VwGH Ra 2022/01/0170

VwGHRa 2022/01/017020.7.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des P A N in W, vertreten durch die RIHS Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Kramergasse 9/3/13, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 8. November 2021, Zl. VGW‑152/065/5091/2021‑22, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), den Beschluss gefasst:

Normen

StbG 1985 §10 Abs1 Z6
StbG 1985 §20 Abs2
62017CJ0221 Tjebbes VORAB
62020CJ0118 Wiener Landesregierung VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022010170.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde in der Sache das Verfahren zur Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an den Revisionswerber gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 3 AVG wiederaufgenommen und sein Antrag auf Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 und Z 6 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) abgewiesen (I.). Eine ordentliche Revision wurde für unzulässig erklärt (II.).

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, dem Revisionswerber sei mit Bescheid der belangten Behörde vom 18. November 1993 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden.

3 Gegen den Revisionswerber sei bei der Staatsanwaltschaft Wien ein Ermittlungsverfahren anhängig. Der Revisionswerber sei demnach aufgrund des Verdachts, am 28. März 1985 im Libanon an einem fünffachen Raubmord (im Zuge eines Überfalls auf ein Juweliergeschäft) beteiligt gewesen zu sein, im Libanon festgenommen und inhaftiert worden; 1987 sei ihm die Flucht aus der Untersuchungshaft gelungen.

4 Um seine wahre Identität als gesuchter Beschuldigter in einem Kapitalverbrechen zu verschleiern, sei der Revisionswerber 1988 unter Verwendung der Identität (Name und Geburtsdatum) seiner im Libanon lebenden Schwägerin bzw. Verwendung eines verfälschten libanesischen Reisedokuments nach Österreich eingereist und habe in weiterer Folge unter dieser Identität in Österreich gelebt; 2005 habe er den Vornamen „G“ angenommen. Er habe diese falsche Identität im behördlichen und rechtsgeschäftlichen Verkehr in Österreich verwendet.

5 Ebenso habe er diese falsche Identität im Verfahren zur Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft verwendet; er habe in diesem Verfahren auch die Frage nach anhängigen Strafverfahren (im Ausland) wahrheitswidrig verneint.

6 Mit Urteil des ständigen Militärgerichts Beirut vom 10. Dezember 1994 sei der Revisionswerber (unter seiner wahren Identität) wegen Raubmords und Transports von Militärwaffen zur Todesstrafe verurteilt worden, die gleichzeitig in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe mit Zwangsarbeit geändert worden sei.

7 Aufgrund einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft Wien vom 10. Dezember 2020 habe sich aus einem Abgleich von Fingerabdrücken die wahre Identität des Revisionswerbers [nämlich P A N, geboren am XX.XX.XXXX] ergeben.

8 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, es lägen sowohl die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme des Verleihungsverfahrens nach § 69 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 3 AVG als auch das Verleihungshindernis nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG vor.

9 Der Revisionswerber habe geltend gemacht, dass seine Familie im Bundesgebiet lebe; seine Ehegattin, seine Tochter und die Enkelkinder seien österreichische Staatsbürger. Er selbst lebe bzw. arbeite seit über 27 Jahren in Österreich. Der Revisionswerber könne daher unbestritten auf ein bestehendes Privat‑ und Familienleben in Österreich verweisen. Demnach sei ‑ nach den Vorgaben des EuGH in den Rechtssachen Rottmann und Tjebbes ‑ zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorlägen, die dazu führten, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig sei. Fallbezogen hebe der „jahrzehntelange gute Lebenswandel“ des Revisionswerbers in Österreich dessen Fehlverhalten vom Tag der Einreise „bis heute“ nicht auf; der Revisionswerber habe mit einer falschen Identität die österreichischen Behörden wie auch Vertragspartner und Mitmenschen getäuscht. Aufgrund seiner österreichischen Ehegattin bzw. seiner langjährigen familiären, sozialen und beruflichen Bindung kämen für ihn eine Niederlassungsbewilligung nach dem NAG bzw. ein Aufenthaltstitel in Betracht; das Privat‑ und Familienleben des Revisionswerbers mit seiner Familie in Österreich könne weiterhin aufrecht bleiben. Der Revisionswerber werde durch den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft auch nicht staatenlos, zumal er nach wie vor libanesischer Staatsbürger sei.

10 Davon ausgehend ziehe der Verlust der Unionsbürgerschaft für den Revisionswerber keine unverhältnismäßigen Nachteile nach sich. Die Wiederaufnahme des Staatsbürgerschaftsverfahrens sowie die Antragsabweisung seien daher im Lichte der Judikatur als verhältnismäßig anzusehen.

11 Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) lehnte mit Beschluss vom 1. März 2022, E 4504/2021‑12, die Behandlung der dagegen vom Revisionswerber eingebrachten Beschwerde ab. Mit weiterem Beschluss vom 21. März 2022, 4504/2021‑14, trat der VfGH die Beschwerde über nachträglichen Antrag gemäß Art. 144 Abs. 3 B‑VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

12 Sodann erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.

13 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

14 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

15 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

16 Soweit die Revision im Zulässigkeitsvorbringen zusammengefasst moniert, das Verwaltungsgericht habe bei seiner Entscheidung das Urteil des EuGH vom 18. Jänner 2022 in der Rechtssache C‑118/20, JY, nicht berücksichtigt, ist dem Folgendes zu entgegnen:

17 Nach dem Urteil des EuGH vom 18. Jänner 2022 in der Rechtssache C‑118/20, JY, ist auch in Bezug auf einen Verleihungswerber, der zwecks Erlangung der (österreichischen) Staatsbürgerschaft die Staatsangehörigkeit zu einem (anderen) Mitgliedstaat zurückgelegt und dadurch den Unionsbürgerstatus verloren hat, für den Widerruf der Zusicherung gemäß § 20 Abs. 2 StbG („JY‑Konstellation“) in einer Gesamtbetrachtung nach den Kriterien der Rechtsprechung des EuGH Tjebbes u.a. sowie (nunmehr) JY zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft bzw. der Zusicherung der Verleihung ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. zu allem bereits VwGH 10.2.2022, Ra 2021/01/0356, mwN; vgl. weiters VwGH 4.7.2022, Ro 2022/01/0007).

18 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des EuGH hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass es in dieser Konstellation für den Widerruf der Zusicherung gemäß § 20 Abs. 2 StbG besonders gewichtiger und neu hinzutretender Umstände bedarf (vgl. VwGH 25.2.2022, Ra 2018/01/0159, sowie abermals VwGH Ro 2022/01/0007).

19 Eine derartige „JY‑Konstellation“ liegt im Revisionsfall ‑ in dem es weder um den Widerruf der Zusicherung noch um einen Verleihungswerber, der durch die Zurücklegung seiner Staatsangehörigkeit den Unionsbürgerstatus verloren hat, geht ‑ nicht vor. Die genannte Rechtsprechung des EuGH ist daher im vorliegenden Revisionsfall nicht einschlägig.

20 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang weiters vorbringt, es gebe keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Frage, wie das Verleihungshindernis des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG im Lichte des Urteils des EuGH in der Rechtssache C‑118/20, JY, auszulegen sei, ist dem zu entgegnen, dass durch die erwähnte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch klargestellt ist, dass sich durch das genannte Urteil des EuGH an den Kriterien zur Prüfung des Verleihungshindernisses des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG im Staatsbürgerschaftsverleihungsverfahren nichts geändert hat (vgl. abermals VwGH Ra 2018/01/0159, Rn. 19: „... im Gegensatz zur Prüfung des Verleihungshindernisses des § 10 Abs. 1 Z 6 in einem Verfahren um Verleihung der Staatsbürgerschaft ...“; zum „strengen Maßstab“, der bei der Prüfung des Verleihungshindernisses des § 10 Abs. 1 Z 6 StbG allgemein anzulegen ist, vgl. aus jüngerer Zeit etwa VwGH 18.3.2022, Ra 2022/01/0056; 2.6.2022, Ra 2022/01/0034 und Ra 2022/01/0146, jeweils mwN).

21 In Fällen wie dem vorliegenden ist somit weiterhin die zur Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verleihungsverfahrens bzw. zur darauffolgenden Abweisung des Verleihungsansuchens ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes maßgeblich:

Zur Wiederaufnahme des Verfahrens

22 Der Verwaltungsgerichtshof geht ‑ dem EuGH folgend ‑ in Fällen, in denen die Verleihung der Staatsbürgerschaft erschlichen wurde, von der Erwägung aus, dass die Rücknahme der Staatsbürgerschaft nach Maßgabe des § 69 Abs. 1 Z 1 (iVm Abs. 3) AVG grundsätzlich zulässig ist. Die Staatsbürgerschaftsbehörde hat in derartigen Fällen jedoch zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist; bei dieser Prüfung ist der Behörde ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, wobei es Sache des Verleihungswerbers ist, konkret darzulegen, dass die Behörde diesen Beurteilungsspielraum überschritten hat (vgl. etwa VwGH 30.9.2019, Ra 2019/01/0281, und 19.5.2021, Ra 2019/01/0343, jeweils mwH, unter anderem auf EuGH 2.3.2010, C‑135/08, Rottmann, und EuGH 12.3.2019, C‑221/17, Tjebbes u.a.; vgl. weiters VwGH 23.4.2020, Ro 2020/01/0004).

23 Vorliegend ist nicht zu sehen, warum für die vom Verwaltungsgericht fallbezogen beurteilte Wiederaufnahme wegen Erschleichung nach § 69 Abs. 1 Z 1 AVG anderes gelten sollte. Der Umstand, dass der Revisionswerber im Verleihungsverfahren eine falsche Identität verwendet bzw. dazu gefälschte Dokumente vorgelegt und überdies das im Libanon gegen ihn anhängige Strafverfahren verschwiegen hat, stellt eine Erschleichung der Einbürgerung durch Täuschung dar.

24 Im Übrigen ist das Verwaltungsgericht nicht von dieser Rechtsprechung abgewichen, sondern hat eine den oben angeführten Leitlinien entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen.

Zur Abweisung des Verleihungsansuchens

25 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zum Vorliegen des Verleihungshindernisses nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG bereits ausgesprochen, dass die Bekanntgabe der wahren Identität staatsbürgerschaftsrechtlich von wesentlicher Bedeutung ist.

Mit der vorsätzlichen Verwendung einer falschen Identität (sowohl im Asylverfahren als auch) im staatsbürgerschaftsrechtlichen Verleihungsverfahren wird ein Verhalten gesetzt, in dem eine negative Einstellung gegenüber den ‑ im vorliegenden Zusammenhang ‑ zum Schutz vor Gefahren für die Sicherheit sowie die öffentliche Ruhe und Ordnung erlassenen Gesetzen zum Ausdruck kommt.

Die Verwendung einer falschen Identität im staatsbürgerschaftsrechtlichen Verleihungsverfahren stellt daher ohne Zweifel ein Verhalten dar, welches das Einbürgerungshindernis nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG verwirklicht, zumal hier noch erschwerend hinzukommt, dass der Verleihungswerber unter dieser falschen Identität jahrelang in Österreich gelebt hat (vgl. zum Ganzen VwGH 30.4.2018, Ra 2017/01/0417).

26 Das Verwaltungsgericht hat demnach im vorliegenden Revisionsfall schon infolge der vom Revisionswerber verwendeten falschen Identität zu Recht das Vorliegen des Verleihungshindernisses nach § 10 Abs. 1 Z 6 StbG angenommen.

Ergebnis

27 Ausgehend vom Gesagten hängt das Schicksal der gegenständlichen Revision vom weiteren Zulässigkeitsvorbringen, wonach „keine Rechtsprechung zur Präjudizialität der Verjährung von Straftaten nach ausländischem Recht (im vorliegenden Fall: libanesischem Recht) bzw. laufender strafrechtlicher Ermittlungsverfahren in Österreich für die Wiederaufnahme von staatsbürgerschaftsrechtlichen Verleihungsverfahren bzw. für die Versagung der Staatsbürgerschaft gem. § 10 Abs 1 Z 2 StbG“ vorliege, nicht ab.

28 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 20. Juli 2022

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