Normen
MRK Art8
StaatsangehörigkeitÜbk Eur Art15 litb
StbG 1985 §28
Übk Staatenlosigkeit - Verminderung Art7 Abs2
12010E020 AEUV Art20
62017CJ0221 Tjebbes VORAB
62020CJ0118 Wiener Landesregierung VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022010063.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde in der Sache der Antrag der Revisionswerberin auf Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall des Erwerbs der Schweizer Staatsangehörigkeit gemäß § 28 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 (StbG) abgewiesen (I.) und eine Revision für unzulässig erklärt (II.).
2 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, die Revisionswerberin lebe mit ihrem (deutschen) Ehemann seit 2009 in der Schweiz und sei seit 2013 Inhaberin einer bis 31. August 2023 gültigen „Niederlassungsbewilligung C“. Sie sei Geschäftsführerin bzw. geschäftsführende Gesellschafterin näher genannter Unternehmen und befinde sich aufgrund ihrer Tätigkeit regelmäßig in Österreich und in anderen Mitgliedstaaten der EU.
3 Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 17.6.2019, E 1832/2019 = VfSlg. 20.330) komme dem Verfahren zur Bewilligung der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 28 StbG insofern grundrechtliche Bedeutung zu, als die Behörde die Folgen eines allfälligen Verlustes auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art. 8 EMRK zu prüfen habe und dabei auch die unionsrechtlich gebotene Abwägung der Folgen des Verlustes der Unionsbürgerschaft nach der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache C‑221/17, Tjebbes ua durchführen könne und müsse.
4 Die Revisionswerberin habe keine ausreichenden Leistungen im Sinne des § 28 Abs. 1 StbG dargelegt. Allenfalls zu überwindende Formalitäten zur Erlangung einer rechtmäßigen aufenthalts- oder arbeitsmarktrechtlichen Stellung bzw. der Verlust der politischen Mitspracherechte würden keine extreme Beeinträchtigung des Privat‑ und Familienlebens im Sinne des § 28 Abs. 2 StbG bewirken. An der Pflege ihrer kranken Mutter sei die Revisionswerberin im Falle des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft nicht gehindert.
5 Die Revisionswerberin könnte sich als Schweizer Staatsangehörige nach dem Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) zunächst drei Monate in Österreich aufhalten und hätte darüber hinaus ‑ zumal als EWR‑Bürgerin ‑ die Möglichkeit, ein Daueraufenthaltsrecht in Österreich zu erwirken. Eine Beeinträchtigung ihrer persönlichen Beziehungen zu in Österreich lebenden Verwandten wäre nicht zu erwarten. Konkrete berufliche Nachteiles seien nicht hervorgekommen. Ebenso wenig hätte die Revisionswerberin den Verlust der „Niederlassungsbewilligung C“ zu befürchten, zumal die Verlegung des Lebensmittelpunktes nach Österreich in naher Zukunft nicht geplant sei.
6 Es sei der Revisionswerberin nicht gelungen, konkrete extreme Eingriffe in ihr Privat‑ und Familienleben bzw. konkret zu erwartende Beeinträchtigungen aufzuzeigen, insbesondere auch nicht durch das Vorbringen, dass das öffentliche Interesse an der Vermeidung von Mehrfachstaatsbürgerschaften aufgrund des ähnlichen Kulturkreises und der engen, guten Beziehungen zwischen Österreich und der Schweiz in den Hintergrund trete (sodass keine zwischenstaatlichen Interessenkonflikte bzw. Komplikationen sowie keine Gefahr der Kollision der staatsbürgerlichen Pflichten der Revisionswerberin zu befürchten seien). Der Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft ziehe daher ‑ nach Abwägung der Interessen der Revisionswerberin und der Republik Österreich ‑ keine Verletzung des Rechtes auf Achtung des Privat‑ und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK nach sich.
7 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Dieser lehnte mit Beschluss vom 29. November 2021, E 3559/2021‑9, die Behandlung der Beschwerde ab und trat diese dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 144 Abs. 4 B‑VG zur Entscheidung ab.
8 Begründend führte der VfGH unter anderem aus, soweit
„die Beschwerde aber insofern verfassungsrechtliche Fragen berührt, als die Rechtswidrigkeit der die angefochtenen Entscheidung tragenden Rechtsvorschrift des § 28 StbG behauptet wird, lässt ihr Vorbringen die behauptete Rechtsverletzung, die Verletzung in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder die Verletzung in einem sonstigen Recht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes angesichts des dem Gesetzgeber bei der Regelung der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit eingeräumten rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes als so wenig wahrscheinlich erkennen, dass sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat“.
9 Sodann erhob die Revisionswerberin die vorliegende außerordentliche Revision.
10 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
12 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
13 In der gesonderten Zulassungsbegründung ist konkret darzulegen, in welchen Punkten die angefochtene Entscheidung von welcher Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht und konkret welche Rechtsfrage der Verwaltungsgerichtshof uneinheitlich oder noch gar nicht beantwortet hat. Lediglich pauschale Behauptungen erfüllen diese Voraussetzungen nicht (vgl. für viele VwGH 15.9.2021, Ra 2021/01/0210, mwN).
14 Dem Gebot der gesonderten Darstellung der Gründe nach § 28 Abs. 3 VwGG wird insbesondere dann nicht entsprochen, wenn die zur Zulässigkeit der Revision erstatteten Ausführungen der Sache nach Revisionsgründe (§ 28 Abs. 1 Z 5 VwGG) darstellen oder das Vorbringen zur Begründung der Zulässigkeit der Revision mit Ausführungen, die inhaltlich (bloß) Revisionsgründe darstellen, in einer Weise vermengt ist, dass keine gesonderte Darstellung der Zulässigkeitsgründe im Sinne der Anordnung des § 28 Abs. 3 VwGG vorliegt (vgl. etwa VwGH 17.12.2021, Ra 2021/01/0392, mwN).
15 Diesen Anforderungen entspricht die Revision mit ihren ‑ insbesondere Zulässigkeitsvorbringen und Revisionsgründe vermengenden ‑ Ausführungen unter dem Punkt „Zulassungsantrag“ nicht.
16 Soweit sich die Revision dabei erkennbar gegen die vom Verwaltungsgerichtvorgenommene Interessenabwägung wendet und dazu vorbringt, dass der „Revisionsvertreter bei seiner umfangreichen Recherche nicht gefunden“ habe, welche Kriterien dabei maßgeblich seien, ist darauf zu verweisen, dass sich der Verwaltungsgerichtshof wiederholt zu den Konsequenzen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in der Rechtssache C‑21/17, Tjebbes ua für die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 1 und 2 StbG ergeben, geäußert und dabei auch die jüngste Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 17.6.2019, E 1832/2019 = VfSlg. 20.330) berücksichtigt hat (vgl. zusammenfassend VwGH 8.10.2020, Ra 2020/01/0354, auf dessen Begründung gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz iVm Abs. 9 VwGG verwiesen wird; vgl. auch VwGH 29.1.2021, Ra 2021/01/0002, mwN).
17 Demnach kann und muss bereits im Verfahren der Bewilligung der Beibehaltung nach § 28 StbG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung (im Sinne der Rechtsprechung des EuGH Tjebbes ua) vor dem Hintergrund von Art. 8 EMRK durchgeführt werden. Erforderlich ist demnach eine Interessenabwägung, bei der in Form einer Gesamtbetrachtung auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls Bedacht zu nehmen ist.
18 Gegenständlich hat das Verwaltungsgericht eine derartige Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen und dabei die obgenannten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt.
19 Eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist jedoch im Allgemeinen nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG und daher vom Verwaltungsgerichtshof im Revisionsmodell nur aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet hat und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten hat oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat bzw. die Entscheidung auf einer verfahrensrechtlich nicht einwandfreien Grundlage erfolgte (vgl. für viele VwGH 28.1.2020, Ra 2019/01/0466, mwN).
20 Die Revision tritt der vom Verwaltungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung insbesondere mit dem Vorbringen entgegen, dass die Vermeidung von Doppelstaatsbürgerschaften „politisch längst obsolet“ und im Hinblick auf die nach Art. 8 EMRK bzw. im Rahmen der unionsrechtlich gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung „von vornherein irrelevant“ sei.
21 Dem ist zu entgegnen, dass nach der (auch jüngeren) Rechtsprechung des VfGH dem Gesetzgeber bei der Regelung der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit ein rechtspolitischer Gestaltungsspielraum eingeräumt ist (vgl. etwa die obzitierte Begründung des Beschlusses E 3559/2021‑9; vgl. auch dazu VwGH Ra 2021/01/0002, mit Hinweis auf VfGH 21.9.2020, E 1620/2020‑5).
22 In diesem Sinne liegt dem österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht die Ordnungsvorstellung zugrunde, mehrfache Staatsangehörigkeiten nach Möglichkeit zu vermeiden (vgl. etwa VwGH 13.2.2020, Ra 2018/01/0159, sowie abermals VwGH Ra 2020/01/0354 und VwGH Ra 2021/01/0002).
23 Der EuGH hat dazu jüngst in seinem Urteil vom 18. Jänner 2022, JY gegen Wiener Landesregierung, C‑118/20, Folgendes klargestellt:
„... 52 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51, und vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 33).
53 Im vorliegenden Fall soll das Staatsbürgerschaftsgesetz, wie die österreichische Regierung ausgeführt hat und wie sich aus § 10 Abs. 3 StbG ergibt, namentlich verhindern, dass ein und dieselbe Person mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt. ....
54 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat wie die Republik Österreich in Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust seiner Staatsangehörigkeit davon ausgeht, dass unerwünschte Wirkungen des Besitzes mehrerer Staatsangehörigkeiten zu vermeiden sind.
55 Die grundsätzliche Legitimität dieses Ziels wird durch Art. 15 Buchst. b des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit bestätigt, wonach die Bestimmungen dieses Übereinkommens nicht das Recht eines Vertragsstaats beschränken, in seinem innerstaatlichen Recht zu bestimmen, ob der Erwerb oder die Beibehaltung seiner Staatsangehörigkeit von der Aufgabe oder dem Verlust einer anderen Staatsangehörigkeit abhängt. Wie vom Generalanwalt in Nr. 92 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt, findet diese Legitimität weitere Bekräftigung in Art. 7 Abs. 2 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit, wonach ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats, der in einem ausländischen Staat die Einbürgerung anstrebt, seine Staatsangehörigkeit nur dann verliert, wenn er die ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt oder die Zusicherung des ausländischen Staates für die Verleihung der Staatsangehörigkeit erhalten hat.
...“
24 Die dem österreichischen Staatsbürgerschaftsrecht zu Grunde liegende Ordnungsvorstellung, Mehrfachstaatsbürgerschaften zu vermeiden, begegnet sohin weder verfassungsrechtlichen noch unionsrechtlichen noch (sonstigen) europa‑ bzw. völkerrechtlichen Bedenken.
25 Insgesamt zeigt die Revision somit nicht auf, dass das Verwaltungsgericht bei der Interessenabwägung den ihm zukommenden Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse oder unvertretbare Fehlbeurteilung des vorliegenden Falles vorgenommen hätte.
26 In der Revision werden vor diesem Hintergrund keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 18. März 2022
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)
