VwGH Ra 2019/22/0025

VwGHRa 2019/22/002528.7.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des M T, vertreten durch Mag. Dr. Ralf Heinrich Höfler, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Untere Viaduktgasse 6/6, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 19. November 2018, VGW‑151/005/2062/2018‑2, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

NAG 2005 §11 Abs1
NAG 2005 §11 Abs2
NAG 2005 §2 Abs1 Z9 idF 2018/I/056
NAG 2005 §27 Abs1 idF 2018/I/056
NAG 2005 §27 idF 2018/I/056
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019220025.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1. Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, verfügte zuletzt über einen Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) mit einer Gültigkeitsdauer bis zum 24. Mai 2018.

2.1. Mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien (im Folgenden: Behörde) vom 13. Dezember 2017 wurde der dem Revisionswerber erteilte Aufenthaltstitel gemäß § 28 Abs. 5 NAG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 9 NAG entzogen. Der Revisionswerber habe sich nämlich am 23. Oktober 2017 von seiner zusammenführenden Ehegattin scheiden lassen, sodass die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt seien und der Aufenthaltstitel daher gemäß § 28 Abs. 5 NAG zu entziehen sei.

2.2. Der Revisionswerber erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem Vorbringen, gemäß § 28 Abs. 5 in Verbindung mit § 27 Abs. 1 NAG sei dem Revisionswerber nach der Ehescheidung von der zusammenführenden Person ein eigenständiger Aufenthaltstitel auszustellen, „sofern eine Zerrüttung der Ehe nicht binnen Dreijahresfrist (...) vorgehalten werde“, was hier nicht der Fall sei. Vorliegend sei auch kein Erteilungshindernis im Sinn des § 11 NAG gegeben. Würde man der unzutreffenden Rechtsansicht der Behörde folgen, „so könnte jedem Fremden, der seinen Aufenthaltstitel über den zusammenführenden Ehegatten abgeleitet hat, der Aufenthaltstitel nach Beendigung der Ehe entzogen werden“, wobei dies auch für den Fall des Todes des zusammenführenden Ehegatten während aufrechter Ehe gelten müsste.

3.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde als unbegründet ab.

Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung ‑ über den eingangs (Punkt 1.) wiedergegebenen unstrittigen Sachverhalt hinaus ‑ folgende Feststellungen zugrunde:

Am 11. November 2016 habe der Revisionswerber innerhalb des zulässigen sichtvermerksfreien Aufenthalts im Bundesgebiet einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Zweck der Familienzusammenführung „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ eingebracht; er habe sich dabei auf seine am 1. Juni 2016 geschlossene Ehe mit einer in Österreich zum Daueraufenthalt berechtigten Drittstaatsangehörigen berufen. Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 24. Mai 2017 sei dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ mit einer Gültigkeit vom 24. Mai 2017 bis zum 24. Mai 2018 erteilt worden. Am 3. November 2017 sei die Ehegattin des Revisionswerbers bei der Behörde erschienen und habe angegeben, dass sie seit dem 23. Oktober 2017 rechtskräftig vom Revisionswerber geschieden sei. Dem Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 23. Oktober 2017 sei zu entnehmen, dass die Ehe gemäß § 55a Ehegesetz einvernehmlich geschieden worden sei.

In seiner rechtlichen Beurteilung ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass der Revisionswerber aufgrund der Scheidung von seiner Ehegattin, von der er sein Aufenthaltsrecht abgeleitet habe, nicht mehr Familienangehöriger im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG sei. Eine wesentliche Voraussetzung zur Erteilung des Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ liege somit nicht mehr vor. Soweit der Revisionswerber vorbringe, die Entziehung des Aufenthaltstitels sei rechtswidrig, weil ‑ wenn man der unrichtigen Auffassung der Behörde folgen würde ‑ der Aufenthaltstitel auch entzogen werden müsste, wenn der zusammenführende Ehegatte während aufrechter Ehe versterbe, sei darauf zu verweisen, dass § 27 Abs. 2 NAG für diesen Fall Vorsorge getroffen habe. Im Hinblick darauf, dass die Ehe des Revisionswerbers nicht aufgrund des überwiegenden Verschuldens der zusammenführenden Ehegattin, sondern im Einvernehmen geschieden worden sei, und auch kein sonstiger besonders berücksichtigungswürdiger Grund vorgebracht worden sei, sei die Entziehung des Aufenthaltstitels zu Recht erfolgt.

Auf § 27 Abs. 1 NAG ging das Verwaltungsgericht nicht näher ein.

3.2. Das Verwaltungsgericht sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die ‑ Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende ‑ außerordentliche Revision. Der Revisionswerber führt zur Zulässigkeit der Revision aus, das Verwaltungsgericht habe in Verkennung der Rechtslage § 27 Abs. 2 NAG ‑ statt richtig § 27 Abs. 1 NAG ‑ angewendet. Bei richtiger Interpretation des Gesetzes hätte von einer Entziehung des Aufenthaltstitels ‑ infolge der Erlangung eines eigenständigen Niederlassungsrechts durch den Revisionswerber nach der Ehescheidung ‑ Abstand genommen werden müssen.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat ‑ nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die Behörde von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand nahm ‑ erwogen:

Die Revision ist infolge Verkennung der Rechtslage durch das Verwaltungsgericht zulässig und auch begründet.

6. Die maßgeblichen Bestimmungen des Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, lauten auszugsweise:

„Begriffsbestimmungen

§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist

[...]

9. Familienangehöriger: wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie);

[...]“

„Arten und Form der Aufenthaltstitel

§ 8. (1) Aufenthaltstitel werden erteilt als:

[...]

2. Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“, der zur befristeten Niederlassung und zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit und einer unselbständigen Erwerbstätigkeit gemäß § 17 AuslBG berechtigt;

[...]“

„Niederlassungsrecht von Familienangehörigen

§ 27. (1) Familienangehörige mit einem Aufenthaltstitel gemäß § 8 Abs. 1 Z 2, 4, 5 und 8 haben ein eigenständiges Niederlassungsrecht. Liegen die Voraussetzungen für den Familiennachzug nicht mehr vor, ist dem Familienangehörigen ein Aufenthaltstitel auszustellen, dessen Aufenthaltszweck jedenfalls dem bisherigen Aufenthaltszweck entspricht, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 vorliegt und er die Erteilungsvoraussetzungen des § 11 Abs. 2 erfüllt.

(2) Dem Familienangehörigen ist trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 4 bis 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 ein Aufenthaltstitel auszustellen, dessen Aufenthaltszweck jedenfalls dem bisherigen Aufenthaltszweck entspricht,

1. bei Tod des Ehegatten, eingetragenen Partners oder Elternteils;

2. bei Scheidung der Ehe oder Auflösung der eingetragenen Partnerschaft wegen überwiegenden Verschuldens des anderen Ehegatten oder eingetragenen Partners oder

3. aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen.

(3) Besonders berücksichtigungswürdige Gründe im Sinne des Abs. 2 Z 3 liegen insbesondere vor, wenn [...]“

„Rückstufung und Entziehung eines Aufenthaltstitels

§ 28. [...]

(5) Aufenthaltstitel sind zu entziehen, wenn die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des 2. Teiles nicht mehr vorliegen. Von einer Entziehung kann abgesehen werden, wenn ein Fall des § 27 Abs. 1 bis 3 vorliegt oder dem Fremden im Rahmen eines Zweckänderungsverfahrens (§ 26) ein anderer Aufenthaltstitel zu erteilen ist. § 10 Abs. 3 Z 1 gilt.

[...]“

7. Unbestritten ist, dass im Zeitpunkt der Erlassung des mit Beschwerde beim Verwaltungsgericht angefochtenen Bescheids und jedenfalls auch im Entscheidungszeitpunkt des Verwaltungsgerichts die Ehe des Revisionswerbers nicht mehr aufrecht und daher seine Angehörigeneigenschaft im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG nicht mehr gegeben war (vgl. VwGH 10.11.2010, 2008/22/0123, wonach geschiedene Ehegatten nicht mehr als Familienangehörige im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 9 NAG zu werten sind).

8.1. Die Vorschriften des § 27 NAG eröffnen einem ausländischen Ehepartner den Übergang von einem ehegattenbezogenen akzessorischen zu einem verselbstständigten Aufenthaltsrecht (vgl. Kind in Abermann u.a., NAG2 (2019) § 27 Rz. 1).

8.2. Die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 330 BlgNR 24. GP  46) führen zu § 27 NAG unter anderem aus:

„Durch die Neufassung des § 27 soll nun eine über die Stammfassung hinausgehende Verbesserung des aufenthaltsrechtlichen Status von Familienangehörigen mit einer Niederlassungsbewilligung erreicht werden. Es wird explizit klargestellt, dass solche Familienangehörige über ein eigenständiges Niederlassungsrecht verfügen und ihnen auch nach Wegfall der Voraussetzungen für den Familiennachzug eine entsprechende Niederlassungsbewilligung auszustellen ist, wenn sie die Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 und 2 erfüllen. Inhaber des Niederlassungsrechts sowie Verfahrenspartei war entsprechend dem Parteibegriff des AVG naturgemäß schon immer der Familienangehörige selbst, doch entfällt nun die Ableitung des Aufenthaltszwecks während der ersten fünf Jahre.

Bei Wegfall der Familieneigenschaft aus bestimmten Gründen ‑ etwa unverschuldete Scheidung ‑ ist eine Niederlassungsbewilligung auch ohne Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen auszustellen (Abs. 2) [...].“

8.3. Die Eigenständigkeit des Niederlassungsrechts für Familienangehörige hat zur Folge, dass es auf das Vorliegen der Voraussetzungen für den Familiennachzug nicht ankommt. Liegen diese Voraussetzungen nicht mehr vor, ist also die familiäre Lebensgemeinschaft nicht mehr gewahrt, hat der sich in Österreich aufhaltende Angehörige einen eigenständigen Rechtsanspruch auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels mit dem bisher gewährten Aufenthaltszweck, wenn die in § 27 NAG genannten Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Kind in Abermann aaO § 27 Rz. 4).

9. Nach dem klaren Gesetzeswortlaut des § 27 Abs. 1 NAG besteht dieser Anspruch jedenfalls, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 NAG vorliegt und die Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 11 Abs. 2 NAG erfüllt sind. Mit diesen entscheidungsrelevanten Umständen hat sich das Verwaltungsgericht aufgrund einer verfehlten Rechtsansicht (bisher) nicht auseinandergesetzt. Vielmehr hat es ausschließlich auf § 27 Abs. 2 NAG abgestellt.

10. Das angefochtene Erkenntnis war deshalb wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

11. Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. Juli 2021

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