Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin ergibt sich aus den von ihr in der mündlichen Verhandlung vorgelegten ärztlichen Unterlagen (vgl. Beilagen zur VH-Schrift), aus denen nicht hervorgeht, dass sie an einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen) Krankheit leiden würde. Die Feststellung zur gesundheitlichen Situation der Zweitbeschwerdeführerin gründet sich auf den im Verfahren vorgelegten fachärztlichen Befunden vom 18.05.2021 bzw. vom 22.06.2018 (vgl. Beilagen zur VH-Schrift bzw. AS 105 im Verfahren zu W123 2210725-1).

2.1.3. Die Feststellungen über die Teilnahme der Erstbeschwerdeführerin an diversen Kursen bzw. die Absolvierung von Prüfungen ergeben sich aus den von der Erstbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde, mit dem Beschwerdeschriftsatz und den in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Integrationsunterlagen.

2.1.4. Die Feststellungen zur religiösen Haltung der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Familie gründen sich auf den Angaben der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung. Hierbei ist festzuhalten, dass die Erstbeschwerdeführerin anfangs unstimmige Aussagen tätigte, indem sie zuerst angab, dass ihre Familie nicht religiös gewesen sei und sie ihren Glauben in Afghanistan generell nicht habe ausüben müssen (vgl. Seite 7-8 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Wurden Sie von Ihren Eltern nach dem muslimischen Glauben erzogen? BF: Wir waren zwar Muslime, aber sie haben mich nicht zum Ausüben des Glaubens gezwungen. Sie waren nicht religiös. R: Gilt diese Aussage auch für Ihre Zeit in Afghanistan? Mussten Sie in Afghanistan auch nicht Ihren Glauben ausüben? BF: Ja. R: Und von den Schwiegereltern? BF: Sie haben es schon gesagt, dass ich meinen Glauben ausüben soll. Mein Schwiegervater ist ein paar Monate nach der Hochzeit gestorben. R: Wie haben Sie jetzt in Afghanistan Ihren Glauben ausgeübt? BF: Ich habe manchmal gefastet, aber gezwungen wurde ich dazu nicht. R: War Ihre Schwiegermutter bzw. Ihr Mann religiös? BF: Meine Schwiegermutter hat mir schon gesagt, dass ich den Glauben ausüben soll, z.B. Fasten und beten. Mein Ehemann ist ein paar Monate nach der Hochzeit geflüchtet und ich war insgesamt ca. 1 Jahr nach der Hochzeit in Afghanistan. R: Das heißt, Sie haben es sich aussuchen können, ob Sie Ihren Glauben in Afghanistan praktizieren? Manchmal haben Sie gefastet und manchmal auch nicht. Ist das richtig? BF: Bei meinem Eltern habe ich es aussuchen dürfen, aber meine Schwiegereltern haben es mir schon gesagt, dass ich beten und fasten soll, weil das gut für das Jenseits ist und es wäre für mich vorteilhaft. […] R: Ist Ihr Vater in Afghanistan nie in die Moschee gegangen? BF: er ist in die Moschee gegangen. Mein Schwiegervater hat auch regelmäßig die Moschee besucht. R: Das heißt Ihr Vater war in Afghanistan schon ein praktizierender Moslem? BF: Ja. R: Und im Iran dann nicht mehr, oder wie? BF: Wir waren keine strengreligioöse Familie, aber mein Vater hat auch im Iran gebetet und ist ab und zu in die Moschee gegangen. Im Iran ist er ca. 1 Mal im Monat in die Moschee gegangen.)“.

2.2. Zu den Fluchtgründen/Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführerinnen:

2.2.1. Die Erstbeschwerdeführerin begründete die Stellung ihres Asylantrages einerseits mit der Feindschaft ihres Ehemannes mit dessen Onkel väterlicherseits. Andererseits habe sie als Frau keine Freiheiten und keine Rechte in Afghanistan gehabt und auch sei die dortige Sicherheitslage sehr schlecht gewesen (vgl. Seite 4 des Verhandlungsprotokolls). Zudem würde sie von jenen Personen verfolgt, die ihren Bruder ermordet hätten (vgl. Seite 14 des Verhandlungsprotokolls).

Für die Zweitbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen geltend gemacht (vgl. AS 1 im Verfahren zu W123 2211027-1).

2.2.2. Zur Verfolgung und Bedrohung der Erstbeschwerdeführerin auf offener Straße bzw. zur Feindschaft ihres Ehemannes mit dessen Onkel väterlicherseits

2.2.2.1. Hinsichtlich dieses Vorbringens der Erstbeschwerdeführerin schließt sich das Bundesverwaltungsgericht zunächst der nachfolgenden Beweiswürdigung der belangten Behörde an:

„Bezüglich Ihrer beim BFA behaupteten Fluchtgründe ist festzuhalten:

[…]

Zunächst wird festgehalten, dass Sie im Rahmen eines Einreiseantrages gemäß § 35 AsylG in Österreich eingereist sind. Anlässlich der Erstbefragung erschöpfte sich Ihr Vorbringen zu Ihren Fluchtgründen hauptsächlich darauf, dass Ihr Ehemann in Österreich asylberechtigt wäre und dass Sie zu ihm wollten. Außerdem gaben Sie an, Ihr Leben wäre aufgrund der Feindschaften in Gefahr.

Im Zuge der Einvernahme machten Sie jedoch gänzlich andere Angaben zu Ihrem Fluchtvorbringen. In dieser beschränkten Sie sich darauf, die allgemeine Lage der Frauen in Afghanistan zu beschreiben. In persönlicher Hinsicht, brachten Sie vor, Sie wären zwei Mal bedroht worden, weil Sie keinen Tschador getragen haben und es wäre Ihnen nicht gestattet gewesen, aus dem Haus zu gehen. Danach befragt, ob Sie sonstige Fluchtgründe haben, brachten Sie außerdem vor, dass Ihr Bruder vor 4 Jahren getötet worden wäre.

Es ist für die Behörde nicht verständlich, warum weder eine allfällige Bedrohung noch die Ermordung Ihres Bruders in der Erstbefragung eine Erwägung findet.

[…]

Niederschriftlich ist es Ihnen beim Bundesamt nicht gelungen ein fundiertes und substantiiertes Vorbringen darzulegen. Sie haben dem Bundesamt bloß ein völlig abstraktes und höchst vages Vorbringen dargelegt. Bemerkt werden müssen aber definitiv auch die Abweichungen zu Ihren Schilderungen in den Einvernahmen vom 17.02.2018 und 11.07.2018

In der Einvernahme vom 07.02.2018 gründeten Sie Ihre Gefährdung darauf, dass es für Sie in Afghanistan weder Freiheit noch Sicherheit gäbe. Weiters führten Sie aus, Sie hätten nicht rausgehen dürfen und dass Sie mit Steinigung bedroht worden wären, weil Sie keinen „Tschador“ getragen haben.

In der Einvernahme vom 11.07.2018 vermeinten Sie hinsichtlich Ihrer Rückkehrbefürchtung, dass Sie sich in Afghanistan fürchten würden, weil es dort keine Sicherheit für Sie gäbe.

Befragt danach wovor Sie Angst haben, gaben Sie folgendes an:

,,(…) „Ich habe Angst vor dem Onkel meines Mannes. Er wird uns vielleicht Schwierigkeiten machen“ (…)“

Für die Behörde ist nicht nachvollziehbar, dass Sie befragt zu Ihren Fluchtgründen die Geschichte mit dem Onkel Ihres Mannes nicht sofort erwähnt haben und Ihre Schilderungen hinsichtlich Ihres Fluchtvorbringens durch eine mögliche Bedrohung seitens des Onkels Ihres Mannes, zu steigern schienen.

[…]

Auch widersprechen Sie sich massiv, wenn Sie auf der einen Seite behaupten Sie hätten ohne Begleitung nicht rausgehen dürfen, jedoch direkt danach angeben,Sie wären alleine einkaufen gegangen. (Seite 8 in der Einvernahme vom 07.02.2018)

[…]“

2.2.2.2. Das Bundesverwaltungsgericht gelangt aus folgenden Gründen ebenso zu dem Ergebnis, dass die Angaben der Erstbeschwerdeführerin bezüglich des Vorfalls auf offener Straße in Afghanistan, als sie keine Kopfbedeckung trug, und bezüglich der Feindschaft ihres Ehemannes mit dessen Onkel väterlicherseits nicht glaubhaft sind:

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein gesteigertes Vorbringen nicht als glaubhaft anzusehen. Vielmehr müsse grundsätzlich den ersten Angaben des Asylwerbers ein erhöhter Wahrheitsgehalt zuerkannt werden. Es entspricht der Lebenserfahrung, dass Angaben, die in zeitlich geringerem Abstand zu den darin enthaltenen Ereignissen gemacht werden, der Wahrheit in der Regel am nächsten kommen (VwGH 11.11.1998, 98/01/0261, mwH).

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt zwar nicht, dass sich die Erstbefragung nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen hat und die Beweisergebnisse der Erstbefragung nicht unreflektiert übernommen werden dürfen (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061). Ein vollständiges Beweisverwertungsverbot normiert § 19 Abs. 1 AsylG jedoch nicht. Im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen können Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten in den Angaben in der Erstbefragung zu späteren Angaben – unter Abklärung und in der Begründung vorzunehmender Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind – einbezogen werden (VwGH 26.03.2019, Ra 2018/19/0607 bis 0608-12, VwGH 28.6.2018, Ra 2018/19/0271, mwN).

Die Erstbeschwerdeführerin gab in den Einvernahmen vor der belangten Behörde und in der mündlichen Beschwerdeverhandlung wiederholt an, dass sie ohne Erlaubnis das Haus nicht habe verlassen dürfen und sie aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen in Afghanistan bzw. im Iran ein Kopftuch habe tragen müssen (vgl. AS 41 f, 100 und 102 im Verfahren zu W123 2210725-1; vgl. auch Seite 6 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Wie waren Sie normalerweise in Afghanistan, als Sie das Haus verlassen, bekleidet? BF: Nachdem wir abgeschoben wurden, waren wir ca. 5 bis 6 Monate in Afghanistan. Wen ich in dieser Zeit mit meinen Eltern das Haus verließ, habe ich ein Kopftuch tragen müssen, weil die Gesellschaft und die Situation es nicht anders erlaubt.“). Angesichts dieses Wissens ist es nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes nicht nachvollziehbar, dass die Erstbeschwerdeführerin nichtsdestotrotz alleine und ohne Kopfbedeckung das Haus verlassen habe, um in einem nahen gelegenen Geschäft einkaufen zu gehen. In einer solchen Situation hätte ihr bewusst sein müssen, dass sie auch anderen Menschen im Geschäft bzw. am Weg dorthin begegnen könnte. Ihre Begründung, dass sie gedacht habe, gleich zurückzukehren, scheint in Anbetracht dessen nicht plausibel und der behauptete Vorfall insgesamt unglaubhaft (vgl. Seite 6 des Verhandlungsprotokolls, arg „BF: Wir bereits gesagt, ich bin ohne Erlaubnis und ohne Begleitung hinausgegangen, weil ich etwas vom Laden gebraucht habe. Ich habe mir gedacht, dass ich eh schnell zurück nach Hause komme.“).

Außerdem schilderte die Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Beschwerdeverhandlung erstmals im bisherigen Verfahren, dass sie glaube, dass jener Mann, der sie in Afghanistan auf der Straße verfolgt habe, von dem Onkel ihres Ehemannes geschickt worden sei (vgl. Seite 6 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: War das die einzige Bedrohend, die Sie in Afghanistan erlebt haben? BF: Ich war auch seitens des Onkel vs meines Ehemannes bedroht. Er hat meinem Ehemann vorgeworfen seinen Sohn getötet zu haben. Es ist möglich, dass derjenige der mich verfolgt hat vom Onkel meines Ehemannes geschickt wurde, weil sie von unserer Rückkehr und unserem Aufenthaltsort eventuell gewusst haben. Deshalb habe ich auch Angst gehabt.“). In diesem Zusammenhang ist dem Bundesverwaltungsgericht kein Grund ersichtlich, weshalb die Erstbeschwerdeführerin diese indirekte Bedrohung durch den Onkel ihres Ehemannes nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Verfahren ins Treffen führte. Es wäre vielmehr zu erwarten gewesen, dass sie diese Bedrohung bereits in der freien Erzählung vor der belangten Behörde von sich aus nennt oder zumindest auf die entsprechenden Fragen anführt. Anzumerken ist, dass es sich dabei um eine bloße Vermutung der Erstbeschwerdeführerin handelt, wie sie selbst vorbrachte. Das Bundesverwaltungsgericht geht daher davon aus, dass die Erstbeschwerdeführerin in dieser Hinsicht ihr Vorbringen „steigerte“, um die Verfolgungsgefahr „asylrelevant“ darzustellen.

Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Erstbeschwerdeführerin nach dem behaupteten Vorfall nach eigenen Angaben noch zwei Monate in Afghanistan geblieben ist (vgl. Seite 6-7 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Wie lange ungefähr vor Ihrer endgültigen Ausreise aus Afghanistan, passierte der Vorfall mit diesem Mann? Ich möchte eine ungefähre zeitliche Einordnung. BF: Nach dem Vorfall haben meine Eltern Afghanistan verlassen, aber ich blieb weiterhin in Afghanistan, weil mein Ehemann mir gesagt hat, dass ich abwarten muss, damit er mich auf legalen Weg nach Österreich holen kann und dies nicht lange dauern würde. Nachdem Vorfall bin ich noch ca. 2 Monate in Afghanistan geblieben.“). Hätte die Bedrohung für sie als Frau bzw. durch den unbekannten Mann auf der Straße bzw. den Onkel ihres Ehemannes tatsächlich eine so akute Gefährdung der Erstbeschwerdeführerin dargestellt, dann erscheint es in diesem Zusammenhang nicht nachvollziehbar, dass die Beschwerdeführerin trotzdem in Afghanistan ausharrte. Anders formuliert: Wäre die Erstbeschwerdeführerin wirklich im Fokus des Onkels ihres Ehemannes gestanden, dann hätte ihre Flucht aus Afghanistan ebenso unmittelbar wie die Ausreise ihrer Eltern erfolgen müssen.

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Onkel ihres Ehemannes die Erstbeschwerdeführerin nie persönlich bedroht hat. Zu keinem Zeitpunkt im Verfahren beschrieb die Erstbeschwerdeführerin eine direkte Konfrontation mit dem Onkel ihres Ehemannes. Auf die Frage des erkennenden Richters, wie sie von diesem Onkel bedroht worden sei, antwortete die Erstbeschwerdeführerin ausweichend und gab allgemein an, dass sie sich aufgrund dieser Feindschaft in der Familie ihres Ehemannes ebenfalls als bedroht erachte (vgl. Seite 6 des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF: Weil mein Ehemann von seinem Onkel bedroht wurde und mein Schwager getötet wurde, sehe ich mich auch als bedroht. Nachdem wir aus dem Iran abgeschoben wurden und ich von diesem Mann verfolgt und bedroht wurde, glaube ich, dass es sein Kann, dass dieser Mann vom Onkel meines Ehemannes geschickt wurde.“).

2.2.3. Zur Bedrohung durch jene Personen, die für den Tod des Bruders der Erstbeschwerdeführerin verantwortlich seien

2.2.3.1. Zu diesem Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin verweist das Bundesverwaltungsgericht abermals auf die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid:

„[…]

Es ist für die Behörde nicht verständlich, warum weder eine allfällige Bedrohung noch die Ermordung Ihres Bruders in der Erstbefragung eine Erwägung findet.

[…]

Ebenso ist es für die Behörde nicht verständlich, in welchem Zusammenhang die Ermordung Ihres Bruders vor 4 Jahren mit Ihrem Asylgrund steht. Auch war es Ihnen unmöglich genaue Angaben über seine Ermordung zu machen. So wusste Sie nicht einmal, wann und von wem Ihr Bruder getötet wurde.

[…]“

2.2.3.2. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet dieses Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin ebenfalls als nicht glaubhaft.

Ergänzend dazu hält das Bundesverwaltungsgericht fest, dass die Erstbeschwerdeführerin dieses Fluchtvorbringen erst nach Rückübersetzung des Verhandlungsprotokolls in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ins Treffen führte (vgl. Seite 14 des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF nach Rückübersetzung: Ich werde auch seitens dieser Personen bedroht, die meinen Bruder getötet haben.“). Dabei wurden relativ zu Beginn der Verhandlung die Familienverhältnisse der Erstbeschwerdeführerin und in diesem Zusammenhang auch der Tod ihres Bruders erörtert. Die Erstbeschwerdeführerin gab hierzu an, die genaue Ursache nicht zu kennen, ihr Vater vermute, dass seine Feinde ihren Bruder getötet hätten. Eine gegen ihre Person gerichtete Bedrohung durch dieselben Personen erwähnte die Erstbeschwerdeführerin weder an dieser Stelle noch im Zuge ihrer darauffolgenden freien Erzählung über ihre Fluchtgründe (vgl. Seite 4-5 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Und getötet wurde der Bruder Ihres Gatten und nicht Ihr Bruder? BF: Beide sind getötet worden. Mein Bruder wurde in Kabul getötet. […] R: Warum wurde Ihr Bruder umgebracht? BF: Wir waren im Iran, als mein Bruder wegen des Studiums nach Afghanistan gegangen ist, weil er im Iran keine gute Studienrichtung studieren durfte. Er wurde in Afghanistan in eine Uni aufgenommen. Ca. 3 Monate nach dem Beginn seines Studiums wurde er zu Hause getötet. Wir haben es auch in den Nachrichten im afghanischen Fernsehen gesehen. R: Wo ist Ihr Bruder getötet worden? BF: In Kabul. R: Von wem? BF: Die genaue Ursache wissen wir nicht, aber mein Vater glaubt, dass er von seinen Feinden getötet wurde, weil auch er in Afghanistan verfeindet ist. R: Wurden Sie in Afghanistan jemals persönlich bedroht? […]“).

Aus den angeführten Gründen ist auch dieses Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin als „Steigerung“ zu werten, um die Asylrelevanz ihres Vorbringens zu erhöhen und deshalb nicht glaubwürdig.

2.2.4. Im Übrigen ist anzumerken, dass es sich bei den von der Erstbeschwerdeführerin geschilderten Konflikten um rein „private“ handelt.

2.2.5. Abgesehen davon war die Erstbeschwerdeführerin auch nicht in der Lage, nachvollziehbar darzulegen, warum konkret sie in Afghanistan aufgrund der Feindschaft ihres Ehemannes mit dessen Onkel bzw. aufgrund der Ermordung ihres Bruders (weiterhin) Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungssituationen ausgesetzt sein bzw. warum ein aufrechtes Interesse an der Erstbeschwerdeführerin bestehen sollte.

2.2.6. Die Erstbeschwerdeführerin konnte damit keine nachvollziehbare Verfolgungsgefahr schildern. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen ist vielmehr davon auszugehen, dass die Erstbeschwerdeführerin ihrem Ehemann nach Österreich nachgereist ist, um mit diesem in Österreich ein Familienleben zu führen. Dies kommt auch in den Aussagen der Erstbeschwerdeführerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung zum Ausdruck (vgl. zum einen Seite 9 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Wollten Sie eigentlich nach der Matura im Iran studieren? BF: Ja. Aber nach der Aufnahmeprüfung wurde ich abgeschoben. Die Aufnahmeprüfung habe ich gemacht, aber ich war mir nicht sicher, ob ich die Uni besuchen werde. Ich dachte, dass mein Ehemann mich nach Österreich holen könnte.“; vgl. zum anderen Seite 7-8 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Wie lange ungefähr vor Ihrer endgültigen Ausreise aus Afghanistan, passierte der Vorfall mit diesem Mann? Ich möchte eine ungefähre zeitliche Einordnung. BF: Nach dem Vorfall haben meine Eltern Afghanistan verlassen, aber ich blieb weiterhin in Afghanistan, weil mein Ehemann mir gesagt hat, dass ich abwarten muss, damit er mich auf legalen Weg nach Österreich holen kann und dies nicht lange dauern würde. Nachdem Vorfall bin ich noch ca. 2 Monate in Afghanistan geblieben.“).

2.2.7. Zur westlichen Orientierung

2.2.7.1. Es ist daher zu überprüfen, ob im gegenständlichen Ermittlungsverfahren Umstände hervortraten, aus denen geschlossen werden kann, dass sich die Erstbeschwerdeführerin seit ihrer Einreise bereits eine („westliche") Lebensweise aneignete, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und ihr somit eine Rückkehr nach Afghanistan nicht mehr zumutbar erscheint.

2.2.7.2. Aus der Lebenssituation der Erstbeschwerdeführerin vor ihrer Einreise nach Österreich ergeben sich – abgesehen von ihrer Schulbildung – keine Hinweise auf eine Sozialisierung – im Zusammenhang mit ihrer Herkunft, Familie, mangelnden Erwerbstätigkeit, etc. –, die den in Afghanistan überwiegend vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen entgegensteht. Dies zeigt sich eindeutig darin, dass die Erstbeschwerdeführerin zunächst nur im Verband ihrer Familie (mit ihren Eltern bzw. ihren Schwiegereltern) lebte, außerhalb des Hauses ein Kopftuch tragen musste, in Afghanistan bzw. im Iran nicht erwerbstätig war und sie daher auf die Versorgung durch ihre Familie bzw. ihre Schwiegerfamilie bzw. ihren Ehemann angewiesen war. Diese Lebensumstände lassen – mit Blick auf die Vergangenheit der Erstbeschwerdeführerin – keine Aspekte eines selbstbestimmten Lebens erkennen. Sie versuchte auch nie, die Grenzen der sozialen Normen in Afghanistan bzw. im Iran (etwa in Hinblick auf Bekleidungsvorschriften, Verhalten oder ein selbstbestimmtes Auftreten) auszureizen oder sie gar in Frage zu stellen. Im Hinblick auf das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin, dass sie in Afghanistan alleine ohne Kopfbedeckung das Haus verlassen habe und im Zuge dessen verfolgt und bedroht worden sei, kam das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis, dass dieser behauptete Vorfall nicht glaubhaft ist (vgl. oben, Punkt 2.2.2.).

Durchaus glaubhaft waren die Aussagen der Erstbeschwerdeführerin, dass ihre eigenen Eltern sie nicht zur Religionsausübung gezwungen hätten und dass sie den Glauben ab und zu praktiziere (siehe dazu die Feststellungen, Punkt 1.1.5.).

2.2.7.3. Vom Bundesverwaltungsgericht wird nicht verkannt, dass die Erstbeschwerdeführerin – seit ihrem Aufenthalt in Österreich – auch in Zukunft ein selbständigeres Leben führen möchte, als es ihr in Afghanistan bzw. im Iran möglich war. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes sind jedoch – neben dem Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben – auch noch weitere Aspekte ausschlaggebend, um davon ausgehen zu können, dass Beschwerdeführerinnen ein „westliches Verhalten“ bzw. eine „westliche Lebensführung“ verinnerlichten.

2.2.7.4. Die Erstbeschwerdeführerin bringt zwar vor, hier in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führen zu wollen. Diese Aussage weicht jedoch auch erkennbar von ihrer Lebenswirklichkeit ab:

Bezüglich eines allfälligen Berufswunsches gab die Erstbeschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung an, dass sie im Iran den Beruf als Zahnärztin angestrebt habe (vgl. Seite 9 des Verhandlungsprotokolls). In Österreich wolle sie sich nun auf die Erziehung ihrer beiden Kinder und auf ihre Bildung fokussieren (vgl. Seite 11 des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF: […] Ich will mich jetzt auf die Bildung konzentrieren und schauen, dass meine Kinder jetzt groß werden.“).

Gemäß den Länderberichten unterliegen Frauen in Afghanistan keinem generellen Verbot, jegliche grundlegende Bildung – etwa das Lesen und Schreiben – zu erwerben. Vielmehr würde ein solches Verbot den (nach wie vor) geltenden afghanischen Gesetzen widersprechen (vgl. dazu auch unten, 2.2.7.7.) und ist jedenfalls auch nicht die landesweit übliche Einstellung. Ein entsprechender Wunsch der Beschwerdeführerin nach Bildung für sich, würde damit keine asylrelevante Verfolgung auslösen.

Zwar sind die Angaben der Erstbeschwerdeführerin, sich auf ihre Ausbildung zu konzentrieren und später einmal einem Beruf nachgehen zu wollen, nachvollziehbar; ein besonderes eigenes Engagement und eine klare Vorstellung sowie eine konkrete Planung ihres Ausbildungs- bzw. Berufszieles waren in der mündlichen Beschwerdeverhandlung jedoch nicht erkennbar. Der grundsätzliche Wunsch nach Bildung bzw. einem Beruf kann keineswegs als ausschlaggebendes Motiv für eine „westliche Orientierung" angesehen werden, aus der eine Verfolgung im Heimatland abzuleiten wäre. Derart stereotype Aussagen müssten ansonsten automatisch dazu führen, dass Beschwerdeführerinnen in jedem Fall Asyl aufgrund der sozialen Gruppe „Frauen" zu gewähren wäre (vgl. VfGH 12.06.2015, E 573/2015; VwGH 06.07.2011, 2008/19/0994; 16.01.2008, 2006/19/0182).

Das Bundesverwaltungsgericht übersieht in diesem Zusammenhang nicht, dass die Erstbeschwerdeführerin inzwischen Mutter von zwei minderjährigen Kindern, darunter der Zweitbeschwerdeführerin, ist und ihr insoweit Sorgepflichten zukommen. Sie hat jedoch nicht dargetan, dass sie aus diesem Grund gänzlich an der Verfolgung ihrer beruflichen Ziele gehindert worden wäre. Für das Bundesverwaltungsgericht zeigt der Umstand, dass die Erstbeschwerdeführerin noch keine konkreten Schritte setzte, um einen Beruf ausüben bzw. einen Ausbildungsplatz erlangen zu können, nicht von tatsächlichen und verinnerlichten Bestrebungen der Erstbeschwerdeführerin, sich in Österreich in entsprechender Weise auszubilden bzw. in nächster Zeit tatsächlich einen Beruf ergreifen bzw. eine Ausbildung absolvieren zu wollen. Eine Frau, die ein unabhängiges Leben anstrebt und der eine solche Möglichkeit in Österreich grundsätzlich angeboten wird, führt nicht nach einem fünfeinhalb-jährigen Aufenthalt in Österreich in der Verhandlung aus, dass sie beabsichtige, sich auf ihre Bildung zu konzentrieren bzw. arbeiten zu gehen, zumal die Erstbeschwerdeführerin auch nicht geltend machte, dass sie bereits konkrete Schritte zur Aufnahme eines Berufes bzw. einer Ausbildung gesetzt hätte oder welche Dispositionen sie hierfür zu treffen beabsichtigt bzw. ihr – abgesehen von der Geburt ihrer beiden Kinder – die entsprechende Möglichkeit dazu verwehrt gewesen wäre.

So sprach die Erstbeschwerdeführerin in der mündlichen Beschwerdeverhandlung lediglich pauschal davon, in Österreich „die Bildung genießen“ zu können (vgl. Seite 8 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Und wie ist es heute? […] BF: Hier habe ich meine komplette Freiheit. Ich trage kein Kopftuch, kann mich bekleiden wie ich will, keiner kritisiert es. Ich kann die Bildung genießen.“; weiters Seite 9 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Wie unterscheidet sich Ihr jetziges Leben in Österreich im Vergleich zu Ihrem Leben im Iran? BF: Wie gesagt, habe ich in Österreich all meine Freiheiten und ich kann hier selbst entscheiden und die Bildung genießen.“; siehe auch Seite 11 des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF: [..] Jetzt will ich kein Kind mehr, damit ich mich auf meine Bildung konzentrieren kann.“).

Ferner hat die Erstbeschwerdeführerin über Befragung des erkennenden Richters in der mündlichen Beschwerdeverhandlung angegeben, dass ihre im Iran abgelegte Matura in Österreich nicht anerkannt worden sei. Eine diesbezügliche Bescheinigung hat die Erstbeschwerdeführerin im Verfahren nicht vorgelegt. Auf Nachfrage des erkennenden Richters erklärte sie auch nicht, über eine schriftliche Bestätigung zu verfügen (vgl. Seite 10 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Sie wollten Ihre im Iran abgelegte Matura in Österreich anrechnen lassen. Haben Sie das mittlerweile getan? BF: Ich habe das Maturazeugnis auch übersetzen lassen. Da das Geburtsdatum im Maturazeugnis mit dem von Österreich nicht übereinstimmt wurde es nicht anerkannt. R: Können Sie das bescheinigen oder belegen? Haben Sie diesbezüglich dem BVwG etwas vorgelegt? BF: Ich habe das übersetzte Maturazeugnis dem BFA vorgelegt. R: Haben Sie etwas Schriftliches von Österreich, dass Ihr Maturazeugnis in Österreich nicht anerkannt wird? BF: Das BFA hat mir gesagt, dass die Anerkennung nicht möglich sei, weil die Geburtsdaten und der Name nicht übereinstimmen. Ich hieß vor der Heirat XXXX und nach der Heirat heiße ich XXXX . Es bei uns üblich, dass man nach der Heirat einen neuen Namen bekommt und mein Ehemann hat hier in Österreich den Namen XXXX angegeben.“).

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass die Erstbeschwerdeführerin sich bemüht hat, die deutsche Sprache zu erlernen und im Jahre 2019 die Integrationsprüfung auf dem Sprachniveau B1 abgelegt hat. Auch sind Schwierigkeiten der Erstbeschwerdeführerin beim Spracherwerb aufgrund der Geburt der Zweitbeschwerdeführerin zwei Jahre nach ihrer Einreise nach Österreich und ihres Sohnes eineinhalb Jahre später nachvollziehbar. Die angesprochenen Fortschritte sind allerdings ihrem mehr als fünfeinhalbjährigen Aufenthalt in Österreich gegenüberzustellen und es ist darauf hinzuweisen, dass die Erstbeschwerdeführerin ihren letzten Kurs Ende Dezember 2017 besuchte. Die Kommunikationsfähigkeit in der Landessprache ist für einen freibestimmten Lebenswandel der Erstbeschwerdeführerin und eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im nunmehrigen Aufenthaltsstaat essentiell. Setzt man folglich die Aufenthaltsdauer der Erstbeschwerdeführerin in Relation zu ihren erworbenen Sprachkenntnissen (vgl. Seite 11 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Können Sie mir auf Deutsch erzählen, was Sie kommendes Wochenende so vorhaben? BF auf Deutsch: „Wir fahren am Wochenende mit mein Mann und meine Kinder nach Wien, draußen gehen [gemeint ist außerhalb von Wien]. Oder mit unsere Familie gehen wir zusammen grillen im Park. Und wir bringen unsere Kinder zum Spielplatz.“), machte sie vor diesem Hintergrund eine selbstbestimmte und -verantwortungsvolle Lebensweise nicht glaubhaft.

Auch die sonstigen Umstände ihres Alltagslebens in Österreich lassen nicht darauf schließen, dass die Erstbeschwerdeführerin eine selbstbestimmte Lebensführung und Geisteshaltung annahm und dies ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität wurde, die sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan in einer die dortigen sozialen Normen verletzenden Weise exponieren würden. So beschreibt sie ihren gewöhnlichen Ablauf eines durchschnittlichen Tages in Österreich damit, dass sie sich um ihre Kinder kümmere, etwa mit ihnen in den Park gehe oder die Zweitbeschwerdeführerin in den Kindergarten bringe. Auch treffe sie sich mit Freunden zum Beispiel zum Kaffeetrinken. Zwar nimmt die Erstbeschwerdeführerin Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung in Anspruch, sodass sie sich grundsätzlich typischen Freizeitgestaltungen und dem Kontakt zu Mitmenschen nicht verschließt. Es ergab sich aber auch, dass die Erstbeschwerdeführerin, wenngleich sie behauptet, in Österreich alle ihre Freiheiten zu haben (vgl. Seite 8 und 9 des Verhandlungsprotokolls), nur einen relativ kleinen Bewegungsradius eines Alltagslebens wahrnimmt, obwohl sie hier nicht von gesellschaftlichen/sozialen Normen eingeschränkt ist. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass sie keine engeren sozialen österreichischen Anknüpfungspunkte fand. Dass sie in ihrer Umgebung alleine (unter anderem für Termine) bzw. gemeinsam mit ihrer Familie ihre Unterkunft verlässt, ist als nach außen tretende Verhaltensweise keine ausreichende Grundlage für das Führen eines selbstbestimmten Lebens und lässt sich daraus auch nicht ableiten, dass ein freibestimmtes Leben Teil der Identität der Erstbeschwerdeführerin in Österreich wurde. Auch der Umstand, dass sie gerade für die Fahrschule lerne, vermag an dieser Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes nichts zu ändern.

Überzogen und einstudiert, sohin auch nicht glaubhaft, wirkten auch manche Aussagen der Erstbeschwerdeführerin zur Lebenssituation in Österreich: Befragt zu den Unterschieden zwischen ihrem Leben in Afghanistan bzw. im Iran und jenem in Österreich, machte sie bloß allgemein gehaltene Äußerungen und gab an, dass sie in Österreich ihre Freiheiten und Bildung genießen sowie sich nach ihren eigenen Vorstellungen kleiden könne (vgl. Seite 8 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Und wie ist es heute? […] BF: Hier habe ich meine komplette Freiheit. Ich trage kein Kopftuch, kann mich bekleiden wie ich will, keiner kritisiert es. Ich kann die Bildung genießen. […]“; vgl. auch Seite 9 des Verhandlungsprotokolls, arg. „R: Wie unterscheidet sich Ihr jetziges Leben in Österreich im Vergleich zu Ihrem Leben im Iran? BF: Wie gesagt, habe ich in Österreich all meine Freiheiten und ich kann hier selbst entscheiden und die Bildung genießen. […]“). Dasselbe trifft auf die Aussagen der Erstbeschwerdeführerin zum Unterschied zwischen der Situation der Frauen in Afghanistan und jener in Europa, speziell in Österreich zu, wozu die Erstbeschwerdeführerin wie folgt ausführte: „Es ist ein „Welten-Unterschied“. In Österreich sind die Frauen recht geschützt und werden als Menschen angesehen. Sie werden aufgrund des Geschlechtes nicht diskriminiert. Ich kann das so bekleidet verlassen wie ich es will. In Afghanistan hat die Frau keine Rechte. Wenn man draußen kein Kopftuch trägt wird man angefeindet und belästigt. Selbst von der Regierung wird man in so einem Fall nicht unterstützt, weil Afghanistan ein islamisches Land ist und viele Gesetze den Regeln des Islams entsprechen. In Afghanistan werden Frauen als Objekte betrachtet. Wenn man sich deshalb bei der Polizei beschwert, wird einem vorgeworfen sich nicht an die islamischen Vorschriften gehalten zu haben.“ (vgl. Seite 9 des Verhandlungsprotokolls).

2.2.7.5. Festzuhalten ist hierzu, dass die Erledigung der alltäglichen Dinge, wie die Betreuung ihrer Kinder und Einkaufen gehen, der Erstbeschwerdeführerin – theoretisch – auch in Afghanistan ohne Bedrohungen möglich wäre, insbesondere, weil sie gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer in einem funktionierenden Familienverband lebt.

2.2.7.6. Es wird von dem Bundesverwaltungsgericht nicht verkannt, dass die Erstbeschwerdeführerin kein Kopftuch mehr trägt und sich modisch kleidet (vgl. Seite 8 des Verhandlungsprotokolls, arg. „BF: […] Ich trage kein Kopftuch, kann mich bekleiden wie ich will, keiner kritisiert es. […]“). Allein das äußere Erscheinungsbild kann jedoch im Rahmen der Beurteilung, ob eine „westlich“ orientierte Lebensweise nachhaltig angenommen worden ist, nicht entscheidend sein. Es müssen folglich weitere Umstände hinzutreten, um von einer „westlichen“ Orientierung ausgehen zu können, welche im gegenständlichen Fall noch nicht (ausreichend) hervorgekommen sind.

2.2.7.7. Zur aktuellen Situation in Afghanistan hält das Bundesverwaltungsgericht nachfolgendes fest:

Es wird nicht verkannt, dass – infolge der jüngsten „Machtübernahme“ des Großteils Afghanistans durch die Taliban – die Ausgangslage für den gegenständlich zu beurteilenden Sachverhalt im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (01.07.2021) noch anders gelagert war, als zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Laut Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) von Mitte Juli 2021 berichteten Bewohner des nordöstlichen Landesteils Afghanistans beispielsweise, dass die „militante Gruppe“ (gemeint: die Taliban) viele der repressiven Gesetze und rückschrittlichen Maßnahmen wiedereingeführt hätten, die ihre Herrschaft von 1996 bis 2001 charakterisierten (RFE/RL, 14. Juli 2021). In dieser Zeit – so der Bericht weiter – zwangen die Taliban Frauen, sich von Kopf bis Fuß zu verhüllen, verboten ihnen, außerhalb des Hauses zu arbeiten, schränkten die Bildung von Mädchen stark ein und verlangten, dass Frauen von einem männlichen Verwandten begleitet werden, wenn sie ihr Haus verließen.

Demgegenüber ist jedoch zum einen anzuführen, dass die (oben unter Punkt 1.2.1. in Auszügen zitierte) Verfassung Afghanistans – inklusive „Rechte“ der Frauen – nach wie in Kraft ist. Zudem ist nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes allein aufgrund des Umstandes, dass die Taliban während ihrer Herrschaft in Afghanistan von 1996 bis 2001 repressive Maßnahmen gegenüber Frauen verhängten, die den „westlichen“ Vorstellungen bezüglich der generellen Stellung von Frauen in der Gesellschaft diametral widersprachen, nicht automatisch (gleichsam „a priori“) davon auszugehen, dass die zukünftige Regierung Afghanistans unter Federführung der Taliban die Frauenrechte erneut in derartiger (drastischer) Weise einschränken werden (vgl. die erste Taliban-Pressekonferenz am 17.08.2021, wonach man sich zu den Rechten der Frauen „im Rahmen der Scharia“ bekenne [https://orf.at/stories/3225255/ ]; siehe dazu auch den Artikel von Schildbach, MDR-Aktuell, 18.08.2021 „Wie regelt die Scharia Frauenrechte“ [https://www.mdr.de/nachrichten/welt/politik/taliban-scharia-frauenrechte-100.html ], wonach der Koran [grundsätzlich] Bildung und Berufstätigkeit von Frauen erlaube).

Würde man somit schlussfolgern, dass schon allein aufgrund der jüngsten politischen Ereignisse in Afghanistan Beschwerdeführerinnen von vornherein einer asylrelevanten Verfolgung – ohne Ansatzpunkte einer konkreten Bedrohung – ausgesetzt wären, würde das im Ergebnis bedeuten, dass bereits die Tatsache „Frau“ zu sein, ausreichte, um internationalen Schutz zu genießen, was jedoch den Zielsetzungen der GFK zuwiderlaufen würde.

2.2.7.8. Zusammenfassend geht der erkennende Richter unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen und aus dem im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung gewonnenen Gesamteindruck, den die Erstbeschwerdeführerin hinterließ, daher davon aus, dass die Erstbeschwerdeführerin eine „westliche Lebensführung“, der eine selbstbestimmte und -verantwortungsvolle Lebensweise immanent ist, noch nicht in einem ausreichenden Ausmaß verinnerlichte und diese auch nur in Ansätzen in ihrer alltäglichen Lebensführung verankert ist bzw. eine solche mangels Aktivitäten, die wesentlich über die Kinderbetreuung und diverse Freizeitaktivitäten hinausgehen, auch nicht lebt.

2.3. Zum Herkunftsstaat:

Es wurde vor allem Einsicht genommen in folgende Erkenntnisquellen des Herkunftsstaates der Beschwerdeführerinnen:

1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 11.06.2021

– Frauen

2. Analyse der Staatendokumentation vom 25.06.2020: „Gesellschaftliche Einstellung zu Frauen in Afghanistan“

Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Ausführungen zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide:

3.1. Gemäß § 3 Abs. 1 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg.cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl 55/1955 (Genfer Flüchtlingskonvention, in der Folge: GFK) droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der RL 2004/83/EG des Rates verweist).

Im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder in Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; 15.03.2001, 99/20/0128; 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Auch wenn in einem Staat allgemein schlechte Verhältnisse bzw. sogar bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen sollten, so liegt in diesem Umstand für sich alleine noch keine Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK. Um asylrelevante Verfolgung erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten hinausgeht (vgl. VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

3.2. Zur Beurteilung, ob die Verfolgungsgründe als glaubhaft gemacht anzusehen sind, ist auf die persönliche Glaubwürdigkeit der Erstbeschwerdeführerin und das Vorbringen zu den Fluchtgründen abzustellen. Die „Glaubhaftmachung" wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung setzt positiv getroffene Feststellungen der Behörde und somit die Glaubwürdigkeit des diesen Feststellungen zugrundeliegenden Vorbringens des Asylwerbers voraus (vgl. VwGH 11.06.1997, 95/01/0627).

„Glaubhaftmachung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK ist die Beurteilung des Vorgetragenen daraufhin, inwieweit einer vernunftbegabten Person nach objektiven Kriterien unter den geschilderten Umständen wohlbegründete Furcht vor Verfolgung zuzugestehen ist oder nicht. Erachtet die Behörde im Rahmen der Beweiswürdigung die Angaben des Asylwerbers grundsätzlich als unwahr, können die von ihm behaupteten Fluchtgründe gar nicht als Feststellung der rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden. Zudem ist auch deren Eignung zur Glaubhaftmachung wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung gar nicht näher zu beurteilen (vgl. VwGH 09.05.1996, 95/20/0380). Eine Falschangabe zu einem für die Entscheidung nicht unmittelbar relevanten Thema (vgl. VwGH 30.09.2004, 2001/20/0006, betreffend Abstreiten eines früheren Einreiseversuchs) bzw. Widersprüche in nicht maßgeblichen Detailaspekten (vgl. VwGH 28.05.2009, 2007/19/1248; 23.01.1997, 95/20/0303) reichen für sich alleine nicht aus, um daraus nach Art einer Beweisregel über die Beurteilung der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers die Tatsachenwidrigkeit aller Angaben über die aktuellen Fluchtgründe abzuleiten (vgl. VwGH 26.11.2003, 2001/20/0457).

3.5. Wie bereits im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt (vgl. oben, Punkt 2.2.), ist es der Erstbeschwerdeführerin hinsichtlich ihrer erstatteten Vorbringen zur Verfolgungsgefahr bzw. zur Verfolgung aufgrund eines gelebten „westlich“ orientierten Lebensstils nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete Verfolgung maßgeblicher Intensität, die ihre Ursache in einem der GFK genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen. Zudem konnte entgegen dem Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin nicht festgestellt werden, dass diese nach einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan Verfolgungshandlungen bzw. Bedrohungssituationen ausgesetzt wäre.

Für die Zweitbeschwerdeführerin wurden keine eigenen Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen geltend gemacht.

Da eine aktuelle oder zum Fluchtzeitpunkt bestehende asylrelevante Verfolgung auch sonst im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht hervorgekommen, notorisch oder amtsbekannt ist, ist in der Folge davon auszugehen, dass eine asylrelevante Verfolgung nicht existiert.

3.6. Zur erstatteten Stellungnahme der Erstbeschwerdeführerin durch ihre Rechtsvertreterin am 04.08.2021 ist festzuhalten, dass einer allfälligen Gefährdung der Beschwerdeführerin durch die derzeitige Sicherheitslage in Afghanistan im konkreten Fall mit der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten durch die belangte Behörde hinreichend Rechnung getragen wurde.

3.7 Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide waren daher als unbegründet abzuweisen.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die unter A) zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

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