Normen
AVG §37
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs3
AVG §56
NAG 2005 §11 Abs1
NAG 2005 §11 Abs1 Z4
NAG 2005 §11 Abs2
NAG 2005 §2 Abs1 Z9
NAG 2005 §27 Abs1
NAG 2005 §30 Abs1
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 lita
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2019220048.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird im bekämpften Umfang (Spruchpunkt II.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1. Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, stellte am 22. Mai 2015 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot ‑ Weiß ‑ Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG); er berief sich dabei auf seine im Oktober 2014 geschlossene Ehe mit S K, einer serbischen Staatsangehörigen, die über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügte.
Der Aufenthaltstitel wurde dem Revisionswerber im August 2015 mit Gültigkeit bis 5. August 2016 erteilt. Aufgrund seines Verlängerungsantrags vom 14. Juni 2016 wurde der Titel zuletzt mit Gültigkeit bis 6. August 2017 verlängert. Am 23. Juni 2017 stellte er einen weiteren Verlängerungsantrag.
2.1. Mit Bescheid vom 23. März 2018 nahm der Landeshauptmann von Wien (im Folgenden: Behörde) die rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren über den Erstantrag und den Verlängerungsantrag vom 14. Juni 2016 gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 3 AVG wegen Vorliegens einer Aufenthaltsehe von Amts wegen wieder auf und wies unter einem den Erstantrag gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG sowie die Verlängerungsanträge mangels Vorliegens eines gültigen Aufenthaltstitels gemäß § 24 Abs. 1 NAG ab.
2.2. Der Revisionswerber erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde, bemängelte das Unterlassen hinreichender Ermittlungen und trat den Tatsachenannahmen und der Würdigung, wonach vom Vorliegen einer Aufenthaltsehe und vom „Erschleichen“ des Aufenthaltstitels auszugehen sei, entgegen.
3.1. Mit dem ‑ am 4. Dezember 2018 mündlich verkündeten und mit 13. Dezember 2018 schriftlich ausgefertigten ‑ angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht Wien (im Folgenden: Verwaltungsgericht) der Beschwerde insoweit Folge, als es die Wiederaufnahme der rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren über den Erstantrag und den Verlängerungsantrag vom 14. Juni 2016 und die unter einem ausgesprochene Abweisung dieser Anträge ersatzlos behob (Spruchpunkt I.).
Im Übrigen wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Verlängerungsantrags vom 23. Juni 2017 richtete, als unbegründet ab und bestätigte den Bescheid mit der Maßgabe, dass als Begründung der durch Ehescheidung eingetretene Verlust der Familienangehörigeneigenschaft des Revisionswerbers und als Rechtsgrundlage § 46 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 9 NAG heranzuziehen seien (Spruchpunkt II.).
3.2. Das Verwaltungsgericht stellte (zu Spruchpunkt I.) über den unstrittigen Sachverhalt hinaus fest, die Behörde habe sowohl vor als auch nach der erstmaligen Titelerteilung polizeiliche Ermittlungen durchgeführt, wobei sich der Verdacht des Vorliegens einer Aufenthaltsehe jeweils bestätigt habe. Dennoch habe die Behörde den Aufenthaltstitel erteilt und über Antrag vom 14. Juni 2016 verlängert, ohne weitere Ermittlungen durchzuführen. Aufgrund des Verlängerungsantrags vom 23. Juni 2017 habe sie den Verdacht des Vorliegens einer Aufenthaltsehe erneut aufgegriffen, den Revisionswerber zu Äußerungen aufgefordert und letztlich den bekämpften Bescheid erlassen.
Das Verwaltungsgericht stellte weiters (zu Spruchpunkt II.) fest, im Jänner 2018 sei es zur Trennung des Revisionswerbers von S K gekommen, die Ehe sei sodann am 27. Juli 2018 im Einvernehmen rechtskräftig geschieden worden, was erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 4. Dezember 2018 bekannt geworden sei. In Bezug auf die Wohnverhältnisse habe der Revisionswerber mit dem Verlängerungsantrag vom 23. Juni 2017 den Mietvertrag der S K (gültig bis 31. Oktober 2018) über deren Wohnung vorgelegt, einen weiteren Nachweis über einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft ‑ insbesondere an seiner aktuellen Meldeadresse ‑ habe er nicht erbracht.
3.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht (zu Spruchpunkt I.), das „Erschleichen“ eines Bescheids iSd § 69 Abs. 1 Z 1 AVG setze voraus, dass die Behörde auf die von der Partei in Irreführungsabsicht gemachten unrichtigen Angaben angewiesen gewesen sei und weitere Erhebungen nicht zumutbar gewesen seien. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt, da sich der Revisionswerber zwar auf seine Ehe mit S K berufen habe, für die Behörde jedoch bereits bei der Titelerteilung deutliche Anhaltspunkte vorgelegen seien, dass es sich um eine Aufenthaltsehe handeln könne. Allfälligen Zweifeln hätte sie durch weitere Ermittlungen Rechnung tragen müssen, sie habe davon jedoch abgesehen und den Aufenthaltstitel ohne Weiteres erteilt sowie in der Folge verlängert. Sie habe daher die Wiederaufnahme der Verfahren zu Unrecht ausgesprochen.
Das Verwaltungsgericht führte ferner (zu Spruchpunkt II.) aus, die Verlängerung des Aufenthaltstitels setze gemäß § 46 Abs. 1 NAG voraus, dass der Antragsteller (weiterhin) Familienangehöriger iSd § 2 Abs. 1 Z 9 NAG sei. Vorliegend sei die Trennung des Revisionswerbers von S K im Jänner 2018 erfolgt, seitdem sei kein gemeinsames Ehe- und Familienleben mehr geführt worden, die Ehescheidung sei schließlich am 23. Juli 2018 erfolgt, sodass der Revisionswerber kein Familienangehöriger mehr sei und es an der diesbezüglichen besonderen Erteilungsvoraussetzung fehle. Gemäß § 27 Abs. 1 NAG komme zwar die Erteilung eines Aufenthaltstitels auch in einem solchen Fall in Betracht, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 NAG vorliege und auch die Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs. 2 NAG erfüllt seien. Gegenständlich sei jedoch einerseits das Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG verwirklicht, da sich der Revisionswerber bis zuletzt auf seine Ehe mit S K berufen habe, obwohl er jedenfalls seit Jänner 2018 kein gemeinsames Ehe- und Familienleben mehr geführt habe und die Ehescheidung im Juli 2018 erfolgt sei. Andererseits fehle auch die Erteilungsvoraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z 2 NAG, da der Revisionswerber einzig den (zudem nur bis 31. Oktober 2018 gültigen) Mietvertrag der S K vorgelegt habe, wobei aufgrund der Ehescheidung seine Benützungsrechte an der Wohnung weggefallen seien und er dort auch nicht mehr gemeldet sei. Gemäß § 27 Abs. 2 NAG komme zwar die Erteilung des Aufenthaltstitels auch bei Fehlen der vorgenannten Erteilungsvoraussetzungen in Betracht, wenn einer der dort vorgesehenen Ausnahmetatbestände verwirklicht sei. Gegenständlich käme aber einzig das Vorliegen besonders berücksichtigungswürdiger Gründe iSd § 27 Abs. 2 Z 3 iVm Abs. 3 NAG in Frage, wobei dieser Tatbestand nicht erfüllt sei.
3.4. Das Verwaltungsgericht sprach weiters aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4.1. Gegen dieses Erkenntnis, und zwar ausschließlich gegen dessen Spruchpunkt II., wendet sich die ‑ Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende ‑ außerordentliche Revision.
4.2. Die Behörde nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
5. Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat ‑ erwogen:
Die Revision ist nach Maßgabe der nachfolgenden Erwägungen zulässig und auch begründet.
6.1. Gemäß § 27 Abs. 1 NAG haben Familienangehörige mit einem Aufenthaltstitel (unter anderem) gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 NAG ein eigenständiges Niederlassungsrecht. Liegen die Voraussetzungen für den „Familiennachzug“ nicht mehr vor, so ist dem Familienangehörigen dennoch ein ‑ jedenfalls dem bisherigen Aufenthaltszweck entsprechender ‑ Aufenthaltstitel auszustellen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 NAG besteht und die Erteilungsvoraussetzungen des § 11 Abs. 2 NAG erfüllt sind.
6.2. Vorliegend ist unstrittig, dass der ‑ zuletzt über einen Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a NAG verfügende ‑ Revisionswerber im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (vgl. etwa VwGH 5.5.2022, Ra 2018/22/0201, Pkt. 9.2.) die Voraussetzungen für den „Familiennachzug“ nicht mehr erfüllte, weil seine Ehe mit S K im Juli 2018 geschieden worden ist, er folglich die Eigenschaft als Familienangehöriger iSd § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht mehr aufwies und daher die diesbezügliche besondere Erteilungsvoraussetzung nicht erfüllte.
Gemäß § 27 Abs. 1 NAG stand bzw. steht dem Revisionswerber jedoch auch in einem solchen Fall ein verselbständigtes Aufenthaltsrecht zu, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 NAG vorliegt und die Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs. 2 NAG erfüllt sind (vgl. VwGH 28.7.2021, Ra 2019/22/0025, Pkt. 8. und 9.).
6.3. Gegenständlich ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass einerseits das Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG vorliege und andererseits die Erteilungsvoraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z 2 NAG nicht erfüllt sei.
Das Verwaltungsgericht wich dabei jedoch ‑ wie in der Revision zutreffend geltend gemacht und im Folgenden näher dargelegt wird ‑ von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ab.
7.1. Gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 NAG darf ein Aufenthaltstitel einem Fremden nicht erteilt werden, wenn (unter anderem) eine Aufenthaltsehe (§ 30 Abs. 1 NAG) „vorliegt“.
Der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG kann daher ‑ schon nach dem klaren Wortlaut der Bestimmung ‑ nur während des aufrechten Bestehens einer Aufenthaltsehe herangezogen werden (vgl. ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 121 zur Stammfassung des NAG, wonach in der genannten Regelung auf „eine bestehende Scheinehe“ abgestellt werde und „während des Bestehens“ einer solchen Beziehung keine Niederlassung begründet werden könne; siehe auch VwGH 26.2.2013, 2009/22/0081).
Dabei kommt es auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts an. Liegt in diesem Zeitpunkt keine Aufenthaltsehe (mehr) vor ‑ etwa weil die Ehe inzwischen geschieden wurde ‑ so ist der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG nicht mehr heranzuziehen (vgl. neuerlich VwGH 26.2.2013, 2009/22/0081; VwGH 22.4.2021, Ra 2020/22/0237, Rn. 11).
7.2. Im Hinblick darauf ging ‑ wie der Revisionswerber zutreffend rügt ‑ das Verwaltungsgericht fallbezogen zu Unrecht davon aus, dass das Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG verwirklicht sei, weil sich der Revisionswerber „bis zuletzt“ auf seine Ehe mit S K berufen habe, obwohl er jedenfalls seit Jänner 2018 kein gemeinsames Ehe- und Familienleben mehr geführt habe und die Ehescheidung im Juli 2018 erfolgt sei.
Wie der Revisionswerber ohnehin selbst vor dem Verwaltungsgericht letztlich doch angab, wurde seine Ehe mit S K im Juli 2018 rechtskräftig geschieden. Aufgrund dessen lag jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts jedenfalls keine Aufenthaltsehe mehr vor, sodass das in Rede stehende Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 4 NAG nicht verwirklicht ist.
8.1. Im Übrigen ist jedoch ‑ wie der Revisionswerber zutreffend bemängelt ‑ dem Verwaltungsgericht in Bezug auf die von ihm als nicht erfüllt erachtete Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 2 NAG eine Verletzung des „Überraschungsverbots“ bzw. auch des Parteiengehörs anzulasten.
8.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist unter dem im Verwaltungsverfahren zu beachtenden „Überraschungsverbot“ zu verstehen, dass die Behörde in ihre rechtliche Würdigung keine Sachverhaltselemente einbeziehen darf, die der Partei nicht bekannt waren. Der Verwaltungsgerichtshof hat dazu bereits klargestellt, dass die zum „Überraschungsverbot“ entwickelten Grundsätze auch für das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten maßgeblich sind, weil von diesen auf dem Boden des § 17 VwGVG sowohl das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG als auch der Grundsatz der Einräumung von Parteiengehör im Sinn des § 45 Abs. 3 AVG zu beachten sind (vgl. etwa VwGH 11.5.2017, Ra 2015/21/0240, Rn. 15; siehe dazu auch VwGH 17.12.2014, Ro 2014/03/0066, Pkt. IV.A.4.2.1., 4.2.2.).
8.3. Gegen diese Grundsätze hat das Verwaltungsgericht aber verstoßen, indem es erstmals im angefochtenen Erkenntnis die Versagung eines Aufenthaltstitels gemäß § 27 Abs. 1 NAG (auch) auf das angenommene Nichtvorliegen eines Anspruchs auf eine ortsübliche Unterkunft iSd § 11 Abs. 2 Z 2 NAG (wobei die Frage vorher nie Thema war) stützte, ohne die diesbezüglichen Tatsachenannahmen dem Revisionswerber vorweg zur Kenntnis zu bringen und ihm die Erstattung eines entsprechenden Tatsachenvorbringens und geeigneter Beweisanbote (etwa Vorlage urkundlicher Nachweise über seinen Anspruch auf eine ortsübliche Unterkunft insbesondere an seiner neuen Meldeanschrift oder Beantragung seiner Vernehmung oder jene weiterer Beweispersonen in der mündlichen Verhandlung zur betreffenden Thematik) einzuräumen.
Bei Unterbleiben des Mangels wäre es ‑ wie in der Revision hinreichend dargelegt wird ‑ dem Revisionswerber möglich gewesen, den Sachverhalt entsprechend aufzuklären und vor allem geeignete Beweise für das Vorhandensein einer ortsüblichen Unterkunft zu erbringen, auf deren Grundlage das Verwaltungsgericht zu einem anderen für den Rechtsstandpunkt des Revisionswerbers günstigeren Ergebnis hätte gelangen können.
9. Nach dem Vorgesagten hat somit das Verwaltungsgericht das soweit angefochtene Erkenntnis mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet.
Die Entscheidung war schon deshalb im Umfang ihres Spruchpunkts II. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
10. Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 31. Mai 2023
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