VwGH Ra 2019/01/0350

VwGHRa 2019/01/035029.9.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision der M P in W, vertreten durch Dr. Mehmet Saim Akagündüz, Rechtsanwalt in 1170 Wien, Ottakringer Straße 54/Top 3.2, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 26. Februar 2019, Zl. VGW‑152/022/15711/2018‑19, betreffend Staatsbürgerschaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Wiener Landesregierung), zu Recht erkannt:

Normen

EURallg
StbG 1985 §27 Abs1
StbG 1985 §28 Abs1
12010M004 EUV Art4 Abs3
62004CJ0292 Meilicke VORAB
62017CJ0221 Tjebbes VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019010350.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Wien hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis stellte das Verwaltungsgericht Wien (Verwaltungsgericht) ‑ im Beschwerdeverfahren, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ in der Sache fest, dass die Revisionswerberin die österreichische Staatsbürgerschaft gemäß § 27 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) durch den Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit spätestens mit Wirkung „vom 30. April 2018“ verloren habe.

2 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der in der Türkei geborenen Revisionswerberin sei mit Bescheid der belangten Behörde vom 24. Juli 1996 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden. Mit Bescheid des türkischen Innenministeriums vom 27. Jänner 1997 sei der Revisionswerberin die türkische Staatsangehörigkeit entzogen worden.

3 Aufgrund einer im Jahr 2017 erstatteten Eingabe eines näher genannten Landtagsklubs sei ein Verfahren zur Feststellung der Staatsbürgerschaft der Revisionswerberin eingeleitet worden, weil sich ein auf sie bezogener Datensatz auf näher bezeichneten Listen befunden habe, bei denen der Verdacht bestanden habe, es handle sich um türkische Wählerevidenzlisten. Bei diesem Datensatz habe es sich jedoch nicht um ein authentisches Dokument gehandelt.

4 Die Revisionswerberin sei für die türkische Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni 2018 in der türkischen Wählerevidenz (abrufbar über die offizielle Homepage der Hohen Wahlkommission der Türkei, http://www.ysk.gov.tr/ ) als wahlberechtigt eingetragen gewesen. Voraussetzung für die Eintragung in das Wahlregister sei der Besitz der türkischen Staatsangehörigkeit gewesen.

5 Danach habe die Revisionswerberin die türkische Staatsangehörigkeit nach dem Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft wieder erworben und sei zumindest am Stichtag für die Eintragung in das Wählerverzeichnis, dem 30. April 2018, türkische Staatsangehörige gewesen.

6 Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die übermittelte Liste stelle nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (Verweis auf VfGH 11.12.2018, E 3717/2018) für die Zwecke des § 27 Abs. 1 StbG kein taugliches Beweismittel dar.

7 Anders verhalte es sich bei der (durch die belangte Behörde per Internet durchgeführten) Abfrage der von der Hohen Wahlkommission der Türkei zur Verfügung gestellten Wählerevidenz. Eine solche Abfrage sei der belangten Behörde über die offizielle Homepage der Hohen Wahlkommission „YSK“ (http://www.ysk.gov.tr/ ) am 13. Juni 2018 möglich gewesen. Im Gegensatz zur übermittelten Liste stünden die Authentizität und Herkunft der abgefragten Daten fest. Das Verwaltungsgericht habe keine Zweifel daran, dass es sich dabei tatsächlich um Daten aus dem offiziellen Wählerverzeichnis für die Präsidentschafts- bzw. Parlamentswahlen 2018 handle. Die Revisionswerberin habe die Echtheit der auf dieser Seite abgefragten Daten auch nicht bestritten.

8 Dass die türkische Staatsangehörigkeit Voraussetzung für die Eintragung in das Wählerverzeichnis sei, ergebe sich aus näher bezeichneten Bestimmungen des türkischen Rechts.

9 Die hervorgekommenen Beweismittel sprächen mit hoher Wahrscheinlichkeit u.a. dafür, dass die Revisionswerberin nach Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft die türkische Staatsbürgerschaft wieder angenommen habe, aufgrund dessen die Aufnahme in das Wählerverzeichnis für die Präsidentschaftswahlen bzw. Parlamentswahlen 2018 erfolgt sei.

10 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, damit stehe fest, dass die Revisionswerberin gemäß § 27 Abs. 1 StbG ex lege die österreichische Staatsbürgerschaft verloren habe. Auch ein allfälliger neuerlicher Austritt aus dem türkischen Staatsverband könne daran nichts ändern.

11 Dagegen erhob der Revisionswerber sowohl die gegenständliche außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof als auch Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) gemäß Art. 144 Abs. 1 B‑VG.

12 Der VfGH lehnte mit Beschluss vom 17. Juni 2019, E 1302/2019-8, die Behandlung der Beschwerde mit nachstehender Begründung ab:

„Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art. 2 StGG, Art. 7 Abs. 1 B‑VG). Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer ‑ allenfalls grob ‑ unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Verwaltungsgericht Wien die Feststellung, dass die Beschwerdeführerin die türkische Staatsangehörigkeit wiedererworben hat, zu Recht auf einen von der Staatsbürgerschaftsbehörde eingesehenen Eintrag in ein von der Hohen Wahlkommission der Türkei online zur Verfügung gestelltes Wählerverzeichnis stützt, insoweit nicht anzustellen.

Soweit die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berührt, als im Hinblick auf Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH 12.3.2019, Rs. C‑221/17, Tjebbes ua.) zu einer gebotenen Einzelfallprüfung der Folgen eines mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit einhergehenden Verlusts der Unionsbürgerschaft ein Verstoß der die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtsvorschrift des § 27 Abs. 1 StbG gegen Art 8 EMRK behauptet wird, lässt ihr Vorbringen angesichts dessen, dass § 27 Abs. 1 StbG den Verlust der Staatsbürgerschaft nur dann an den Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit knüpft, wenn diese auf Initiative des Betroffenen erworben wird, und § 28 StbG die Möglichkeit eröffnet, die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft trotz Annahme einer fremden Staatsangehörigkeit aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen des Privat- und Familienlebens zu beantragen (vgl VfGH 17.6.2019, E 1832/2019), vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 11.12.2018, E 3717/2018; siehe auch bereits VfSlg. 19.765/2013 und 19.766/2013 zu der inhaltlich deckungsgleichen Regelung des § 27 Abs. 1 StbG 1965) die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Es ist daher im Lichte des Art. 8 EMRK und des Gleichheitsgrundsatzes nicht zu beanstanden, wenn § 27 Abs. 1 StbG bei (Wieder‑)Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit für den Fall, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht wahrnimmt, davon ausgeht, dass die öffentlichen Interessen an der Vermeidung mehrfacher Staatsangehörigkeiten überwiegen.“

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem auf das Wesentliche zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 12. März 2019, C‑221/17, Tjebbes u.a., keine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt.

14 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

15 Auch wenn das angefochtene Erkenntnis vor der genannten Entscheidung des EuGH erlassen wurde, so ist dennoch auf den Grundsatz zu verweisen, dass die unmittelbare Anwendung und den Vorrang von unionsrechtlichen Bestimmungen sowohl die Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten zu beachten haben. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist jedes im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene nationale Gericht als Organ eines Mitgliedstaates verpflichtet, in Anwendung des in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatzes der Zusammenarbeit das unmittelbar geltende Unionsrecht anzuwenden und die Rechte, die es dem Einzelnen verleiht, zu schützen (vgl. VwGH 15.10.2019, Ra 2019/11/0033‑0034, mwN, zur Implementierung eines über ein Vorabentscheidungsersuchen ergangenes Urteil des EuGH in das nationale Recht; 17.12.2019; Ro 2019/01/0012, 0013; vgl. auch EuGH 6.3.2007, C‑292/04, Meilicke u.a., mwN bei Rn. 34).

16 Von diesen Grundsätzen ausgehend genügt es auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes u.a., hinzuweisen (vgl. VwGH 18.2.2020, Ra 2020/01/0022; 12.3.2020, Ra 2019/01/0484 [ebenfalls einen Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit betreffend]). Nach dieser erfordert eine solche unionsrechtlich gebotene Prüfung eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles durchgeführte Gesamtbetrachtung. Bei einer solchen Gesamtbetrachtung wird jedoch regelmäßig der vom VfGH aus verfassungsrechtlicher Sicht angeführte Umstand, dass der Betroffene die ihm eingeräumte Möglichkeit zur Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft (nach § 28 Abs. 1 StbG) nicht wahrgenommen hat, von maßgeblicher Bedeutung sein. Dieser Umstand entbindet das Verwaltungsgericht aber nicht von der unionsrechtlich gebotenen Gesamtbetrachtung, ob fallbezogen Umstände vorliegen, die dazu führen, dass die Rücknahme der österreichischen Staatsbürgerschaft ausnahmsweise unverhältnismäßig ist (vgl. VwGH 28.1.2020, Ra 2019/01/0466; wiederum 12.3.2020, Ra 2019/01/0484, zu allem auch 22.10.2020, Ra 2020/01/0371, mwN).

17 Dies bedeutet, dass das Unionsrecht dem ex lege eintretenden Verlust der Staatsbürgerschaft nach § 27 Abs. 1 StbG nur bei Vorliegen besonders gewichtiger bzw. außergewöhnlicher Umstände (des Privat- und Familienlebens des Betroffenen) entgegensteht (vgl. wiederum VwGH 22.10.2020, Ra 2020/01/0371, mwN).

18 Diesen Vorgaben hat das Verwaltungsgericht nicht entsprochen.

19 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

20 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

21 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. September 2021

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