VwGH Ra 2017/22/0027

VwGHRa 2017/22/002721.3.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schreiber, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 20. Dezember 2016, VGW-151/063/8347/2016-12, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Partei: M S, vertreten durch Mag. Wolfgang Moser, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wächtergasse 1/11), den Beschluss gefasst:

Normen

AuslBG §24;
AVG §37;
AVG §45 Abs2;
NAG 2005 §41 Abs2 Z4;
NAG 2005 §41 Abs4;
VwGVG 2014 §17;

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina, beantragte am 3. März 2016 die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte" gemäß § 41 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2 Mit Bescheid vom 31. Mai 2016 wies der Landeshauptmann von Wien (Behörde) diesen Antrag ab, weil der Mitbeteiligte keine selbständige Schlüsselkraft sei. Die Behörde verwies darauf, dass die Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien (im Folgenden: AMS) am 7. April 2016 und am 30. Mai 2016 jeweils ein negatives Gutachten erstellt habe. Da die Gutachten schlüssig negativ seien, müsse der Antrag ohne weiteres abgewiesen werden.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. Dezember 2016 gab das Verwaltungsgericht der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten Folge, behob den bekämpften Bescheid und gab dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte selbständige Schlüsselkraft" gemäß § 41 Abs. 2 NAG für die Dauer von 12 Monaten statt. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für unzulässig erklärt.

Das Verwaltungsgericht gab die beiden Gutachten des AMS wieder. Dem zweiten Gutachten (vom 30. Mai 2016) sei eine Stellungnahme des Mitbeteiligten zugrunde gelegen, der zufolge die A GmbH, deren alleiniger handelsrechtlicher Geschäftsführer und Mitgesellschafter der Mitbeteiligte sei, derzeit neun Angestellte und fünf Arbeiter beschäftige (mit einer Ausnahme alle vollzeitbeschäftigt). Mit Stand 12. Oktober 2016 seien bei der A GmbH - so das Verwaltungsgericht - 14 Vollzeitmitarbeiter, zwei Teilzeitbeschäftige und eine geringfügig beschäftigte Mitarbeiterin beschäftigt gewesen. In der Verhandlung, an der die Behörde nicht teilgenommen habe, habe der Mitbeteiligte angegeben, dass die A GmbH ihre Mitarbeiter - im Gegensatz zu vielen anderen Bauunternehmen - ganzjährig beschäftigte. Er selbst hielte sich regelmäßig (zwei bis fünf Tage pro Monat) in Österreich auf und wäre ansonsten mit dem Mitarbeiter, der die Geschäfte in seiner Abwesenheit führe, in ständigem Kontakt (telefonisch bzw. über das Internet). Die A GmbH existierte seit 2015, die Umsätze wären im Jahr 2016 stark gestiegen.

Mit Eingabe vom 10. November 2016 sei eine Auflistung der aktuellen (16) Bauvorhaben vorgelegt worden. Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, dass der Mitbeteiligte auf Grund der Zunahme des Tätigkeitsumfangs der A GmbH beabsichtige, sich länger in Österreich aufzuhalten.

In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, dass das Gutachten des AMS vom Antragsteller entkräftet oder widerlegt werden könne und dass das Verwaltungsgericht die Beurteilung, ob der Mitbeteiligte die Voraussetzungen des § 24 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) erfülle, selbständig vornehmen könne. Ein maßgeblicher Transfer von Investitionskapital sei weder behauptet noch bescheinigt worden. Auf Grund des Ermittlungsverfahrens sei jedoch davon auszugehen, dass die A GmbH langfristig und ganzjährig deutlich mehr als zehn Arbeitnehmer in Vollzeit beschäftigen werde können. Der Mitbeteiligte habe eine kontinuierliche Auftragslage mit zunehmendem Auftragsvolumen nachgewiesen und schlüssig dargelegt, dass er bereits derzeit wesentlichen Einfluss auf die Führung der Geschäfte der A GmbH im Inland nehme. Im Hinblick auf die andauernde Sicherung und Schaffung einer nicht unwesentlichen Anzahl von Arbeitsplätzen sei von einem maßgeblichen gesamtwirtschaftlichen Nutzen auszugehen.

4 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der Behörde.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG hat der Verwaltungsgerichtshof die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

6 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit seiner Revision vor, das Verwaltungsgericht habe durch Unterlassen der Prüfung der besonderen Erteilungsvoraussetzungen mittels Einholung eines Gutachtens des AMS die Rechtslage verkannt. In der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fänden sich keine Hinweise darauf, dass es ohne Vorliegen eines aktuellen Gutachtens bzw. trotz Vorliegen zweier negativer Gutachten zur Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte" kommen könne. Das Verwaltungsgericht müsse auf Basis der aktuellen Sachlage entscheiden, wozu auch eine aktuelle arbeitsmarktrechtliche Einschätzung durch das AMS zähle, und es hätte sich Klarheit über die Richtigkeit der - von jenen des Gutachtens des AMS abweichenden - Angaben des Mitbeteiligten verschaffen müssen. Die Rechtsfrage, ob ein Verwaltungsgericht ein gesetzlich vorgeschriebenes Gutachten des AMS durch eine mündliche Verhandlung ersetzen könne bzw. trotz des Vorliegens zweier negativer Gutachten "auf Basis des mündlichen unerwiesenen Vorbringens der mitbeteiligten Partei" das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte" für eine selbständige Erwerbstätigkeit als Schlüsselkraft bejahen könne, sei von erheblicher Bedeutung.

7 Zu diesem Vorbringen ist Folgendes festzuhalten:

8 Gemäß § 41 Abs. 2 Z 4 NAG kann Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte" erteilt werden, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und ein Gutachten der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice gemäß § 24 AuslBG vorliegt. Ist das Gutachten des AMS in einem Verfahren über den Antrag zur Zulassung im Fall des § 24 AuslBG negativ, ist nach § 41 Abs. 4 zweiter Satz NAG der Antrag ohne weiteres abzuweisen.

9 Aus der Bestimmung des § 24 AuslBG ergibt sich nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass für die Beurteilung, ob eine beabsichtigte selbständige Tätigkeit zur Stellung als Schlüsselkraft führt, der gesamtwirtschaftliche Nutzen der Erwerbstätigkeit maßgeblich ist. Bei der Beurteilung, ob ein derartiger gesamtwirtschaftlicher Nutzen vorliegt, ist insbesondere zu berücksichtigen, ob mit der selbständigen Erwerbstätigkeit ein Transfer von Investitionskapital verbunden ist und/oder ob die Erwerbstätigkeit der Schaffung von neuen oder der Sicherung von gefährdeten Arbeitsplätzen dient. Der Gesetzgeber stellt also darauf ab, ob ein zusätzlicher Impuls für die Wirtschaft zu erwarten ist (siehe das hg. Erkenntnis vom 19. November 2014, 2012/22/0102, mwN).

10 § 41 Abs. 4 zweiter Satz NAG bedeutet nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - bei verfassungskonformer Interpretation der Bestimmungen des § 41 Abs. 4 NAG und des § 24 AuslBG - nicht, dass das Gutachten des AMS durch den Antragsteller nicht entkräftet oder widerlegt werden kann oder dass die Behörde an ein unschlüssiges Gutachten gebunden wäre. Vielmehr gilt auch in Bezug auf die Würdigung dieses Beweismittels, dass die in § 45 AVG verankerten allgemeinen Verfahrensgrundsätze der materiellen Wahrheit, der freien Beweiswürdigung und des Parteiengehörs uneingeschränkt Anwendung finden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 10. Dezember 2013, 2013/22/0200, mwN).

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass einem entsprechenden Vorbringen des Antragstellers (bzw. vom Antragsteller vorgelegten Unterlagen) die Eignung zukommen kann, damit - entgegen einem negativen Gutachten des AMS - die Erfüllung der Voraussetzungen des § 24 AuslBG darzulegen (siehe etwa das bereits zitierte Erkenntnis 2013/22/0200 sowie die Erkenntnisse vom 19. Dezember 2012, 2012/22/0176, vom 13. Oktober 2011, 2008/22/0850, 0851, und vom 23. September 2010, 2008/21/0618). Die Niederlassungsbehörde (bzw. nunmehr auch das Verwaltungsgericht) muss sich mit einem derartigen Vorbringen auseinandersetzen und dieses - ebenso wie das Gutachten des AMS - in seine Beweiswürdigung einbeziehen. Die abschließende Entscheidung kommt der Niederlassungsbehörde zu, die die Schlüssigkeit des Gutachtens des AMS zu überprüfen hat (siehe das hg. Erkenntnis vom 28. August 2008, 2008/22/0030). Eine grundsätzliche Verpflichtung, in jedem Fall ein weiteres Gutachten des AMS einzuholen, wenn das vorliegende Gutachten als unschlüssig erachtet wird, besteht nicht (und stünde auch in Widerspruch zu der dem Antragsteller durch die hg. Rechtsprechung eingeräumten Möglichkeit der Entkräftung bzw. Widerlegung eines Gutachtens).

12 Ausgehend davon hat das Verwaltungsgericht dadurch, dass es die vorliegenden Gutachten des AMS einer eigenständigen Bewertung unterzogen und ohne Einholung eines weiteren Gutachtens eine abweichende Beurteilung vorgenommen hat, nicht die Rechtslage verkannt.

13 Soweit der Revisionswerber moniert, dass ein aktuelles Gutachten des AMS gänzlich fehle, mangelt es insoweit an der erforderlichen Relevanzdarstellung, als nicht dargelegt wird, welche maßgeblichen Unterschiede zwischen den Entscheidungsgrundlagen des (zweiten) AMS-Gutachtens und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes bestünden (siehe insoweit auch den hg. Beschluss vom 11. Februar 2016, Ra 2016/22/0001). Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass dem zweiten Gutachten des AMS die vom Mitbeteiligten ins Treffen geführte Anzahl von 14 Mitarbeitern (davon 13 vollzeitbeschäftigt) und der angefochtenen Entscheidung die Anzahl von 17 Mitarbeitern (davon 14 vollzeitbeschäftigt) zugrunde lag. Das Verwaltungsgericht hat seine - vom Gutachten des AMS abweichende - Beurteilung nicht auf diese (nicht als wesentlich anzusehende) Änderung im Sachverhalt gestützt, sondern allgemein auf eine langfristige und ganzjährige Vollzeitbeschäftigung von deutlich mehr als zehn Arbeitnehmern. Das Verwaltungsgericht war somit auch vor diesem Hintergrund nicht gehalten, ein weiteres AMS-Gutachten einzuholen.

14 Soweit sich der Revisionswerber mit seinem Vorbringen der Sache nach gegen die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes wendet, ist auf Folgendes hinzuweisen: Der Verwaltungsgerichtshof hat - auch im Zusammenhang mit der Beurteilung des Vorliegens eines gesamtwirtschaftlichen Nutzens im Sinn des § 24 AuslBG - bereits festgehalten, dass er als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Die Beweiswürdigung ist nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorganges (nicht aber die konkrete Richtigkeit) handelt, bzw. darum, ob die Beweisergebnisse, die in diesem Denkvorgang gewürdigt wurden, in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt worden sind (siehe zu allem den hg. Beschluss vom 10. Mai 2016, Ra 2016/22/0023, mwN).

15 Der Revisionswerber vermag mit seinem insoweit nicht weiter substanziierten Vorbringen weder eine Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes noch der (auf den Aussagen und Unterlagen des Mitbeteiligten basierenden) Auffassung, wonach hinsichtlich der Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen von einem gesamtwirtschaftlichen Nutzen der Erwerbstätigkeit des Mitbeteiligten auszugehen sei, aufzuzeigen (siehe zur Maßgeblichkeit eines Vorbringens betreffend die Beschäftigung von 15 Mitarbeitern das hg. Erkenntnis vom 24. Februar 2009, 2008/22/0388).

16 Auch dem Revisionsvorbringen, es fehle eine kontradiktorische Befragung im Zuge einer mündlichen Verhandlung, mangelt es - abgesehen davon, dass die Behörde die ihr zustehende Möglichkeit der Teilnahme an der durchgeführten Verhandlung nicht wahrgenommen hat - an der erforderlichen Relevanzdarstellung.

17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

18 Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 21. März 2017

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