VwGH Ra 2020/01/0025

VwGHRa 2020/01/002526.4.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser sowie Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des I J, vertreten durch Dr. Bernhard Astner, Rechtsanwalt in 8010 Graz als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag.a Sarah Kumar, Rechtsanwältin in 8020 Graz, Kärntner Straße 7b/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Dezember 2019, Zl. W176 2197175‑1/2E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §2 Abs1 Z12
AsylG 2005 §3 Abs1
EURallg
FlKonv Art1 AbschnA Z2
32011L0095 Status-RL Art10 Abs1 litd
62012CJ0199 VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010025.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 30. April 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des minderjährigen Revisionswerbers, eines afghanischen Staatsangehörigen, vom 11. Jänner 2016 auf internationalem Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte im Übrigen dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

2 Die gegen Spruchpunkt I. gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ mit dem angefochtenen Erkenntnis ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

3 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, der minderjährige Revisionswerber sei sunnitisch‑muslimischen Glaubens, in Kunduz geboren und gehöre der Volksgruppe der Arab an. Er sei gemeinsam mit seinem Onkel und seiner Tante, beide zwischenzeitig in Österreich asylberechtigt, von Iran aus, wo seine Familie (Eltern und Geschwister) lebe, nach Österreich gekommen. Der Revisionswerber stehe in „stetigem telefonischen Kontakt“ mit seinen Eltern.

Die Familie des Revisionswerbers, insbesondere sein Vater, habe entschieden, den minderjährigen Revisionswerber als einzigen Sohn aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa zu schicken. In Afghanistan wäre der Revisionswerber „nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit individueller Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt“.

Die vom Revisionswerber ins Treffen geführte Verfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur „sozialen Gruppe der verlassenen Kinder“ sei unabhängig davon, dass der Revisionswerber im Hinblick auf den „stetigen telefonischen Kontakt“ mit seinen Eltern im Iran nicht als verlassenes Kind angesehen werden könne, deshalb nicht anzunehmen, weil weder die Eigenschaft als (von den Eltern) verlassenes Kind ein nach Art. 10 Abs. 1 lit. d der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) angeborenes oder nicht veränderliches Merkmal sei noch eine solche Eigenschaft für den Revisionswerber identitätsstiftend sei. Überdies sei nicht davon auszugehen, dass von ihren Eltern verlassenen Kindern in Afghanistan eine hinreichend deutlich abgegrenzte Identität zukomme.

4 Eine mündliche Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG unterbleiben können, weil der entscheidungswesentliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt gewesen sei.

5 Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht zusammengefasst damit, dass es sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. eine ohnehin klare Rechtslage habe stützen können.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Parteirevision mit dem Antrag auf kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses. Die belangte Behörde erstattete im vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist in Bezug auf ihr Zulässigkeitsvorbringen, das angefochtene Erkenntnis sei von der näher genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht nach § 21 Abs. 7 BFA‑VG abgewichen, zulässig und auch begründet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA‑VG enthaltenen Wendung „wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ folgende Kriterien beachtlich sind:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Verwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa VwGH 5.11.2019, Ra 2019/01/0285, mwN).

9 Einerseits ist der Revisionswerber in seiner Beschwerde den tragenden Erwägungen des BFA zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaats (Afghanistan) nicht bloß unsubstantiiert entgegengetreten. Andererseits hat das Verwaltungsgericht tragende Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt.

10 Das Verwaltungsgericht durfte somit nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA‑VG ausgehen, sondern es hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.

11 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und ‑ wie hier gegeben ‑ des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa VwGH 30.12.2020, Ra 2020/01/0240, Rn. 12, mwN).

12 Das Verwaltungsgericht hat insofern das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.

13 Zu dem vom Revisionswerber geltend gemachten Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zur „sozialen Gruppe der verlassenen Kinder“ ist grundsätzlich auszuführen, dass nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht, voraussetzt (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, Rn. 7, mwN).

14 Unter „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, Rn. 12, mwN). Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinien) (vgl. etwa VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, Rn. 12; 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn. 27, jeweils mwN).

15 Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 17, mwN).

16 Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand (vgl. VwGH 29.6.2015, Ra 2015/01/0067; 26.6.2007, 2007/01/0479, jeweils mwN). Ausgehend von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (vgl. EuGH 7.11.2013, X u.a., C‑199/12 bis C‑121/12, Rn. 45; 4.10.2018, Ahmedbekova, C‑652/16, Rn. 89) gilt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten. Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. zu alldem VwGH 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, Rn. 13 bis 15, mwN).

17 Dem angefochtenen Erkenntnis sind zwar Benachteiligungen und Risiken für Waisenkinder und alleinstehende Kinder auf Grund der allgemein schlechten Wirtschafts- und Sicherheitslage in Afghanistan, jedoch keine Feststellungen zu deren gezielten und (auf Grund ihrer Schwere) asylrelevanten Verfolgung bzw. Verweigerung staatlichen Schutzes zu entnehmen. Mit den in der Revision geltend gemachten Gefahren grundsätzlich möglicher kinderspezifischer Verfolgungshandlungen iSd Art. 9 der Statusrichtlinie wird kein kausaler Zusammenhang mit dem behaupteten Konventionsgrund der „sozialen Gruppe der verlassenen Kinder“ aufgezeigt. Schon aus diesem Grund erübrigt es sich auf die in der Revision relevierte Frage, ob „verlassene Kinder“ in Afghanistan als eine bestimmte soziale Gruppe iSd Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie anzusehen sind, näher einzugehen (vgl. zur fehlenden Relevanz der Beurteilung des Vorliegens einer sozialen Gruppe mangels Feststellung einer derartigen Verfolgung etwa VwGH 19.6.2018, Ra 2018/20/0262, Rn. 10; 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, Rn. 8; 5.3.2020, Ra 2018/19/0576, Rn. 19).

18 Im Übrigen wurde der minderjährige Revisionswerber nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht von seiner im Iran lebenden Familie verlassen, sondern von dieser, insbesondere von seinem Vater, aus wirtschaftlichen Gründen mit seinem Onkel und seiner Tante nach Europa geschickt und steht der Revisionswerber weiterhin in ständigem telefonischen Kontakt mit seiner Familie. Insofern handelt es sich beim minderjährigen Revisionswerber nicht um ein von seiner Familie „verlassenes“, also im Stich gelassenes Kind.

19 Hinsichtlich der Missachtung der Verhandlungspflicht war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. April 2021

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