VwGH Ro 2021/22/0003

VwGHRo 2021/22/000318.6.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des S H, vertreten durch Mag. Stefan Errath, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Untere Viaduktgasse 6/6, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 13. August 2020, Zl. VGW‑151/060/530/2020‑24, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §56
EURallg
NAG 2005 §2 Abs1 Z10 idF 2018/I/056
NAG 2005 §20 Abs2
NAG 2005 §24 Abs1
NAG 2005 §46 Abs1
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 litb
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwRallg
32003L0086 Familienzusammenführung-RL Art15
62017CJ0557 Y.Z. u.a. VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RO2021220003.J00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, stellte am 13. Juni 2019 bei der österreichischen Vertretungsbehörde in Belgrad einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“. Dabei stützte er sich auf seine Ehe mit einer in Österreich aufgrund eines solchen Aufenthaltstitels aufhältigen serbischen Staatsangehörigen.

2 Mit Bescheid vom 25. November 2019 wies der Landeshauptmann von Wien diesen Antrag gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 in Verbindung mit § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG ab, weil der Aufenthalt des Revisionswerbers zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könne.

3 Das Verwaltungsgericht Wien wies die dagegen erhobene Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis ab und bestätigte den Bescheid vom 25. November 2019 mit der Maßgabe, dass im Spruch anstelle des § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG die Bestimmungen des § 20 Abs. 2 in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG als Rechtsgrundlagen anzuführen seien. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Verwaltungsgericht für zulässig.

4 Das Verwaltungsgericht Wien stellte fest, dass der Revisionswerber seit dem 26. Dezember 2018 mit einer serbischen Staatsangehörigen verheiratet sei. Diese verfüge über einen Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ mit Gültigkeit bis 21. Juni 2020 und habe im Mai 2020 einen Antrag auf Verlängerung ihres Aufenthaltstitels gestellt.

5 Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht daraus, dass die Ehegattin des Revisionswerbers zwar aufgrund ihres rechtzeitigen Verlängerungsantrages rechtmäßig in Österreich aufhältig sei. Sie verfüge allerdings über keinen aktuell gültigen Aufenthaltstitel. § 20 Abs. 2 NAG treffe bezüglich der Geltungsdauer eines verlängerten Aufenthaltstitels eine Regelung, die danach differenziere, ob seit dem Ende der Gültigkeitsdauer des zu verlängernden Aufenthaltstitels mehr als sechs Monate verstrichen seien oder nicht. Damit im Zusammenhang stehe auch das Feststellungsverfahren gemäß § 20 Abs. 2 letzter Satz NAG. Gegenständlich sei in Ermangelung eines aufrechten Aufenthaltstitels der Zusammenführenden die besondere Erteilungsvoraussetzung nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG nicht erfüllt.

6 Das Vorliegen einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG begründete das Verwaltungsgericht dahin, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Konsequenzen des Verlängerungsverfahrens für die Erteilung eines abgeleiteten Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung nach § 46 Abs. 1 Z 2 NAG fehle.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.

8 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

9 Die Revision verweist in ihrer Zulässigkeitsbegründung auf die im angefochtenen Erkenntnis angeführte Begründung für die Zulassung der Revision. Sie tritt der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts entgegen und führt dazu aus, es sei hinsichtlich der Frage, ob die Voraussetzungen nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG vorlägen, eine Prognosebeurteilung dahin vorzunehmen, ob dem Verlängerungsantrag der zusammenführenden Ehegattin zu entsprechen sein werde.

10 Im Hinblick auf die zuerst angeführte Frage erweist sich die Revision als zulässig.

11 Gemäß § 2 Abs. 1 Z 10 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 56/2018, ist Zusammenführender im Sinne des NAG ein Drittstaatsangehöriger, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält oder von dem ein Recht im Sinne dieses Bundesgesetzes abgeleitet wird.

12 §§ 20, 24 und 46 NAG (§§ 20 und 46 idF BGBl. I Nr. 56/2018; § 24 idF BGBl. I Nr. 145/2017) lauten auszugsweise:

„Gültigkeitsdauer von Aufenthaltstiteln

§ 20. (1) Befristete Aufenthaltstitel sind für die Dauer von zwölf Monaten oder für die in diesem Bundesgesetz bestimmte längere Dauer auszustellen, es sei denn, es wurde jeweils eine kürzere Dauer des Aufenthaltstitels beantragt oder das Reisedokument weist nicht die entsprechende Gültigkeitsdauer auf.

...

(2) Die Gültigkeitsdauer eines Aufenthaltstitels beginnt mit dem Ausstellungsdatum, die Gültigkeitsdauer eines verlängerten Aufenthaltstitels mit dem auf den letzten Tag des letzten Aufenthaltstitels folgenden Tag, wenn seither nicht mehr als sechs Monate vergangen sind. Der rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet im Zeitraum zwischen Ablauf des letzten Aufenthaltstitels und Beginn der Gültigkeitsdauer des verlängerten Aufenthaltstitels ist gleichzeitig mit dessen Erteilung von Amts wegen gebührenfrei mit Bescheid festzustellen.

...

Verlängerungsverfahren

§ 24. (1) Verlängerungsanträge (§ 2 Abs. 1 Z 11) sind vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels, frühestens jedoch drei Monate vor diesem Zeitpunkt, bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen; § 23 gilt. Danach gelten Anträge als Erstanträge. Nach Stellung eines Verlängerungsantrages ist der Antragsteller, unbeschadet der Bestimmungen nach dem FPG, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Über die rechtzeitige Antragstellung kann dem Fremden auf begründeten Antrag eine einmalige Bestätigung im Reisedokument angebracht werden, die keine längere Gültigkeitsdauer als drei Monate aufweisen darf. Diese Bestätigung berechtigt zur visumfreien Einreise in das Bundesgebiet. Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, Form und Inhalt der Bestätigung durch Verordnung zu regeln.

...

(3) Fremden ist im Rahmen eines Verlängerungsverfahrens ein Aufenthaltstitel mit dem gleichen Aufenthaltszweck zu erteilen, wenn die Voraussetzungen für diesen weiterhin vorliegen.

...

Bestimmungen über die Familienzusammenführung

§ 46. (1) Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen ist ein Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen, und

...

2. ein Quotenplatz vorhanden ist und der Zusammenführende

...

b) einen Aufenthaltstitel ‚Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus‘, ausgenommen einen solchen gemäß § 41a Abs. 1, 4 oder 7a innehat,

...“

13 Das Verwaltungsgericht Wien stützte die Abweisung des vorliegenden Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ zum Zweck der Familienzusammenführung gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG ausschließlich darauf, dass die Gültigkeitsdauer des der Ehegattin des Revisionswerbers erteilten Aufenthaltstitels zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts bereits abgelaufen gewesen sei und sich die Ehegattin lediglich aufgrund eines rechtzeitig gestellten Verlängerungsantrages rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts erweist sich als verfehlt:

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung voraussetzt, dass der Zusammenführende über ein in § 46 Abs. 1 NAG näher konkretisiertes Aufenthaltsrecht verfügt (VwGH 10.12.2019, Ra 2019/22/0204). Ferner ist im Fall eines rechtzeitigen Verlängerungsantrags einem Fremden (so auch dem Zusammenführenden im Sinn von § 46 Abs. 1 NAG) bis zur Entscheidung über seinen Verlängerungsantrag dieselbe Rechtsposition eingeräumt, die er nach dem Inhalt des letzten Aufenthaltstitels innehatte (VwGH 10.10.2012, 2009/18/0513). Das durch die rechtswirksame Erteilung eines Aufenthaltstitels erlangte Niederlassungsrecht ist somit während des Verfahrens über den Verlängerungsantrag perpetuiert (vgl. VwGH 19.4.2012, 2010/21/0287).

15 Der Ehegattin des Revisionswerbers ist im Hinblick auf die in Rede stehende, bis 21. Juni 2020 gültige (nach der Aktenlage bereits seit dem Jahr 2015 mehrfach und zuletzt für die Dauer von drei Jahren verlängerte) „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ der in § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG genannte Aufenthaltstitel erteilt worden. Sie hielt sich zudem zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wien infolge ihres rechtzeitigen Verlängerungsantrages rechtmäßig im Bundesgebiet auf (siehe § 24 Abs. 1 NAG sowie die soeben dargestellte hg. Rechtsprechung).

16 Auch aus der Richtlinie 2003/86/EG , deren Umsetzung § 46 NAG dient, sowie der Definition des Begriffs des Zusammenführenden in § 2 Abs. 1 Z 10 NAG, der ebenso wie Art. 2 lit. c und d der Richtlinie 2003/86/EG auf den rechtmäßigen Aufenthalt des Zusammenführenden abstellt, ergeben sich keine Anhaltspunkte, die gegen diese Auslegung sprächen.

17 Es handelt sich bei dem Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen, solange dieser keinen eigenen Aufenthaltstitel auf der Grundlage von Art. 15 der Richtlinie 2003/86/EG erlangt hat, um ein vom Aufenthaltsrecht des Zusammenführenden abgeleitetes Recht (Gerichtshof der Europäischen Union [EuGH] 14.3.2019, Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie gegen Y.Z. u.a., C‑557/17, Rn 47).

18 Dafür, dass in der vorliegenden Konstellation ‑ wie in der Revision dargelegt ‑ eine in die Zukunft gerichtete Prognosebeurteilung dahin zu erfolgen hätte, ob der zusammenführenden Bezugsperson im Verlängerungsverfahren ein weiterer Aufenthaltstitel zu erteilen sein wird oder ob die dazu erforderlichen Voraussetzungen vorliegen werden, bietet das NAG keine Rechtsgrundlage (die Zulässigkeit einer Prognosebeurteilung betreffend den Aufenthaltsstatus des Zusammenführenden verneinend VwGH 10.12.2019, Ra 2019/22/0204; 17.10.2016, Ra 2016/22/0090; 11.2.2016, Ra 2015/22/0154; jeweils bezogen auf Ausgangsverfahren, in denen dem Zusammenführenden ein Titel nach § 46 Abs. 1 NAG noch nicht erteilt worden war und dieser auch über kein entsprechendes Aufenthaltsrecht verfügte). Die Titelerteilung nach § 46 Abs. 1 Z 2 lit. b NAG setzt voraus, dass der Zusammenführende im Entscheidungszeitpunkt das in dieser Bestimmung genannte Aufenthaltsrecht innehat. Anders als bei einem Erstantrag verfügt der Zusammenführende vor der Entscheidung über seinen Antrag auf Verlängerung auch bereits vor der konstitutiven und rechtsgestaltenden Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels über ein entsprechendes Aufenthaltsrecht.

19 § 20 Abs. 2 NAG, den das Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Rechtsauffassung ins Treffen führte, steht dem vorliegend erzielten Auslegungsergebnis jedenfalls nicht entgegen. Die dort vorgesehenen Regelungen belegen in Verbindung mit § 24 Abs. 1 NAG vielmehr, dass der Aufenthalt eines Fremden, dem im Verlängerungsverfahren ein Aufenthaltstitel erteilt wird, im Zeitraum zwischen Ablauf der Gültigkeitsdauer des zu verlängernden (letzten) Aufenthaltstitels und der Erteilung des verlängerten Aufenthaltstitels unabhängig vom Zeitpunkt der Entscheidung über die Verlängerung jedenfalls rechtmäßig ist. So ist auch gemäß § 20 Abs. 2 letzter Satz NAG die Rechtmäßigkeit eines solchen Aufenthalts für den Fall, dass die formale Gültigkeitsdauer des verlängerten Aufenthaltstitels (wegen eines zu überbrückenden Zeitraums von mehr als sechs Monaten) nicht unmittelbar an jene des zuletzt erteilten Titels anschließt, von Amts wegen gebührenfrei mit Bescheid festzustellen (dazu VwGH 22.2.2018, Ra 2017/22/0156, sowie erneut die eingangs zitierte hg. Rechtsprechung).

20 Gerade § 20 Abs. 2 NAG zeugt somit vom Bestreben des Gesetzgebers, Nachteile für den Fremden, die ihm aus der Dauer des Verlängerungsverfahrens erwachsen können, zu vermeiden. Dass Unwegsamkeiten, die sich angesichts der Abfolge der Gültigkeitsdauer des zuletzt erteilten sowie des im Verlängerungsverfahren zu erteilenden Titels ergeben könnten, hintangehalten werden sollten, manifestiert sich insbesondere in § 20 Abs. 2 erster Satz letzter Halbsatz NAG („wenn seither nicht mehr als sechs Monate vergangen sind“) und ist auch durch die diesbezüglichen Materialien dokumentiert (vgl. RV 88 BlgNR 24. GP , 9, wonach in Fällen, in denen die Erteilung des verlängerten Aufenthaltstitels mehr als sechs Monate nach Ablauf des letzten Aufenthaltstitels erfolge, die bisherige Regelung im Hinblick auf die verbleibende Restgültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels, insbesondere unter Bedachtnahme auf die Entscheidungspflicht der Behörde gemäß § 73 Abs.1 AVG, als nicht sachlich gerechtfertigt erscheine).

21 Da das Verwaltungsgericht aus den dargelegten Erwägungen die Rechtslage verkannte, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

22 Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. Juni 2021

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