VwGH Ra 2018/22/0201

VwGHRa 2018/22/02015.5.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 27. Juni 2018, LVwG‑750555/2/BP/BD, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Linz‑Land; mitbeteiligte Partei: F E, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6), zu Recht erkannt:

Normen

Brexit-BegleitG 2019
EURallg
FrPolG 2005 §31 Abs1 Z2
NAG 2005 §2 Abs1 Z6
NAG 2005 §21 Abs2
NAG 2005 §21 Abs2 Z1
NAG 2005 §21 Abs2 Z3
NAG 2005 §21 Abs2 Z4
NAG 2005 §21 Abs2 Z5
NAG 2005 §21 Abs2 Z6
NAG 2005 §21 Abs2 Z7
NAG 2005 §21 Abs2 Z8
NAG 2005 §21 Abs2 Z9
NAG 2005 §21 Abs3
NAG 2005 §21 Abs5
NAG 2005 §21 Abs6
NAG 2005 §45
NAG 2005 §45 Abs1
NAG 2005 §45 Abs2a
VwGG §42 Abs1
VwRallg
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2018220201.L00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat der mitbeteiligten Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1. Dem Mitbeteiligten ‑ einem seit seiner Geburt in Österreich aufhältigen türkischen Staatsangehörigen ‑ war mit Bescheid der Oberösterreichischen Landesregierung vom 10. Mai 1999 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden.

Mit Bescheid der Oberösterreichischen Landesregierung vom 15. März 2018 wurde festgestellt, dass der Mitbeteiligte die österreichische Staatsbürgerschaft mit Wirkung vom 22. Jänner 2018 infolge Wiedererwerbs der türkischen Staatsangehörigkeit verloren habe.

2.1. Am 12. März 2018 stellte der Mitbeteiligte bei der Bezirkshauptmannschaft Linz‑Land (im Folgenden: Behörde) einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“.

Die Behörde setzte den Mitbeteiligten im Rahmen des Parteiengehörs davon in Kenntnis, dass er die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 41a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) nicht erfülle.

Der Mitbeteiligte änderte daraufhin den Antrag dahin ab, dass er die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ gemäß § 45 Abs. 1 NAG begehrte.

2.2. Mit Bescheid vom 17. Mai 2018 wies die Behörde den Antrag des Mitbeteiligten ab. Sie führte begründend im Wesentlichen aus, die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 45 Abs. 1 NAG seien nicht erfüllt. Der Mitbeteiligte sei zwar in den letzten fünf Jahren ununterbrochen tatsächlich niedergelassen gewesen, der Aufenthalt sei jedoch seit dem Verlust der Staatsbürgerschaft mangels Vorliegen eines gültigen Visums unrechtmäßig. Ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels bestehe auch nicht aufgrund des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80). Der Mitbeteiligte sei nämlich erst seit dem 22. Jänner 2018 wieder türkischer Staatsangehöriger, aus dem seither verstrichenen kurzen Zeitraum könnten keine Rechte nach dem Assoziierungsabkommen EWG‑Türkei abgeleitet werden. Da er über kein gültiges Visum verfüge, sei zudem der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG verwirklicht.

2.3. Der Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, § 45 Abs. 1 NAG setze nicht voraus, dass die ununterbrochene tatsächliche Niederlassung in den letzten fünf Jahren rechtmäßig gewesen sei. Die gegenteilige Ansicht der Behörde würde zu einer grundrechtswidrigen Ungleichbehandlung von ehemaligen Österreichern im Vergleich mit ehemaligen Asylberechtigten führen. Es sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb kein Anspruch nach dem Assoziierungsabkommen bestehen sollte, sei doch der Mitbeteiligte jedenfalls bis zum Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft dem Abkommen unterlegen und daher die betreffende Zeit anzurechnen. Auch der Hinweis auf § 11 Abs. 1 Z 5 NAG versage, müsste doch der Aufenthaltstitel jedenfalls gemäß § 11 Abs. 3 NAG in Verbindung mit Art. 8 EMRK erteilt werden.

3.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 27. Juni 2018 erteilte das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (im Folgenden: Verwaltungsgericht) ‑ in Stattgebung der Beschwerde des Mitbeteiligten ‑ den beantragten Aufenthaltstitel. Es führte begründend im Wesentlichen aus, das in § 45 Abs. 1 NAG enthaltene Erfordernis der ununterbrochenen tatsächlichen Niederlassung in den letzten fünf Jahren impliziere die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. Da es fallbezogen an der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts fehle, seien die Erteilungsvoraussetzungen des § 45 NAG nicht erfüllt. Dem Mitbeteiligten komme jedoch die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 bzw. des Art. 41 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen zugute, weil er bereits seit Jahren erwerbstätig sei und über ein regelmäßiges Einkommen verfüge. Für die Anwendbarkeit der Stillhalteklausel sei ohne Bedeutung, dass der Mitbeteiligte die türkische Staatsangehörigkeit erst rund eineinhalb Monate vor der gegenständlichen Antragstellung wieder erworben habe, sei doch keine bestimmte Zeitdauer erforderlich. Da der Mitbeteiligte die Voraussetzungen des aufgrund der Stillhalteklausel anzuwendenden § 24 Z 1 Fremdengesetz 1997 (FrG 1997) erfülle, sei ihm der beantragte Aufenthaltstitel zu erteilen.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht zulässig sei.

4. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende Revision, zu der der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revision ist zulässig, sie ist jedoch - im Ergebnis - nicht berechtigt.

6. Die Frage, ob sich der Mitbeteiligte mit Erfolg auf eine assoziationsrechtliche Stillhalteklausel berufen kann, was die Revision in Abrede stellt, stellt sich indes nicht.

7.1. Gemäß § 45 Abs. 1 NAG kann Drittstaatsangehörigen, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen tatsächlich niedergelassen waren, ‑ unter weiteren (hier nicht strittigen und daher nicht näher zu erörternden) Voraussetzungen ‑ ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ erteilt werden.

7.2. Das Verwaltungsgericht vertrat im angefochtenen Erkenntnis die Ansicht, dass das in § 45 Abs. 1 NAG vorausgesetzte Erfordernis der ununterbrochenen Niederlassung in den letzten fünf Jahren die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts impliziert. Diese Auffassung erweist sich als zutreffend.

Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits zu § 24 FrG 1997 ‑ der Vorgängerbestimmung des § 45 Abs. 1 NAG ‑ ausgesprochen hat, war die dortige Wendung (seit fünf Jahren im Bundesgebiet dauernd niedergelassen) dahin auszulegen, dass die Niederlassung durch eine entsprechende Berechtigung hierzu gedeckt sein musste (vgl. VwGH 23.10.2002, 2002/12/0094).

Auch nach den Gesetzesmaterialien zu § 45 Abs. 1 NAG (vgl. ErläutRV 952 BlgNR 22. GP  137) ist Voraussetzung für die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und für die Erteilung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EG“ ein ununterbrochener und rechtmäßiger Aufenthalt von mindestens fünf Jahren im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats.

Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ schon zur aktuellen Fassung des § 45 Abs. 1 NAG ‑ ebenso bereits ausgesprochen, dass für die Erteilung des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt ‑ EU“ gemäß § 45 NAG eine in den letzten fünf Jahren ununterbrochene rechtmäßige Niederlassung erforderlich ist (vgl. VwGH 9.8.2018, Ra 2018/22/0045, Rn. 10).

7.3. Demnach ist das Verwaltungsgericht im hier zur beurteilenden Fall ohne Rechtsirrtum zum Ergebnis gelangt, dass die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels gemäß § 45 Abs. 1 NAG die Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthalts voraussetzt.

8.1. Das Verwaltungsgericht und der Revisionswerber irren jedoch in ihrer weiteren Annahme, dass der Aufenthalt des Mitbeteiligten in den letzten fünf Jahren nicht durchgehend rechtmäßig gewesen sei.

8.2. Gemäß § 21 Abs. 1 NAG sind Erstanträge grundsätzlich vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen, die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten. Abweichend davon sind jedoch zur Antragstellung im Inland (unter anderem) gemäß § 21 Abs. 2 Z 3 NAG Fremde bis längstens sechs Monate nach Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft (oder der Staatsangehörigkeit der Schweiz bzw. eines EWR‑Staates) berechtigt.

Gemäß § 21 Abs. 6 NAG schafft die Inlandsantragstellung nach Abs. 2 Z 1, Z 4 bis 9, Abs. 3 und 5 kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht. Für die Inlandsantragstellung (unter anderem) gemäß § 21 Abs. 2 Z 3 NAG ist eine solche Regelung freilich nicht getroffen.

Nach den Gesetzesmaterialien zum Brexit ‑ Begleitgesetz 2019 (vgl. ErläutRV 491 BlgNR 26. GP  8, welche die hier maßgebliche Rechtslage nachträglich klarstellen) ergibt sich aus § 21 Abs. 6 NAG, dass in Verbindung mit einer Inlandsantragstellung ‑ unter anderem im Fall des Abs. 2 Z 3 ‑ ein Abwarten der Entscheidung im Inland zulässig ist. Dies folge im Umkehrschluss daraus, dass in Abs. 6 jene Fälle aufgezählt seien, in denen ein solches Abwarten im Inland nicht zulässig sei. Das heiße, in allen anderen nicht genannten Fällen des Abs. 2 dürfe die Entscheidung im Inland abgewartet werden. Damit verbunden sei somit auch ein weiteres Aufenthaltsrecht in Österreich bis zur Entscheidung der Behörde.

8.3. Vorliegend war nach dem unstrittigen Sachverhalt dem Mitbeteiligten zunächst im Jahr 1999 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen worden, wobei er diese mit Wirkung vom 22. Jänner 2018 infolge Wiedererwerbs der türkischen Staatsangehörigkeit verloren hat. Bis zu diesem Zeitpunkt war daher sein Aufenthalt im Bundesgebiet als österreichischer Staatsbürger rechtmäßig.

Im Anschluss an den Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft verfügte der Mitbeteiligte zwar über keinen Aufenthaltstitel, er beantragte jedoch bereits am 12. März 2018 die Erteilung eines solchen. Da diese Antragstellung innerhalb von sechs Monaten nach dem Verlust der Staatsbürgerschaft erfolgte, war er gemäß § 21 Abs. 2 Z 3 NAG berechtigt, den Antrag im Inland zu stellen und die Entscheidung hier abzuwarten. Es kam ihm daher insofern ein weiteres durchgehendes Aufenthaltsrecht bis zur Entscheidung über seinen Antrag zu.

Im Hinblick darauf war aber der Mitbeteiligte, entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts und des Revisionswerbers, in den letzten fünf Jahren ununterbrochen ‑ auch über den Zeitpunkt des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft hinaus ‑ tatsächlich (rechtmäßig) im Bundesgebiet niedergelassen.

9.1. Nicht gefolgt werden kann weiters der Rechtsansicht des Revisionswerbers, die Zeit einer Niederlassung als österreichischer Staatsbürger sei auf die in § 45 Abs. 1 NAG vorausgesetzte fünfjährige Niederlassung nicht anzurechnen, weil die genannte Bestimmung und die zugrunde liegende Richtlinie 2003/109/EG nur auf Drittstaatsangehörige anzuwenden seien.

9.2. In dem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass das Verwaltungsgericht seine Entscheidung in der Regel an der im Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen Sach- und Rechtslage auszurichten hat (vgl. etwa VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0059, Rn. 13).

Vorliegend hat der Mitbeteiligte unstrittig mit Wirkung vom 22. Jänner 2018 die türkische Staatsangehörigkeit wieder erworben, sodass er jedenfalls im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts Drittstaatsangehöriger war.

9.3. Nicht erforderlich war ‑ wie der Revisionswerber verkennt ‑ das ununterbrochene Vorliegen der Eigenschaft als Drittstaatsangehöriger in den letzten fünf Jahren, wird doch ein derartiges Erfordernis in § 45 Abs. 1 NAG nicht aufgestellt. Es widerspräche auch dem Normzweck (Verschaffung eines unbefristeten Niederlassungsrechts für langfristig Aufenthaltsberechtigte) und stellte eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar, wenn einem Antragsteller, der ‑ wie hier ‑ zwar (zwingend) im Entscheidungszeitpunkt Drittstaatsangehöriger war, in den fünf Jahren davor aber zeitweise auch als österreichischer Staatsbürger rechtmäßig niedergelassen war, der Aufenthaltstitel (allein) deshalb versagt würde (siehe nunmehr auch § 45 Abs. 2a NAG, der eine Anrechnung der Aufenthaltszeit als ehemaliger EWR‑Bürger ‑ gemäß § 2 Abs. 1 Z 6 NAG kein Drittstaatsangehöriger ‑ vorsieht).

10. Insgesamt war daher der Aufenthalt des Mitbeteiligten in den letzten fünf Jahren vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts ununterbrochen rechtmäßig, eine durchgehende Eigenschaft als Drittstaatsangehöriger war ‑ wobei sich aus der Richtlinie 2003/109/EG nichts Anderes ergibt ‑ nicht erforderlich.

Die im Verfahren strittigen Erteilungsvoraussetzungen sind somit erfüllt, das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen wurde nicht beanstandet. Folglich hat das Verwaltungsgericht den beantragten Aufenthaltstitel im Ergebnis zu Recht ‑ wenn auch mit einer unzutreffenden Begründung ‑ erteilt.

Die Revision war deshalb gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

11. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 5. Mai 2022

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