Normen
MRK Art8
StbG 1985 §27
StbG 1985 §27 Abs1
StbG 1985 §27 Abs2
StbG 1985 §28
StbG 1985 §29
VwRallg
62017CJ0221 Tjebbes VORAB
62020CJ0118 Wiener Landesregierung VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010356.L00
Spruch:
Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.
Begründung
Angefochtenes Erkenntnis
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde in der Sache gemäß § 42 Abs. 3 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) festgestellt, dass der Revisionswerber die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 2 StbG durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 21. Juni 1993 verloren hat und nicht österreichischer Staatsbürger ist (I.). Eine Revision wurde für nicht zulässig erklärt (II.).
2 Begründend stellte das Verwaltungsgericht (unter anderem) fest, mit Bescheid der belangten Behörde vom 13. November 1990 sei dem Vater des Revisionswerbers die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden und diese Verleihung gemäß § 17 StbG (unter anderem) auf den Revisionswerber erstreckt worden. Mit am 22. Mai 1992 ausgestelltem Bescheid des Innenministeriums der türkischen Republik (Entlassungsurkunde) sei der Revisionswerber aus dem türkischen Staatsverband entlassen worden.
3 Mit Beschluss des türkischen Ministerrates vom 21. Juni 1993, Zl. 93/4577, habe der Revisionswerber die türkische Staatsangehörigkeit wieder erworben. Dabei sei für den Revisionswerber durch seine Eltern ein eigenständiger Antrag auf Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit gestellt worden. Ein Antrag auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft sei zum Zeitpunkt des Wiedererwerbes der türkischen Staatsangehörigkeit durch die Eltern des Revisionswerbers für diesen nicht gestellt worden.
4 Der Revisionswerber lebe mit seiner Ehegattin und drei Töchtern, welche alle die österreichische Staatsbürgerschaft besäßen, in einer Haushaltsgemeinschaft in W und sei derzeit bei einer näher bezeichneten GmbH unselbständig erwerbstätig beschäftigt. Der Revisionswerber habe, da er bereits im Inland geboren sei, in Österreich soziale Bindungen und Kontakte familiärer Art und auch Freunde. In der Türkei habe er abgesehen von seinen Großeltern keine nähere Verwandtschaft mehr bzw. habe er zu den dort lebenden Angehörigen keinen näheren Kontakt. Die Türkei habe der Revisionswerber in der Vergangenheit vorrangig zu Urlaubszwecken besucht, im Zeitraum von 2016 bis Jänner/Februar 2018 sei er in Izmir selbstständig tätig gewesen, wobei er innerhalb dieses Zeitraumes immer wieder nach Österreich gereist sei.
5 Am 7. April 2015 habe der Revisionswerber in der Türkei U geheiratet. Diese Ehe sei am 31. Jänner 2017 mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes Floridsdorf, 1 C 33/16g, wegen Bigamie für nichtig erklärt worden. Mit U habe der Revisionswerber einen gemeinsamen Sohn.
6 Der Revisionswerber weise im Inland rechtskräftige, nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen auf, die im angefochtenen Erkenntnis näher sowohl betreffend die Tathandlungen als auch die verhängten Freiheitsstrafen angeführt werden (Urteil vom 20. März 2007: Verbrechen des versuchten gewerbsmäßigen schweren Betruges nach § 15, § 146, § 147 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2, § 148 zweiter Fall StGB; Urteil vom 12. April 2007: Vergehen des schweren Betruges nach § 146, § 147 Abs. 1 Z 1 erster Fall und Abs. 2 StGB als Beitragstäter nach § 12 dritter Fall StGB; Urteil vom 24. Jänner 2008: Verbrechen des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßigen schweren Betruges nach § 146, § 147 Abs. 1 Z 1 erster und vierter Fall und Abs. 3, § 148 zweiter Fall, § 15 StGB; Urteil vom 12. Februar 2008: Verbrechen des gewerbsmäßigen schweren Betruges nach § 146, § 147 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3, § 148 zweiter Fall StGB; Urteil vom 4. August 2010: Verbrechen der Hehlerei nach § 164 Abs. 2 erster Fall und Abs. 4 erster und zweiter Fall StGB; Urteil vom 10. November 2010: Verbrechen des schweren Betruges als Beteiligter nach § 12 dritte Alternative, § 146, § 147 Abs. 1 Z 1 und Abs. 3, § 148 zweiter Fall StGB; Urteil vom 24. April 2019: Vergehen des schweren Betruges nach § 146, § 147 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2, § 15 StGB).
7 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, indem die Eltern des ‑ damals minderjährigen, noch nicht 14 Jahre alten ‑ Revisionswerbers für ihn den (Wieder)Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit beantragt hätten, hätten sie als seine gesetzlichen Vertreter eine auf den Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit gerichtete Willenserklärung im Sinne des § 27 Abs. 2 StbG abgegeben. Diese Willenserklärung habe den (Wieder)Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit mit Beschluss des Ministerrates vom 21. Juni 1993 bewirkt. Somit liege ein Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit auf Grund eines Antrages im Sinne des § 27 Abs. 2 StbG vor (Verweis auf VwGH 16.2.2012, 2010/01/0035-0036).
8 Ein für den Revisionswerber seitens seiner gesetzlichen Vertreter gestellter Antrag auf Bewilligung der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft liege nicht vor. Zur diesbezüglichen Antragsmöglichkeit verwies das Verwaltungsgericht auf § 28 Abs. 3 StbG in der damals maßgeblichen Stammfassung BGBl. Nr. 311/1985.
9 Somit stehe im vorliegenden Fall fest, dass der Revisionswerber gemäß § 27 Abs. 2 StbG ex lege die österreichische Staatsbürgerschaft am 21. Juni 1993 verloren habe.
10 Soweit der Revisionswerber die Auffassung vertrete, fallbezogen habe eine unionsrechtlich gebotene Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen, verweist das Verwaltungsgericht auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, C‑221/17, Tjebbes u.a. Daraus sei abzuleiten, dass in Verfahren, in denen der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats kraft Gesetzes erfolge und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich ziehe, die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein müssten, inzident die Folgen dieses Verlustes der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen.
11 Im gegenständlichen Fall habe jedoch der durch den (Wieder)Erwerb der türkischen Staatsangehörigkeit am 21. Juni 1993 erfolgte ex lege Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht auch den Verlust des Unionsbürgerstatus bewirkt, da Österreich erst am 1. Jänner 1995 der Europäischen Union (damals Europäische Gemeinschaft) beigetreten sei. Gegenstand des vorliegenden Feststellungsverfahrens sei die Prüfung des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft. Da dieser Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft einen Verlust des Unionsbürgerstatus jedoch nicht mit sich gebracht habe, erübrige sich auch aus unionsrechtlicher Sicht vor dem Hintergrund der durch die angeführte „EuGH‑Entscheidung“ geklärten Rechtslage eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Aus Art. 20 AEUV lasse sich nicht ableiten, dass einer Person, die nie der Unionsbürgerstatus zugekommen sei, durch Vornahme einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mehr Rechte zukommen sollten, als sie besessen habe.
12 Der Vollständigkeit halber sei aber festzuhalten, dass auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im gegenständlichen Fall zu keiner „Herstellung“ der österreichischen Staatsbürgerschaft führen könnte. Bei der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführenden Gesamtbetrachtung werde auch regelmäßig der Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen habe, von maßgeblicher Bedeutung sein (Verweis auf VwGH 18.2.2020, Ra 2020/01/0022).
13 Nach der vorliegend anzuwendenden Bestimmung des § 27 Abs. 2 StbG habe der im damaligen Zeitpunkt unmündig minderjährige Revisionswerber auf Grund einer durch seine gesetzlichen Vertreter für ihn abgegebenen positiven Willenserklärung die türkische Staatsangehörigkeit wiedererworben und damit ex lege die österreichische Staatsbürgerschaft verloren. Der Revisionswerber habe damit zwar nicht eigenständig durch seine freiwillige selbstständige Erklärung das Staatsbürgerschaftsband verlassen, jedoch sei die Erklärung seiner Eltern ihm zuzurechnen. Es stehe fest, dass die Eltern des Revisionswerbers die gesetzlich eingeräumte und offen gestandene Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 28 Abs. 1 StbG nicht wahrgenommen hätten (Verweis auf VfGH 17.6.2019, E 1302/2019). Zur Antragsbefugnis des gesetzlichen Vertreters (betreffend die Beibehaltung) verweist das Verwaltungsgericht auf § 28 Abs. 3 StbG in der Stammfassung.
14 Im vorliegenden Fall lägen aber auch sonst keine Umstände vor, die den ex lege Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft als unverhältnismäßig erscheinen ließen. Nach dem festgestellten Sachverhalt habe der Revisionswerber die österreichische Staatsbürgerschaft nur vom 13. November 1990 bis 21. Juni 1993 und somit nur knapp über zweieinhalb Jahre innegehabt.
15 Ins Gewicht falle bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung insbesondere auch, dass der Revisionswerber wiederholt über einen langen Zeitraum massiv gegen das österreichische Strafgesetzbuch verstoßen habe. Bei den festgestellten Verurteilungen bzw. den diesen zugrunde liegenden Feststellungen handle es sich jeweils um ein gegen fremdes Vermögen gerichtetes ‑ freilich öffentliche Interessen gewichtig beeinträchtigendes ‑ Verhalten, wobei der Revisionswerber trotz Haftstrafen in der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht vom 3. Dezember 2020 kein Unrechtsbewusstsein oder keine Reue gezeigt habe, sondern ausgeführt habe, dass die strafrechtlichen Verurteilungen gegen ihn nicht zu Recht bestünden und sein verspäteter Rückzug aus der Branche, in der er gearbeitet habe, das Einzige gewesen sei, was er falsch gemacht habe.
16 Im vorliegenden Fall stehe dem Revisionswerber, der derzeit türkischer Staatsangehöriger sei, auch die Beantragung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ nach dem Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) offen (Verweis auf § 47 Abs. 2 NAG und die Familienzusammenführung mit seiner österreichischen Ehegattin). Dieser vermittle ihm auch einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt (Verweis auf § 17 Z 2 AuslBG). Darüber hinaus käme für den Revisionswerber auf Grund seiner Geburt im Inland, seines langjährigen Aufenthaltes sowie seiner Ehe mit einer Österreicherin und seinen Bindungen zu seinen in Österreich lebenden minderjährigen Kindern überdies ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK nach dem Asylgesetz 2005 in Betracht. Der Revisionswerber falle als Erwerbstätiger grundsätzlich auch unter das Assoziationsabkommen EWG‑Türkei. Der Revisionswerber erfahre somit trotz des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft keine beruflichen oder familiären Nachteile, da er wohl weiterhin in Österreich aufhältig sein und sein Familienleben wie bisher führen bzw. am Arbeitsmarkt tätig sein könne.
17 Die Unzulässigkeit einer Revision begründete das Verwaltungsgericht textbausteinartig.
18 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit Beschluss vom 22. Juni 2021, E 1962/2021, lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde ab und trat die Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 3 B‑VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
19 Begründend führte der VfGH unter anderem aus:
„Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer ‑ allenfalls grob ‑ unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Fragen, ob das Verwaltungsgericht Wien die Voraussetzungen des § 27 Abs. 2 StbG, BGBI. 311/1985 (WV), in jeder Hinsicht zutreffend beurteilt hat und ob eine Verhältnismäßigkeitsprüfung beim Verlust der Staatsbürgerschaft wegen des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit im vorliegenden Fall geboten ist bzw. das Verwaltungsgericht Wien diese gegebenenfalls zutreffend vorgenommen hat (siehe zu § 27 Abs. l StbG, VwGH 30.9.2019, Ra 2018/01/0477; 12.3.2020, Ra 2019/01/0484), insoweit nicht anzustellen.
Soweit die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berührt, als die Verfassungswidrigkeit der die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsvorschrift des § 27 Abs. 2 StbG, BGBI. 311/1985 (WV), behauptet wird, lässt ihr Vorbringen die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes angesichts der bestehenden Regelungen über die gesetzliche Vertretung (unmündiger) Minderjähriger durch ihre Eltern (vgl. insbesondere § 167 ABGB) als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. auf die vorliegende Konstellation übertragbar zu § 27 Abs. l StbG VfGH 10.3.2020, E 634/2020; weiters VfSlg. 8006/1977).“
20 Sodann erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof.
21 Die belangte Behörde erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Zulässigkeit
22 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, das Verwaltungsgericht sei mit seiner Auffassung, die Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH Tjebbes u.a. sei nicht notwendig, weil Österreich im Jahr 1993 noch kein Mitglied der Europäischen Union gewesen sei, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Erkenntnis vom 6. Juli 2020, Ra 2019/01/0345, abgewichen. Nach dieser Rechtsprechung, sei auch bei einem ex lege Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft im Jahr 1994 eine Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß der genannten Rechtsprechung des EuGH durchzuführen. Diese Rechtsprechung sei auch auf den vorliegenden Fall anwendbar. Gleich wie in der Rechtssache Ra 2019/01/0345 sei auch im vorliegenden Fall Österreich noch kein Mitglied der Europäischen Union gewesen. Daher wäre auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung „gemäß Tjebbes“ durchzuführen gewesen.
23 Zu diesem Vorbringen genügt es darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis trotz der von der Revision gerügten Auffassung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C-221/17, Tjebbes u.a., durchgeführt hat (vgl. zu dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung etwa VwGH 29.9.2021, Ra 2019/01/0350, mwN; vgl. zu einer vergleichbaren Fallkonstellation, in der das Verwaltungsgericht trotz einer gegenteiligen Auffassung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt hat, VwGH 28.1.2020, Ra 2019/01/0466). Die Revision ist daher aus diesem Grund nicht zulässig.
24 Die Revision bringt weiters zu ihrer Zulässigkeit vor, es fehle „einschlägige“ Rechtsprechung zur Frage, ob und inwieweit die Unmündigkeit eines vom Verlust der Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 2 StbG betroffenen Minderjährigen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen sei. Soweit ersichtlich liege keine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes dahingehend vor, inwieweit die Minderjährigkeit und Unmündigkeit beim ex lege Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft zu berücksichtigen seien. Bei den bisher ergangenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes seien die Revisionswerber beim Wiedererwerb der zweiten (fremden) „Staatsbürgerschaft“ volljährig gewesen. Im Zeitpunkt des Wiedererwerbs der türkischen Staatangehörigkeit sei der Revisionswerber jedoch unmündiger Minderjähriger gewesen. Dies hätte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung entsprechend berücksichtigt werden müssen.
25 Die Revision ist aus diesem Grund zulässig, zumal Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., in einem Fall nach § 27 Abs. 2 StbG (noch) nicht besteht.
Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a. sowie EuGH 18.1.2022, C-118/20, JY, und § 27 Abs. 2 StbG
§ 27 Abs. 2 StbG
26 Der Verwaltungsgerichtshof stellt für die Feststellung des Verlustes der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG auf einen Zeitpunkt und nicht auf einen Zeitraum ab. Dies entspricht dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit, aber auch angesichts der Rechtsfolgen einer Feststellung des Verlustes der Staatsbürgerschaft dem Gebot der Rechtssicherheit für den Betroffenen. Daher ist der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG zu einem näher bezeichneten Zeitpunkt festzustellen (vgl. VwGH 20.5.2020, Ra 2019/01/0383, mwN). Daraus ergibt sich aber auch, dass für einen allfälligen Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft nach § 27 StbG die jeweilige zum Zeitpunkt des (Wieder)Erwerbs der fremden Staatsangehörigkeit geltende Rechtslage maßgeblich ist (vgl. insofern zur Ermittlung des ausländischen Rechts etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, mwN).
27 § 27 des Bundesgesetzes über die österreichische Staatsbürgerschaft (Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 ‑ StbG) in der hier maßgeblichen Stammfassung BGBl. Nr. 311/1985 (WV) lautet auszugsweise:
„Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit
§ 27. ...
(2) Ein nicht eigenberechtigter Staatsbürger verliert die Staatsbürgerschaft nur dann, wenn die auf den Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit gerichtete Willenserklärung (Abs. 1) für ihn entweder von seinem gesetzlichen Vertreter oder mit dessen ausdrücklicher Zustimmung von ihm selbst oder einer dritten Person abgegeben wird. Die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters muß vor dem Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit vorliegen. Ist jemand anderer als die Eltern oder die Wahleltern gesetzlicher Vertreter, so tritt der Verlust der Staatsbürgerschaft überdies nur dann ein, wenn das Vormundschafts- oder Pflegschaftsgericht die Willenserklärung (Zustimmung) des gesetzlichen Vertreters vor dem Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit genehmigt hat. (BGBl. Nr. 403/1977, Art. XIV Z 1)
(3) Ein minderjähriger Staatsbürger, der das 14. Lebensjahr vollendet hat, verliert die Staatsbürgerschaft außerdem nur, wenn er der auf den Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit gerichteten Willenserklärung (Abs. 1) seines gesetzlichen Vertreters oder der dritten Person (Abs. 2) vor dem Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit ausdrücklich zugestimmt hat. (BGBl. Nr. 202/1985, Art. I Z 13)“.
28 Diese seit Inkrafttreten der Stammfassung geltende und vorliegend maßgebliche Rechtslage unterscheidet sich von der im Zeitpunkt des angefochtenen Erkenntnisses geltenden Rechtslage (§ 27 StbG idF des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2018 ‑ FrÄG 2018, BGBl. I Nr. 56/2018) nur darin, dass in § 27 Abs. 2 StbG das Wort „eigenberechtigter“ durch die Wendung „voll handlungsfähiger“ ersetzt wurde und die Wendung „Vormundschafts- oder“ entfiel.
29 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes setzt die Bestimmung des § 27 Abs. 1 StbG voraus, dass der Staatsbürger eine auf den Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit gerichtete „positive“ Willenserklärung abgibt und die fremde Staatsangehörigkeit infolge dieser Willenserklärung tatsächlich erlangt. Da das Gesetz verschiedene Arten von Willenserklärungen („Antrag“, „Erklärung“, „ausdrückliche Zustimmung“) anführt, bewirkt jede Willenserklärung, die auf den Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit gerichtet ist, im Falle deren Erwerbs den Verlust der (österreichischen) Staatsbürgerschaft.
Ein Irrtum über die Auswirkungen des gewollten Erwerbs einer fremden Staatsangehörigkeit ‑ selbst wenn er unverschuldet wäre ‑ vermag die Rechtswirksamkeit eines auf den Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit gerichteten Antrages im Sinne des § 27 Abs. 1 StbG nicht zu beseitigen. Vielmehr tritt der Verlust der Staatsbürgerschaft unabhängig davon ein, ob er beabsichtigt war, auch wenn der Betroffene die österreichische Staatsbürgerschaft beibehalten wollte (vgl. zu allem VwGH 22.3.2021, Ra 2020/01/0293, 0384‑0385, mwN).
30 Diese Grundsätze gelten auch im Anwendungsbereich des § 27 Abs. 2 StbG (vgl. VwGH 16.2.2012, 2010/01/0035‑0036, sowie VwGH 15.3.2012, 2010/01/0026). Damit hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass sich ein minderjähriger Staatsbürger, der das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, nach § 27 Abs. 2 StbG die auf den Erwerb der fremden Staatsangehörigkeit gerichtete Willenserklärung seines gesetzlichen Vertreters zurechnen lassen muss bzw. dass diese den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft bewirken kann (vgl. zu der vom Revisionswerber in seiner Beschwerde an den VfGH in Zweifel gezogenen verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des § 27 Abs. 2 StbG wie oben angeführt VfGH 22.6.2021, E 1962/2021).
Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a.
31 Noch nicht in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geklärt ist die Frage, welche Auswirkungen diese Rechtslage auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a. hat.
32 Zur Anwendbarkeit dieser Rechtsprechung des EuGH auf § 27 Abs. 2 StbG ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 29 StbG hinzuweisen. Nach dieser ist bereits vom EuGH klargestellt, dass auch die Regelung des § 29 StbG, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, von dieser seiner Rechtsprechung erfasst wird (vgl. VwGH 23.9. 2020, Ro 2020/01/0014, mit Verweis auf VwGH 17.12.2019, Ro 2019/01/0012‑0013). Gleiches gilt auch für § 27 Abs. 2 StbG.
33 Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C-221/17, Tjebbes u.a., genügt es, auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen. Nach dieser erfordert eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom VfGH aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Dies bedeutet, dass das Unionsrecht dem ex lege eintretenden Verlust der Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG nur bei Vorliegen besonders gewichtiger bzw. außergewöhnlicher Umstände (des Privat- und Familienlebens des Betroffenen) entgegensteht (vgl. zu allem VwGH 29.9.2021, Ra 2019/01/0350, mwN). Dabei ist ‑ nach Maßgabe des Art. 8 EMRK ‑ zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. etwa VwGH 8.6.2020, Ra 2020/01/0134, Rn. 12, mwN).
34 Eine (derartige) unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG und daher vom Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nur aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. zu allem aus der mittlerweile ständigen Rechtsprechung VwGH 1.9.2021, Ra 2021/01/0250, mwN).
35 Die Revision bringt in diesem Zusammenhang zur Konstellation des § 27 Abs. 2 StbG vor, der Revisionswerber sei im Zeitpunkt des Wiedererwerbs der türkischen Staatangehörigkeit unmündiger Minderjähriger gewesen. Dies hätte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung entsprechend berücksichtigt werden müssen.
36 In dieser Hinsicht hat der Verwaltungsgerichtshof zu einer nach § 29 StbG durchgeführten Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits festgehalten, dass die Rechtsprechung des VfGH (nach der für den Fall, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt, davon auszugehen ist, dass die öffentlichen Interessen an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten überwiegen) in einem Fall beachtet wurde, in dem das Verwaltungsgericht entscheidend darauf abgestellt hat, dass vorliegend die Mitbeteiligten zu keiner Zeit selbstständig eine Willenserklärung im Sinne des § 27 StbG abgegeben hatten und demgemäß auch keinen Antrag auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft stellten (vgl. VwGH 23.9.2020, Ro 2020/01/0014, mit Verweis auf VwGH 17.12.2019, Ro 2019/01/0012‑0013; in der der letztgenannten Entscheidung zugrunde liegenden Rechtssache hatte das Verwaltungsgericht die erstinstanzlichen Feststellungsbescheide aufgehoben, in denen festgestellt worden war, dass die dort Betroffenen die österreichische Staatsbürgerschaft durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit durch ihren Vater in Erstreckung verloren hatten).
37 Damit hat der Verwaltungsgerichtshof anerkannt, dass in der Konstellation des § 29 StbG, in der die minderjährigen ledigen Kinder keine selbstständige Willenserklärung abgeben konnten, dem Umstand, dass die Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrgenommen wurde, nicht mehr derart maßgebliche Bedeutung zugemessen werden kann. Gleiches gilt für § 27 Abs. 2 StbG, in der sich (wie oben dargelegt) ein minderjähriger Staatsbürger, der das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, die Willenserklärung seines gesetzlichen Vertreters zurechnen lassen muss und bereits diese den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft bewirken kann. Insofern ist dieser Umstand in der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen.
38 Dies ändert aber nichts daran, dass insgesamt vom Verwaltungsgericht in einer Gesamtbetrachtung zu prüfen ist, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist.
Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH 18.1.2022, C-118/20, JY
39 In dem jüngst ergangenen Urteil des EuGH vom 18. Jänner 2022, in der Rechtssache C-118/20, JY, nahm der EuGH zunächst zum Ziel bzw. der Ordnungsvorstellung des StbG, mehrfache Staatsangehörigkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden, wie folgt Stellung (Rn. 53 bis 55):
„53 Im vorliegenden Fall soll das Staatsbürgerschaftsgesetz, wie die österreichische Regierung ausgeführt hat und wie sich aus § 10 Abs. 3 StbG ergibt, namentlich verhindern, dass ein und dieselbe Person mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt. § 20 Abs. 1 StbG gehört zu den Bestimmungen, mit denen ebendieses Ziel erreicht werden soll.
54 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat wie die Republik Österreich in Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust seiner Staatsangehörigkeit davon ausgeht, dass unerwünschte Wirkungen des Besitzes mehrerer Staatsangehörigkeiten zu vermeiden sind.
55 Die grundsätzliche Legitimität dieses Ziels wird durch Art. 15 Buchst. b des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit bestätigt, wonach die Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht das Recht eines Vertragsstaats beschränken, in seinem innerstaatlichen Recht zu bestimmen, ob der Erwerb oder die Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit von der Aufgabe oder dem Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit abhängt. Wie vom Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt, findet diese Legitimität weitere Bekräftigung in Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit, wonach ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats, der in einem ausländischen Staat die Einbürgerung anstrebt, seine Staatsangehörigkeit nur dann verliert, wenn er die ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt oder die Zusicherung des ausländischen Staates für die Verleihung der Staatsangehörigkeit erhalten hat.“
40 Daher ist die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach dem österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht unter anderem die Ordnungsvorstellung zugrunde liegt, mehrfache Staatsangehörigkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden, weiterhin maßgeblich (vgl. dazu die im Vorlagebeschluss VwGH 13.2.2020, Ra 2018/01/0159, wiedergegebene Rechtsprechung, auf die sich auch der EuGH in Rn. 21 des Urteils JY bezieht).
41 Auch die (oben angeführte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Durchführung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a. ist nach dem jüngst ergangenen Urteil EuGH JY weiterhin maßgeblich.
42 So hat der EuGH in diesem Urteil (vgl. Rn. 59 bis 61) an den Kriterien seiner Rechtsprechung zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a. festgehalten:
„59 Die Prüfung, ob der im Unionsrecht verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet ist, erfordert eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie gegebenenfalls derjenigen ihrer Familie, um zu bestimmen, ob die Entscheidung, die Zusicherung der Verleihung der Staatsbürgerschaft zu widerrufen, wenn sie zum Verlust des Unionsbürgerstatus führt, Folgen hat, die die normale Entwicklung des Familien- und Berufslebens dieser Person gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen. Dabei darf es sich nicht um hypothetische oder potenzielle Folgen handeln (vgl. entsprechend Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 44).
60 In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu prüfen, ob diese Entscheidung im Verhältnis zur Schwere des von der betroffenen Person begangenen Verstoßes und gemessen an deren Möglichkeit, ihre ursprüngliche Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, gerechtfertigt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 56).
61 Außerdem müssen sich die zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls die nationalen Gerichte im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung Gewissheit darüber verschaffen, dass eine solche Entscheidung mit den Grundrechten in Einklang steht, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, deren Beachtung der Gerichtshof sicherstellt, verbürgt sind, insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, wie es in Art. 7 dieser Charta niedergelegt ist, gegebenenfalls in Verbindung mit der Verpflichtung, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).“
43 Daher ist weiterhin vom Verwaltungsgericht in einer Gesamtbetrachtung nach den Kriterien der Rechtsprechung des EuGH Tjebbes u.a. sowie (nunmehr) JY zu prüfen, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist.
Einzelfallbezogene Beurteilung
44 Vorliegend hat das Verwaltungsgericht in seiner durchgeführten Gesamtbetrachtung zunächst als besonders schwerwiegend die fortgesetzte Straffälligkeit des Revisionswerbers, aber auch sein im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht dokumentiertes, fehlendes Unrechtsbewusstsein berücksichtigt (vgl. zur Berücksichtigung der Straffälligkeit bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nach EuGH Tjebbes u.a. VwGH 30.9.2019, Ra 2019/01/0281; vgl. zur Berücksichtigung der Schwere des von der betroffenen Person begangenen Verstoßes auch EuGH 18.1.2022, JY, C‑118/20, Rn. 60). Weiter hat das Verwaltungsgericht die Möglichkeit eines Aufenthaltstitels für den Revisionswerber geprüft und bejaht (vgl. zur Möglichkeit eines Aufenthaltstitels VwGH 23.9.2020, Ro 2020/01/0014, mwN).
45 Daher zeigt die Revision keine Rechtswidrigkeit der vorgenommenen einzelfallbezogenen Gesamtbetrachtung auf, die vom Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell aufzugreifen wäre.
Ergebnis
46 Die Revision war aus diesen Erwägungen gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Wien, am 10. Februar 2022
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
