VwGH Ra 2022/01/0314

VwGHRa 2022/01/031410.5.2023

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision der R N G in K, vertreten durch Dr. Paul Delazer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maximilianstraße 2/1, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 25. August 2022, Zl. LVwG‑2021/17/0824‑1, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Tiroler Landesregierung), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §68 Abs1
MRK Art8
StaatsangehörigkeitÜbk Eur Art15 litb
StbG 1965 §34
StbG 1965 §34 Abs3
StbG 1985 §34
StbG 1985 §34 Abs1
StbG 1985 §34 Abs2
StbG 1985 §34 Abs3
StbG 1985 §35
Übk Staatenlosigkeit - Verminderung Art7 Abs2
Verwaltungsgerichtsbarkeits-AnpG Inneres 2013
Verwaltungsgerichtsbarkeits-Nov 2012
VwRallg
12010E020 AEUV Art20
62008CJ0135 Janko Rottman VORAB
62020CJ0118 Wiener Landesregierung VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022010314.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Tirol hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerberin wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 31. Juli 2014 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Die Verleihung wurde (mangels Angabe eines anderen Zeitpunkts im Bescheid) mit Erlassung dieses Bescheides ‑ durch Aushändigung an die Revisionswerberin ‑ am 4. Juli 2016 rechtswirksam.

2 Mit Bescheid der belangten Behörde vom 25. November 2020 wurde der Revisionswerberin die ihr mit Bescheid vom 31. Juli 2014 verliehene österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 34 Abs. 1 iVm § 10 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) entzogen; dieser Bescheid wurde der Revisionswerberin nach der Aktenlage (vgl. dazu insbesondere das in den Verfahrensakten erliegende Schreiben der belangten Behörde vom 18. Februar 2021) am 23. Februar 2021 zugestellt.

3 Die dagegen von der Revisionswerberin erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Tirol (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 25. August 2022, zugestellt am 2. September 2022, als unbegründet ab (1.); die ordentliche Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für unzulässig erklärt (2.).

4 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin habe trotz Aufforderung durch die belangte Behörde und Belehrung über die beabsichtigte Entziehung der österreichischen Staatsbürgerschaft den Nachweis gemäß § 34 Abs. 1 StbG über ihre Entlassung aus der kenianischen Staatsbürgerschaft nicht erbracht. Es sei ihr die österreichische Staatsbürgerschaft zu entziehen gewesen, weil sie die kenianische Staatsbürgerschaft aus Gründen, die sie selbst zu vertreten habe, beibehalten habe.

5 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die belangte Behörde keine Revisionsbeantwortung erstattete ‑ erwogen:

6 Die Revision bringt zur Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht sei von näher bezeichneter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es die unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht vorgenommen und nicht mündlich verhandelt habe. Darüber hinaus fehle Rechtsprechung zur Frage, ob § 34 Abs. 3 StbG dahin zu verstehen sei, dass eine Entziehung der Staatsbürgerschaft innerhalb der dort vorgesehenen sechs Jahre „bewerkstelligt“ werden dürfe, oder ob das Entziehungsverfahren innerhalb dieser sechs Jahre nur eingeleitet werden müsse.

7 Die Revision ist aus diesen Gründen zulässig; sie ist auch berechtigt.

I.Entziehung der Staatsbürgerschaft nach § 34 Abs. 3 StbG

8 Die maßgeblichen Bestimmungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985, BGBl. Nr. 311 (WV) idF BGBl. I Nr. 104/2014 (StbG), lauten (auszugsweise):

Verleihung

§ 10. (1) ...

...

(3) Einem Fremden, der eine fremde Staatsangehörigkeit besitzt, darf die Staatsbürgerschaft nicht verliehen werden, wenn er

1. die für das Ausscheiden aus seinem bisherigen Staatsverband erforderlichen Handlungen unterläßt, obwohl ihm diese möglich und zumutbar sind oder

2. auf Grund seines Antrages oder auf andere Weise absichtlich die Beibehaltung seiner bisherigen Staatsangehörigkeit erwirkt.

...

§ 23. (1) Der Bescheid über die Verleihung der Staatsbürgerschaft (Erstreckung der Verleihung) ist schriftlich zu erlassen.

(2) Die Staatsbürgerschaft wird mit dem im Bescheid angegebenen Zeitpunkt erworben. ...

(3) Hat der Fremde, dem die Staatsbürgerschaft verliehen werden soll, das Gelöbnis mündlich abgelegt, so ist ihm der Bescheid im Anschluss daran auszuhändigen. Sonst ist der Bescheid derjenigen Person zuzustellen, die den Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft gestellt hat.

...

Entziehung

§ 33. ...

§ 34. (1) Einem Staatsbürger ist die Staatsbürgerschaft ferner zu entziehen, wenn

1. er sie vor mehr als zwei Jahren durch Verleihung oder durch die Erstreckung der Verleihung nach diesem Bundesgesetz erworben hat,

2. hiebei weder § 10 Abs. 6 noch die §§ 16 Abs. 2 oder 17 Abs. 4 angewendet worden sind,

3. er trotz des Erwerbes der Staatsbürgerschaft seither aus Gründen, die er zu vertreten hat, eine fremde Staatsangehörigkeit beibehalten hat.

...

(2) Der betroffene Staatsbürger ist mindestens sechs Monate vor der beabsichtigten Entziehung der Staatsbürgerschaft über die Bestimmung des Abs. 1 zu belehren.

(3) Die Entziehung ist nach Ablauf der im Abs. 1 Z 1 genannten Frist ohne unnötigen Aufschub schriftlich zu verfügen. Nach Ablauf von sechs Jahren nach der Verleihung (Erstreckung der Verleihung) ist die Entziehung nicht mehr zulässig.

§ 35. Die Entziehung der Staatsbürgerschaft (§§ 32 bis 34) oder die Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG hat von Amts wegen oder auf Antrag des Bundesministers für Inneres zu erfolgen. Der Bundesminister für Inneres hat in dem auf seinen Antrag einzuleitenden Verfahren Parteistellung.

§ 36. Hält sich derjenige, dem die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll, im Ausland auf und wurde eine Zustellung an ihn bereits erfolglos versucht, so ist § 11 AVG, BGBl. Nr. 51/1999, auch dann anzuwenden, wenn sein Aufenthalt bekannt ist.“

9 Gemäß § 34 Abs. 3 letzter Satz StbG ist die „Entziehung“ der Staatsbürgerschaft nach Ablauf von sechs Jahren nach der Verleihung bzw. Erstreckung der Verleihung nicht mehr zulässig.

10 Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass die „Entziehung“ der Staatsbürgerschaft längstens innerhalb von sechs Jahren ab der Verleihung bzw. Erstreckung der Verleihung erfolgen darf, wobei es sich bei der Sechsjahresfrist um eine materiell‑rechtliche, nicht erstreckbare Frist handelt (vgl. so zur zweijährigen Frist des § 20 Abs. 1 StbG VwGH 26.2.2021, Ro 2021/01/0009).

11 Durch die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes noch nicht geklärt und sohin fraglich ist, ob das Gesetz mit dem Begriff „Entziehung“ auf die ‑ innerhalb dieser Frist zu erfolgende ‑ Einleitung des Entziehungsverfahrens, die Erlassung des Entziehungsbescheides durch die Landesregierung oder die rechtswirksame bzw. rechtskräftige Entziehung durch das Verwaltungsgericht (im Beschwerdeverfahren) abstellt.

12 Diese Fragen sind bezogen auf den vorliegenden Revisionsfall, dem ein von Amts wegen durchgeführtes Entziehungsverfahren im Sinne des § 34 iVm § 35 erste Variante StbG zu Grunde liegt, zu klären.

13 Bei der Interpretation einer Gesetzesnorm ist auf den Wortsinn und insbesondere auch den Zweck der Regelung, auf den Zusammenhang mit anderen Normen sowie die Absicht des Gesetzgebers abzustellen. Erläuterungen zur Regierungsvorlage können im Rahmen der Interpretation des Gesetzes einen Hinweis auf das Verständnis des Gesetzes bieten (vgl. etwa VwGH 1.6.2021, Ra 2020/10/0095, mwN). Dabei bewirkt die Bindung der Verwaltung nach Art. 18 B‑VG einen Vorrang des Gesetzeswortlautes, wobei § 6 ABGB auf die Bedeutung des Wortlauts in seinem Zusammenhang verweist (vgl. etwa VwGH 31.5.2021, Ra 2019/01/0138, mwN).

14 Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat bereits festgehalten, dass spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen zur Auslegung der Sechsjahresfrist gemäß § 34 Abs. 3 StbG nicht anzustellen sind (vgl. den Ablehnungsbeschluss VfGH 26.6.2020, E 1683/2020‑5).

15 Die Bestimmungen der §§ 33 (Abs. 1) bis 36 wurden aus dem Staatsbürgerschaftsgesetz 1965, BGBl. Nr. 250 (StbG 1965), im Wege der Wiederverlautbarung (mit BGBl. Nr. 311/1985) in das StbG übernommen; die Regelungen des § 34 Abs. 2 und Abs. 3 leg. cit. gehören nach wie vor unverändert dem Rechtsbestand an.

16 Die Materialien zum StbG 1965 (ErläutRV 497 BlgNR 10. GP  33) führen (auszugsweise) aus:

Zu Artikel 34:

Diese Bestimmung stellt eine notwendige Ergänzung zu § 11 Abs. 2 dar und will gleichfalls die Fälle mehrfacher Staatsbürgerschaften bekämpfen. ...

...

Zu § 36:

Die Entziehung der Staatsbürgerschaft ist mit Bescheid zu verfügen. Die Zustellung des Bescheides kann aber im Auslande auf Schwierigkeiten stoßen, ...“

17 Zunächst steht der Annahme, dass die sechsjährige Frist des § 34 Abs. 3 letzter Satz StbG bereits durch die Einleitung eines Verfahrens zur Entziehung der Staatsbürgerschaft gewahrt wird, schon der Wortsinn des Begriffs „Entziehung“ entgegen, der auf das Erfordernis der Erlassung eines individuell‑konkreten hoheitlichen Aktes (am Ende eines Verfahrens) abstellt; von diesem Begriffsverständnis ging ausweislich der zitierten Materialien (arg. „Entziehung ... mit Bescheid“) auch der historische Gesetzgeber aus. Die Auffassung, dass an die Einleitung eines Entziehungsverfahrens angeknüpft wird, verbietet sich zudem mit Blick auf § 34 Abs. 2 StbG, der eine der beabsichtigten „Entziehung“ vorangehende Belehrungsverpflichtung der Behörde normiert, womit das Gesetz voraussetzt, dass das Entziehungsverfahren bereits eingeleitet ist. In diesem Sinn hat auch der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung hinsichtlich des maßgeblichen Zeitpunkts, ab dem die Staatsbürgerschaft im Sinne des § 34 StbG „entzogen“ ist, auf die Zustellung des Entziehungsbescheides verwiesen (vgl. VwGH 29.1.1997, 96/01/0900, 0906).

18 Sohin ist zu klären, ob dem Erfordernis des § 34 Abs. 3 letzter Satz StbG bereits durch die fristgerechte Erlassung des Entziehungsbescheides (durch die Landesregierung) Rechnung getragen wird oder ‑ im Falle einer dagegen erhobenen Beschwerde ‑ (auch) die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts (noch) vor Ablauf dieser Frist zu ergehen hat.

19 Zum Zeitpunkt der Entstehung des § 34 StbG war die Landesregierung (in erster und einziger Instanz) zur Entziehung der Staatsbürgerschaft zuständig; aus der Terminologie des § 34 Abs. 3 erster Satz StbG (arg. „schriftlich zu verfügen“) sowie vor dem Hintergrund der zitierten Materialien („Die Entziehung ... ist mit Bescheid zu verfügen.“) ergibt sich, dass der Gesetzgeber die „Entziehung“ durch Erlassung eines schriftlichen Bescheides angeordnet und der Landesregierung hiefür im zweiten Satz eine maximale Frist von sechs Jahren ab Verleihung der Staatsbürgerschaft eingeräumt hat; mit Erlassung erwuchs der Bescheid in Rechtskraft und wurde die Entziehung der Staatsbürgerschaft ‑ ausgenommen den Fall, dass einer dagegen erhobenen Bescheidbeschwerde vom Verwaltungsgerichtshof oder Verfassungsgerichtshof die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde ‑ rechtswirksam.

20 Diese Regelung wurde in das StbG übernommen.

21 Durch die Einführung der mehrstufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit (mit Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits‑Novelle 2012 am 1. Jänner 2014) hat sich die Rechtslage in Bezug auf eine gemäß § 34 StbG verfügte Entziehung der Staatsbürgerschaft insofern geändert, als der Entziehungsbescheid mit Beschwerde beim örtlich zuständigen Verwaltungsgericht bekämpfbar ist und sohin mit der Erlassung des Bescheidesin diesem Fall weder die Rechtskraft noch die Rechtswirksamkeit der Entziehung einhergeht.

22 Der Gesetzgeber hat aber die mit der Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz bewirkte Schaffung eines Instanzenzuges (auch) in Angelegenheiten der Staatsbürgerschaft nicht zum Anlass genommen, die Regelung des § 34 Abs. 3 StbG zu ändern bzw. klarzustellen, dass nunmehr mit dem dort enthaltenen Begriff „Entziehung“ auf die Erlassung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Beschwerdeverfahren ‑ konkret: auf die Erlassung eines die Beschwerde gegen den Entziehungsbescheid abweisenden Erkenntnisses ‑ abzustellen wäre. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gesetzgeber generell das StbG im Verwaltungsgerichtsbarkeits‑Anpassungsgesetz‑Inneres, BGBl. I Nr. 161/2013, nicht erfasst hat, obwohl dieses Gesetz die „Anpassung jener Bundesgesetze an die Verwaltungserichtsbarkeits‑Novelle 2012, deren Regelungsinhalte gemäß dem Bundesministeriengesetz 1986 ... dem Wirkungsbereich des Bundesministeriums für Inneres zur Besorgung zugewiesen sind“ zum Inhalt hat (vgl. ErläutRV 2211 BlgNR 24. GP  1).

23 Dem Gesetzgeber kann demnach in einer historischen Auslegung nicht unterstellt werden, er habe den ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Begriffes „Entziehung“ ‑ im Sinne des Erfordernisses der Erlassung eines Bescheides durch die Landesregierung innerhalb der sechsjährigen Frist ‑ geändert, zumal gegen diese Annahme auch eine Auslegung des Begriffs „Entziehung“ im Hinblick auf den Regelungszusammenhang des § 34 Abs. 2 und 3 StbG spricht:

24 Die in § 34 Abs. 3 letzter Satz geregelte „Entziehung“ (nach längstens sechs Jahren) knüpft inhaltlich‑systematisch an die Regelungen des § 34 Abs. 2 und § 34 Abs. 3 erster Satz StbG an, in denen im Zusammenhang mit der (beabsichtigten) „Entziehung“ jeweils ein behördliches ‑ und sohin im erstinstanzlichen Verfahren der Landesregierung zurechenbares ‑ Tätigwerden („Belehrung“ bzw. schriftliche „Verfügung“) vorgesehen ist. Davon ausgehend scheint es naheliegend bzw. ‑ mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ‑ geboten, die in der Bestimmung des § 34 Abs. 3 letzter Satz geregelte „Entziehung“ ebenfalls als Akt der Landesregierung ‑ nämlich als Erlassung des Entziehungsbescheides ‑ zu verstehen; die Bestimmung regelt ‑ unter Beachtung der Gesetzessystematik ‑ solcherart den letztmöglichen Zeitpunkt, zu dem die Landesregierung das von ihr initiierte Verfahren zur Entziehung der Staatsbürgerschaft finalisieren kann.

25 Letztlich spricht für dieses Begriffsverständnis auch eine teleologische Interpretation:

26 Ausweislich der zitierten Materialien zum StbG 1965 wollte der Gesetzgeber mit der Bestimmung des § 34 StbG „die Fälle mehrfacher Staatsbürgerschaften bekämpfen.“

27 Dieser Gesetzeszweck ist Ausdruck der dem österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht zu Grunde liegenden Ordnungsvorstellung, mehrfache Staatsangehörigkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden (vgl. aus jüngerer Zeit etwa VwGH 8.10.2020, Ra 2020/01/0354; 1.12.2021, Ra 2021/01/0303; 31.1.2022, Ra 2021/01/0322; vgl. dazu auch Kleiser, Mehrfache Staatsangehörigkeiten, ÖJZ 2/2023, 80). Diese Ordnungsvorstellung begegnet weder verfassungsrechtlichen noch unionsrechtlichen noch (sonstigen) europa‑ bzw. völkerrechtlichen Bedenken (vgl. VwGH 18.3.2022, Ra 2022/01/0063, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung von VfGH und EuGH).

28 Der Erreichung dieses Ziels dienen wesentlich jene Vorschriften, die für den Regelfall eine Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit knüpfen. Nach § 34 StbG ist einem Einbürgerungswerber allenfalls nach Verleihung die Staatsbürgerschaft zu entziehen, wenn nach dieser Verleihung ein Ausscheiden aus dem bisherigen Staatsverband möglich und zumutbar wäre, er von dieser Möglichkeit aber nicht Gebrauch macht (vgl. etwa VwGH 3.5.2000, 99/01/0414; zur Heranziehung des § 10 Abs. 3 StbG bei der Auslegung der Bestimmung des § 34 Abs. 1 leg. cit. vgl. etwa VwGH 24.6.2010, 2008/01/0779). Dass der Verlust der fremden Staatsangehörigkeit für den Verleihungswerber nachteilige Folgen haben kann und daher für ihn allenfalls abträglich ist, wird vom Gesetzgeber, der das Entstehen (Bestehen) mehrfacher Staatsangehörigkeiten vermeiden will, in Kauf genommen und muss auch von demjenigen, der österreichischer Staatsbürger werden (bleiben) will, in Kauf genommen werden (vgl. VwGH 24.1.2013, 2010/01/0032, mit Hinweis auf VwGH 6.9.1995, 95/01/0038, sowie Thienel, Österreichische Staatsbürgerschaft II [1990] 192 f; vgl. jüngst auf VwGH 2010/01/0032 verweisend auch VfGH 14.3.2023, E 1838/2022).

29 Vor diesem Hintergrund ist eine Auslegung des § 34 Abs. 3 letzter Satz StbG zu vermeiden, welche die der Landesregierung vom Gesetzgeber vorgegebene Entscheidungsfrist (faktisch) verkürzen und damit die Gefahr des (Weiter‑)Bestehens vom Gesetz verpönter mehrfacher Staatsangehörigkeiten erhöhen würde; dies wäre aber der Fall, wenn auch die Verfahrensdauer eines Beschwerdeverfahrens vor dem Verwaltungsgericht in die Sechsjahresfrist einzurechnen wäre.

Ergebnis:

30 Das Erfordernis des § 34 Abs. 3 letzter Satz StbG ist sohin erfüllt, wenn - im amtswegig (§ 35 erste Variante StbG) durchgeführten Entziehungsverfahren - der Entziehungsbescheid der Landesregierung vor Ablauf der dort normierten sechsjährigen Frist erlassen wird (so im Ergebnis offenbar auch Peyrl in Ecker/Kind/Kvasina/Peyrl, StbG 1985 [2017] Rz 6 zu § 34: „Der Bescheid mit dem die Entziehung ausgesprochen wird, ist schriftlich und ohne unnötigen Aufschub zu erlassen. Eine bestimmte Frist [abgesehen von der absoluten Unmöglichkeit der Entziehung aus diesem Grund nach sechs Jahren] findet sich in der Bestimmung nicht“). Auf den Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (infolge einer dagegen erhobenen Beschwerde) kommt es in dieser Konstellation nicht an.

31 Im vorliegenden Fall wurde der Revisionswerberin die Staatsbürgerschaft mit Wirksamkeit vom 4. Juli 2016, dem Zeitpunkt der Erlassung des Verleihungsbescheides, verliehen. Die Frist für die mögliche „Entziehung“ der Staatsbürgerschaft endete daher am 4. Juli 2022. Diese Frist wurde (durch Zustellung des Entziehungsbescheides am 23. Feburar 2021) gewahrt; dass das angefochtene, die Beschwerde der Revisionswerberin gegen den Entziehungsbescheid abweisende, Erkenntnis des Verwaltungsgerichts erst nach Ablauf dieser Frist erlassen wurde, schadet nicht.

II.Unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung

32 Die Revision bestreitet weder, dass die Revisionswerberin entsprechend der Bestimmung des § 34 Abs. 2 StbG belehrt wurde, noch, dass sie im Sinne des § 34 Abs. 1 Z 3 StbG die kenianische Staatsangehörigkeit aus von ihr zu vertretenden Gründen beibehalten hat (vgl. zu den in dieser Bestimmung normierten Entziehungsvoraussetzungen abermals VwGH 2008/01/0779, mwN).

33 Dessen ungeachtet erweist sich das angefochtene Erkenntnis als rechtswidrig:

34 Der Verwaltungsgerichtshof geht ‑ dem EuGH folgend ‑ in Fällen, in denen die Verleihung der Staatsbürgerschaft erschlichen wurde, von der Erwägung aus, dass die Rücknahme der Staatsbürgerschaft nach Maßgabe des § 69 Abs. 1 Z 1 (iVm Abs. 3) AVG grundsätzlich zulässig ist. Die Staatsbürgerschaftsbehörde hat in derartigen Fällen jedoch zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist; bei dieser Prüfung ist der Behörde ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, wobei es Sache des Verleihungswerbers ist, konkret darzulegen, dass die Behörde diesen Beurteilungsspielraum überschritten hat (vgl. etwa VwGH 30.9.2019, Ra 2019/01/0281, und 19.5.2021, Ra 2019/01/0343, jeweils mwH, unter anderem auf EuGH 2.3.2010, C‑135/08, Rottmann, und EuGH 12.3.2019, C‑221/17, Tjebbes u.a.; vgl. weiters VwGH 23.4.2020, Ro 2020/01/0004; 20.7.2022, Ra 2022/01/0170, sowie jüngst VwGH 21.2.2023, Ra 2022/01/0128, und VwGH 15.3.2023, Ra 2023/01/0057, mwH, auch auf EuGH 18.1.2022, C‑118/20, JY).

35 Auch im Zusammenhang mit einer Entziehung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 34 Abs. 1 StbG hat der Verwaltungsgerichtshof bereits festgehalten, dass zu prüfen ist, ob nach der angeführten Rechtsprechung des EuGH im Urteil „Rottmann“ fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Entziehung der Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. VwGH 16.8.2016, Ra 2016/01/0146, mit Hinweis auf VwGH 26.1.2012, 2009/01/0060).

36 Das Verwaltungsgericht, das in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses eine nähere Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. des EuGH vermissen lässt, hat nicht geprüft, ob im Sinne der angeführten Rechtsprechung fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der Staatsbürgerschaft der Revisionswerberin ausnahmsweise unverhältnismäßig ist.

37 Es hat dadurch das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

III.Mündliche Verhandlung

38 Schließlich erweist sich im Hinblick darauf, dass durch die vorliegende Entziehung der Staatsbürgerschaft (auch) die unionsrechtlich geschützte Sphäre der Revisionswerberin berührt wird, die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass Art. 47 GRC dem Entfall der mündlichen Verhandlung nicht entgegengestanden sei, als verfehlt (vgl. ebenfalls VwGH Ra 2022/01/0128, Rn. 20), zumal die Voraussetzungen, unter denen auch nach Art. 6 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 47 GRC ein Entfall der Verhandlung zulässig ist (vgl. zu diesen etwa VwGH 17.10.2019, Ra 2016/08/0010, Pkt. 4.2., oder VwGH 22.3.2022, Ra 2021/22/0239, Rn. 11 bis 13, jeweils mwN), fallbezogen nicht vorliegen.

39 Durch das Unterlassen der mündlichen Verhandlung hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis sohin mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.

IV.Ergebnis

40 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen (der prävalierenden) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

41 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 10. Mai 2023

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