VwGH 2008/08/0270

VwGH2008/08/027022.12.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer und Dr. Doblinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des J S in Wien, vertreten durch Dr. Hans Schwarz, Rechtsanwalt in 1100 Wien, Favoritenstraße 108/3, gegen den auf Grund eines Beschlusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom 3. November 2008, Zl. 2008-0566-9-002181, betreffend Anspruch auf Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §33 Abs2;
AlVG 1977 §33 Abs3;
AlVG 1977 §36a Abs3 Z1;
EStG 1988 §29 Z1;
NotstandshilfeV §2 Abs1;
NotstandshilfeV §2 Abs2;
AlVG 1977 §33 Abs2;
AlVG 1977 §33 Abs3;
AlVG 1977 §36a Abs3 Z1;
EStG 1988 §29 Z1;
NotstandshilfeV §2 Abs1;
NotstandshilfeV §2 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer bezieht seit 2005 Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung; er ist verheiratet, lebt aber seit etwa 1998 von seiner Ehefrau getrennt. In einem am 2. Juli 2008 der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien (in der Folge: AMS) übermittelten Schreiben gleichen Datums hat die Ehefrau des Beschwerdeführers bestätigt, dass dieser "auf Grund seiner derzeitigen Situation" von ihr einen monatlichen Unterhalt von EUR 200,-- erhalte.

Mit dem im Instanzenzug ergangenen, nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 3. November 2008 wurde über Antrag des Beschwerdeführers vom 14. Juli 2008 festgestellt, dass dem Beschwerdeführer Notstandshilfe ab 1. April 2008 im Ausmaß von EUR 9,81 täglich gebühre.

In der Bescheidbegründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer vom AMS am 6. November 2007 niederschriftlich zur Betreibung des Unterhaltsanspruches bei aufrechter Ehe gegen seine Gattin aufgefordert worden sei und dies mit der Begründung abgelehnt habe, dass er das gute Einvernehmen zu seiner Tochter nicht verlieren möchte und auch nichts mit dem Gericht zu tun haben wolle. In einer Niederschrift beim AMS habe er weiters ausgeführt, von seiner Ehefrau seit zehn Jahren getrennt zu leben; sie wohne nicht in Wien und er habe keinen Kontakt zu ihr. Er habe seine Ehefrau um Scheidung gebeten, jedoch habe sie nicht eingewilligt; eine Klage auf Unterhalt würde er aus Anstandsgründen nicht einreichen.

Die belangte Behörde setzte fort, dass entgegen dem Berufungsvorbringen dieses Verhalten als rechtsmissbräuchlich im Sinne des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Jänner 2006, Zl. 2004/08/0213, zu werten sei. Gemäß § 94 ABGB hätten die Ehegatten nach ihren Kräften und gemäß der Gestaltung ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft zur Deckung der ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse gemeinsam beizutragen. Bei Aufhebung der Haushaltsgemeinschaft sei der Unterhalt jedenfalls in Geld zu leisten. Werde die Betreibung des eigenen Unterhaltsanspruches gegen den Ehegatten unterlassen, habe dennoch eine Anrechnung des monatlichen Unterhaltsanspruches auf die Notstandshilfe zu erfolgen. Die Höhe des Unterhaltsanspruches eines leistungsbeziehenden Ehegatten werde mit 40 % vom gemeinsamen Einkommen beider Ehegatten abzüglich des eigenen Verdienstes festgesetzt.

Im Weiteren legte die belangte Behörde unter Heranziehung eines durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens der Ehefrau des Beschwerdeführers inklusive 13., 14. Gehalt (EUR 2.197,18 x 14 : 12 = EUR 2.563,38) sowie der Notstandshilfe des Beschwerdeführers (EUR 27,31 x 30 = EUR 819,30) ihre Berechnung zur Ermittlung des fiktiven Unterhaltsanspruches von monatlich EUR 534,-- bzw. des daraus resultierenden auf den täglichen Notstandshilfeanspruch anzurechnenden Betrages von EUR 17,50 dar.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, worin sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. Gemäß § 33 Abs. 2 AlVG in der hier anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 77/2004 ist Voraussetzung für die Gewährung der Notstandshilfe unter anderem, dass sich der Arbeitslose in einer Notlage im Sinn des § 33 Abs. 3 AlVG befindet.

Nach § 2 Abs. 1 der Notstandshilfeverordnung (NH-VO), BGBl. Nr. 352/1973, in der hier zeitraumbezogen anzuwendenden Fassung BGBl. Nr. 388/1989, liegt Notlage vor, wenn das Einkommen (§ 36a Abs. 1 AlVG) des Arbeitslosen und das seines Ehepartners (Lebensgefährten bzw. seiner Lebensgefährtin) zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitslosen nicht ausreicht. Bei der Beurteilung der Notlage sind gemäß § 2 Abs. 2 NH-VO die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen selbst sowie des mit dem Arbeitslosen im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehepartners (Lebensgefährten bzw. Lebensgefährtin) zu berücksichtigen. Ein aus Unterhaltsleistungen des geschiedenen Ehepartners bezogenen Einkommen des Arbeitslosen wird gemäß § 36a Abs. 3 Z. 1 AlVG (in der Fassung BGBl. Nr. 128/2003) iVm § 29 Z 1 - EStG 1988 (in der Fassung BGBl. I Nr. 71/2003) in gleicher Weise berücksichtigt wie ein Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit des Arbeitslosen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Dezember 2004, Zl. 2003/08/0237).

2. In der Beschwerde wiederholt der Beschwerdeführer seinen Standpunkt, wonach keine Anrechnung des (der Höhe nach nicht bestrittenen) Einkommens seiner Ehefrau auf seinen Notstandshilfeanspruch erfolgen dürfe.

Soweit der Beschwerdeführer dazu neben einer behaupteten Verletzung des Parteiengehörs im Wesentlichen geltend macht, die belangte Behörde habe es verabsäumt zu klären und entsprechende Feststellungen zu treffen, ob dem Beschwerdeführer im Klagsfall tatsächlich ein höherer Unterhalt zugeflossen wäre, sowie, ob die Unterhaltsregelung, wie sie der Beschwerdeführer und seine Ehefrau getroffen haben, nur bzw. überwiegend in der Absicht getroffen worden sei, die Versichertengemeinschaft zu schädigen, und er dazu behauptete Unterhaltsleistungen seiner Ehefrau gegenüber der studierenden Tochter und die Übernahme von gemeinsamen Kreditkosten ins Treffen führt, kommt der Beschwerde Berechtigung zu:

Im konkreten Fall ist unstrittig, dass der Beschwerdeführer und seine Ehefrau im relevanten Zeitraum in getrennten Haushalten wohnen.

Damit ist bei der Prüfung des Vorliegens einer Notlage des Beschwerdeführers grundsätzlich nur auf das tatsächlich dem Arbeitslosen zufließende Einkommen abzustellen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob er durch eine bessere Verwertung seines Vermögens ("bestmögliche Nutzung von Einnahmequellen") überhaupt bzw. höhere Einkünfte erzielen könnte, es sei denn, er würde sich für bestimmte die Erzielung von Einkünften betreffende Gestaltungsmöglichkeiten nur deshalb entscheiden, um einer Einkommensanrechnung "zu entgehen", indem er z.B. seinen Schuldner von seiner Verpflichtung zu Lasten der Versicherungsgemeinschaft befreit (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 26. Mai 2004, Zl. 2001/08/0124, vom 20. Dezember 2001, Zl. 2001/08/0050, und vom 20. Dezember 2000, Zl. 95/08/0107); eine derartige Konstellation kann auch vorliegen, wenn es der Arbeitslose unterlässt, eigene Unterhaltsforderungen zu verfolgen (vgl. das auch von der belangten Behörde herangezogene hg. Erkenntnis vom 24. Jänner 2006, Zl. 2004/08/0213).

Unstrittig ist hier auch, dass die Ehefrau dem Beschwerdeführer freiwillig einen monatlichen Unterhalt von EUR 200,-- gewährt. Die belangte Behörde hat aber nicht diese Unterhaltsleistungen als Einkommen des Beschwerdeführers berücksichtigt, sondern einen "fiktiven Unterhalt" angerechnet, den sie mit 40% des Familiennettoeinkommens berechnet hat.

Entgegen der Ansicht der belangten Behörde reicht es für eine "fiktive Unterhaltsanrechnung" in der Höhe von 40% des Familiennettoeinkommens jedoch nicht aus, dass der getrennt lebende Ehepartner keine Scheidungs- oder Unterhaltsklage eingebracht hat. Vielmehr ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles zu prüfen, in welcher Höhe ein Unterhaltsanspruch des Arbeitslosen gegenüber seinem getrennt lebenden Ehepartner tatsächlich besteht oder bestehen würde, hätte der Arbeitslose nicht auf den Unterhaltsanspruch (allenfalls teilweise) nur deshalb verzichtet, um einer Einkommensanrechnung zu entgehen. Übersteigt der solcherart zu beurteilende Anspruch die dem Arbeitslosen tatsächlich zufließenden Unterhaltsleistungen, so ist festzustellen, in welcher Höhe Unterhaltsleistungen bei rechtmäßigem Alternativverhalten zugeflossen wären.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes grundsätzlich nur bei durchschnittlichen Verhältnissen aus Praktikabilitäts- und Gleichbehandlungsgründen pauschalierte, nach Prozenten der Einkommensbemessungsgrundlage festgesetzte Unterhaltsbeträge zugesprochen werden; eine gesetzliche Grundlage für die (starre) Anwendung eines bestimmten Berechnungssystems besteht nicht (vgl. z.B. den Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 7. Dezember 2001, 7 Ob 288/01f); Unterhaltsentscheidungen sind grundsätzlich Ermessensentscheidungen und keine reinen Rechenexempel (Beschluss des Obersten Gerichtshofes vom 9. Juni 2009, 1Ob 88/09m; vgl. zu alldem auch das hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2010, Zl. 2009/08/0069).

Die belangte Behörde hat jedoch ohne weitere Erhebungen - insbesondere auch ohne Einvernahme der Ehefrau des Beschwerdeführers - eine Berechnung allein auf Grund des Einkommens derselben vorgenommen und - nach den vorgelegten Verwaltungsakten - dem Beschwerdeführer dazu auch kein Parteiengehör gewährt. Auf der Grundlage dieser Rechtsansicht hat es die belangte Behörde auch unterlassen, eine nähere Prüfung dahingehend vorzunehmen, ob vor dem Hintergrund der vom Beschwerdeführer behaupteten besonderen wirtschaftlichen und persönlichen Umstände die (in der Bestätigung der Ehefrau vom 2. Juli 2008 ihren Niederschlag findenden) Vereinbarung tatsächlich nur deshalb getroffen bzw. das anschließende Verhalten des Beschwerdeführers (der Weigerung der Einbringung einer Unterhaltsklage) gesetzt wurde, um der Einkommensanrechnung zu entgehen.

Diese Prüfung wäre schon deshalb angezeigt gewesen, weil der Beschwerdeführer und seine Ehefrau nach den Feststellungen der belangten Behörde schon seit 1998 getrennt leben und ihre Unterhaltsansprüche in der oben beschriebenen Weise geregelt haben. Nach der oben dargestellten Rechtsprechung sind zwar Unterhaltsvereinbarungen arbeitslosenversicherungsrechtlich insoweit unbeachtlich, als sie darauf abzielen, eine Unterhaltsanrechnung auf die Notstandshilfe ganz oder teilweise zu vermeiden. Daraus darf aber nicht der Gegenschluss gezogen werden, dass die Eheleute verpflichtet wären, ihre Unterhaltsvereinbarungen so einzurichten, dass eine Unterhaltsanrechnung im höchstmöglichen Ausmaß ermöglicht wird, sofern es für eine niedrigere Unterhaltsleistung einen sachlichen Grund gibt, der z.B. in einer im Zuge der Vermögenauseinandersetzung nach Ehescheidung erhaltenen Sachleistung liegen könnte. Insbesondere dann aber, wenn Unterhaltsvereinbarungen, die sich unter dem Gesichtspunkt der Einkommensanrechnung nachteilig auf die Versichertengemeinschaft auswirken, zu einem Zeitpunkt geschlossen werden, zu dem noch keiner der Ehepartner Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung in Anspruch genommen hat oder dies unmittelbar bevorgestanden wäre, dann kommt einer solchen Vereinbarung auch dann, wenn der gesetzliche Unterhalt damit unterschritten wird, keine Indizwirkung dahin zu, dass sie missbräuchlich geschlossen wurde. In einem solchen Fall ist der spätere Bezieher von Notstandshilfe auch nicht verpflichtet, die Abänderung einer derartigen Vereinbarung nur aus dem Grund gerichtlich zu betreiben, um eine erhöhte Anrechnung des Einkommens der Ehegattin auf die eigene Notstandshilfe zu ermöglichen.

Darüber hinaus zeigt der Beschwerdeführer auch zutreffend auf, dass die belangte Behörde bereits mit dem im Instanzenzug ergangenen, rechtskräftigen Bescheid vom 11. April 2008 festgestellt hat, dass dem Beschwerdeführer Notstandshilfe ab 1. April 2008 im Ausmaß von EUR 9,81 täglich gebührt. Das Beschwerdevorbringen, wonach dieser Bescheid in Rechtskraft erwachsen ist, bleibt in der Gegenschrift der belangten Behörde unwidersprochen; auch aus den vorgelegten Verwaltungsakten ergibt sich nichts Gegenteiliges. Der nunmehr gegenständlichen Entscheidung der belangten Behörde steht somit für den Zeitraum 1.

bis 11. April 2008 auch res iudicata entgegen.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1

VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm

der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008, insbesondere deren § 3 Abs. 2.

Wien, am 22. Dezember 2010

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