OLG Graz 6Rs74/24k

OLG Graz6Rs74/24k16.1.2025

Das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen hat durch die Senatspräsidentin Maga. Fabsits als Vorsitzende, die Richterinnen Maga. Gassner und Drin. Meier sowie die fachkundigen Laienrichter Färber (Arbeitgeber) und Zimmermann (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A*, **, vertreten durch Mag. Philip Neubauer, Rechtsanwalt in Graz, als Verfahrenshilfevertreter, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, per Adresse Landesstelle B*, **, vertreten durch ihre Angestellte Maga. C*, wegen Invaliditätspension, über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 15. Oktober 2024, GZ **-50, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

 

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OLG0639:2025:0060RS00074.24K.0116.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Ein Kostenersatz findet nicht statt.

Die Revision ist nicht nach § 502 Abs 1 ZPO zulässig.

 

 

Entscheidungsgründe:

Der am ** geborene Kläger erwarb in Mazedonien eine qualifizierte Berufsausbildung als Koch. Er lebt seit 1987 in Österreich. Im maßgeblichen Beobachtungszeitraum (04/2008 bis 03/2023) erwarb er keine Beitragsmonate der Pflichtversicherung.

Der Kläger kann aufgrund seiner Leiden, darunter ein Schulterengpasssyndrom beidseits mit endlagig belastungsabhängigen Beschwerden, eine leichtgradige Depression mit Nervosität bei Verdacht auf Somatisierung, Adipositas und einem Syndrom der überaktiven Blase noch ganztägig leichte Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen verrichten. Wirbelsäulenbelastende Arbeiten in dynamischer und/oder statischer gebückter Körperhaltung sind grundsätzlich zu meiden. Ein gelegentliches Bücken ist jedoch möglich. Überkopfarbeiten sind grundsätzlich zu meiden, ein gelegentliches Überkopfgreifen ist jedoch möglich. Arbeiten in kniender und hockender Körperhaltung sind bei gerechter Verteilung auf maximal ein Drittel eines Arbeitstags zu beschränken. Arbeiten in höhenexponierten Lagen scheiden aus Sicherheitsgründen aus. Ein forciertes Arbeitstempo ist nicht zumutbar, ein normales Arbeitstempo ist ganztägig möglich. Akkord- und Fließbandarbeiten sowie Nachtarbeit, wenn es sich um Wechselschichten handelt, sind nicht zumutbar.

Der Kläger ist in der Lage, ein mäßig schwieriges geistiges Anforderungsprofil zu erfüllen. Kundenkontakt- , Durchsetzungs- und Führungsfähigkeit sind im Durchschnitt ausgebildet. Der Kläger ist unterweisbar und anlernbar. Schulbarkeit ist gegeben, nicht aber Umschulbarkeit. Die Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln, Wochenpendeln und Ortswechsel sind zumutbar.

Bezogen auf einen 8-Stunden-Arbeitstag benötigt der Kläger Pausen für den WC-Gang von etwa 20 Minuten.

Insgesamt ist mit vermehrten Krankenständen von drei Wochen pro Jahr zu rechnen.

Der Kläger kann die Erwerbstätigkeit eines Kochs ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht mehr ausüben, weil er den damit einhergehenden arbeitsplatzabhängig mehr als körperlich leichten Belastungen sowie Arbeiten im Bücken (rund ein Achtel) nicht mehr gewachsen ist.

Trotz seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit kommen für den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch Tätigkeiten, wie beispielsweise als Adressverlagsmitarbeiter oder Bürohilfskraft in Betracht. In Österreich existiert für die genannten Verweisungstätigkeiten eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen. Bei beiden Verweisungstätigkeiten ist es jederzeit möglich eine Toilette aufzusuchen. Diese Verweisungsberufe ohne Kundenkontakt können jederzeit vom Kläger ausgeübt werden.

Das Erstgericht stellt das Berufsbild von Arbeitnehmern in Adressenverlagen bzw in der Werbemittelbranche fest (Urteilsseiten 11 bis 13), worauf zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden kann.

Hervorgehoben sei nur Folgendes:

Der Aufgabenschwerpunkt dieser Mitarbeiter liegt darin, Werbemittel und Mailings (Briefe und Antwortkarten) unterschiedlicher Art, welche in gedruckter Form aufliegen, zu Werbesendungen zusammenzustellen. Die entweder von Druckereien oder von Kunden angelieferten Druckerzeugnisse werden teils manuell, teils unter Nutzung von Adressier-, Verpackungs- und Folienmaschinen gefaltet, kuvertiert, meist jedoch aus mehreren Werbesendungen zusammengestellt und in Kunststoffbeutel verpackt, welche dann von den Austrägern an den Türen angebracht werden. Ferner stellen sie Werbeaussendungen nach Vorgabe zusammen, bereiten Werbeartikel/Warenproben im Auftrag von Direktwerbefirmen für den Versand vor und verpacken Warenproben/Werbegeschenke. Besonderem Zeitdruck, vergleichbar solchem unter Akkord- und Fließbandbedingungen, sind diese Arbeitnehmer nicht ausgesetzt. Es handelt sich um geistig einfache Arbeiten, die keine maßgeblichen Anforderungen an die Durchsetzungs-, Führungs- und Kontaktfähigkeit stellen.

Auf die Feststellungen des Erstgerichts zum Berufsbild von Büro- oder Kanzleihilfskräften/-gehilfen (Urteilsseite 14 bis 16) kann ebenfalls verwiesen und nur Folgendes hervorgehoben werden:

Die Aufgabe der Büro- oder Kanzleihilfskräfte ist es, den Fachkräften im Büro und in der Verwaltung verschiedene „einfachere“ Tätigkeiten abzunehmen. Nachstehende Tätigkeiten führen sie in großen Betrieben spezialisiert (Protokoll-, Registratur-, Kanzlei-, Scan-, Kopier-, Poststelle), in kleineren Betrieben universell aus. So erledigen sie Routinearbeiten im administrativen Bereich unter Zuhilfenahme von Vordrucken (zB Adressen schreiben, Akten beschriften). Sie bearbeiten die ein- und ausgehende Post (Öffnen, Zuordnen, Falten, Kuvertieren, Frankieren), ordnen und verwalten laufend Vorgänge (Akten schlichten, Poststücke einordnen) bzw protokollieren einlangende Poststücke. Sie verrichten Hilfstätigkeiten im Buchhaltungs-, Lager- und Rechnungswesen (Sortieren, Nummerieren, Alphabetisieren, Einordnen von Belegen) und/oder erledigen Botendienste im Haus sowie gegebenenfalls auch zu Behörden, Banken, Post oder Bahn. Ferner werden sie zur Herstellung von Kopien oder zum Scannen von Unterlagen (Belegen, Krankengeschichten, einlangende Post) herangezogen. Die Erfüllung der Berufsaufgaben erfolgt vorwiegend bis ständig in geschlossenen, temperierten Räumen, frei von witterungsbedingten oder sonstigen arbeitsbedingten Belastungen (Staub, Gase, Dämpfe, Publikumsverkehr). Diese Tätigkeiten werden vorwiegend (80 bis 90 %) an Scan-, Microficheverfilmungs- oder Protokollarbeitsplätzen (> 100 österreichweit) ausgeführt.

Diese Mitarbeiter kommunizieren mit Arbeitskollegen und geben allenfalls einfache Auskünfte an Kunden/Parteien, wobei jedoch keine längerfristigen Stimmbelastungen gegeben sind.

Mit Bescheid vom 15. Juni 2023 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers vom 8. März 2023 auf Gewährung der Invaliditätspension ab, weil Invalidität nicht dauerhaft vorliege. Sie sprach weiters aus, dass kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld und auf medizinische oder berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe.

Dagegen richtet sich die vorliegende Klage mit dem auf Gewährung der Invaliditätspension in gesetzlicher Höhe ab dem 1. April 2023 gerichteten Begehren. Begründend bringt der Kläger vor, dass sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe. Er sei nicht mehr in der Lage, schmerzfrei zu gehen und stehen. Zudem leide er an Bewegungseinschränkungen der Finger. Es sei ihm nicht möglich, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.

Die Beklagte beantragt Klagsabweisung und wendet ein, dass der Kläger weder dauerhaft noch vorübergehend invalid sei.

Mit Urteil vom 9. Jänner 2024, ON 16, wies das Erstgericht das Klagebegehren mit der Begründung ab, es kämen für den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch zahlreiche Tätigkeiten in Betracht.

Mit Beschluss vom 30. April 2024, GZ 6 Rs 22/24p, hob das Oberlandesgericht Graz dieses Urteil über Berufung des Klägers auf und trug dem Erstgericht zusammengefasst auf zu klären, ob der Kläger zusätzliche Arbeitspausen benötige und ob sich Anhaltspunkte für ein „gehäuftes Harnverhalten“ ergeben würden.

Mit dem nunmehr angefochtenen Urteil weist das Erstgericht das Klagebegehren auf Grundlage des eingangs dargestellten Sachverhalts abermals ab.

In rechtlicher Hinsicht vertritt es den Standpunkt, dass der Kläger weder dauernd noch vorübergehend invalid sei, weil für ihn auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch die Verweisungstätigkeiten eines Adressenverlagsmitarbeiters und einer Bürohilfskraft in Betracht kämen. Da diese Verweisungstätigkeiten ohne Kundenkontakt durchgeführt würden, sei dem Kläger ein Verlassen des Arbeitsplatzes zum Toilettengang jederzeit möglich.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers aus den Rechtsmittelgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil in Klagsstattgebung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt, ohne eine Berufungsbeantwortung zu erstatten, der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung ist nicht berechtigt.

Der Kläger rügt einen Begründungsmangel des angefochtenen Urteils. Das Beweisverfahren habe ergeben, dass der Kläger ein gehäuftes Harnverhalten und einen „unregelmäßigen Stuhl“ aufweise. Das bei ihm bestehende Syndrom der überaktiven Harnblase mit erhöhter Miktionsfrequenz (8 bis 10mal tagsüber) bedinge, dass er für den WC-Gang - bezogen auf einen 8-Stunden-Arbeitstag - Pausen von etwa 20 Minuten benötige. Diese Feststellungen bedeuteten, dass er über die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen hinaus zusätzliche Arbeitspausen benötige, die eine Verweisung auf den Arbeitsmarkt verhinderten, wenn keine entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen bestehe, bei denen die Einhaltung dieser Pausen gewährleistet sei, oder wenn kein entsprechendes Entgegenkommen des Arbeitgebers bestehe. Die vom Erstgericht herangezogenen Verweisungstätigkeiten seien (grundsätzlich) mit Kundenkontakten verbunden und verlangten in der Regel, dass der Arbeitsplatz durchgängig besetzt sei.

Die Feststellung, dass die Verweisungstätigkeiten keinen Kundenkontakt erforderten, sei widersprüchlich und mangelhaft begründet, weil nach den weiteren Feststellungen zu den Verweisungsberufen einer Bürohilfskraft oder eines Arbeitnehmers in Adressenverlagen bzw in der Werbemittelbranche Kundenkontakte zumindest nicht ausgeschlossen werden könnten.

Der gerügte Begründungsmangel liegt nicht vor.

Es trifft zwar zu, dass die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil Verfahrensmängel aufweisen kann (Pimmer in Fasching/Konecny³ IV/1 § 496 ZPO, Rz 43). Dabei handelt es sich um eine Vorgangsweise des Erstgerichts, bei der dem Urteil eine Beweiswürdigung fehlt oder bei der sich das Erstgericht zumindest mit wesentlichen Verfahrensergebnissen überhaupt nicht auseinandergesetzt hat. Dies stellt dann einen Verstoß gegen die Begründungspflicht des § 272 Abs 3 ZPO dar. Es bedeutet aber keine Mangelhaftigkeit bei der Entscheidung von Beweiswürdigungsfragen, wenn in der Begründung des Urteils ein Umstand nicht erwähnt wurde, der hätte erwähnt werden können oder eine Erwägung nicht angestellt wurde, die hätte angestellt werden können. Es muss nur erkennbar sein, aus welchen Erwägungen das Erstgericht zum Ergebnis kam, die vorgenommenen Feststellungen treffen zu können oder solche Feststellungen nicht treffen zu können (RIS-Justiz RS0102004, RS0040165). Die Begründungspflicht (§ 272 Abs 3 ZPO) bezieht sich auf die objektiven Elemente der richterlichen Beweiswürdigung; der Richter muss offen legen, aufgrund welcher Erfahrungssätze er zur Auffassung gelangt ist, die festgestellten Tatsachen seien für wahr zu halten (vgl Rechberger/Klicka in Rechberger/Klicka ZPO5 § 417 ZPO Rz 4). Vernünftigerweise wird man nur ein solches Maß an Begründung verlangen können, das für das Berufungsgericht die wesentlichen Gedankengänge und Überlegungen des Erstgerichts nachvollziehbar macht. Gerade bei komplexeren Verfahren oder - wie hier - in Verfahren betreffend medizinische Fachfragen dürfen die Anforderungen an die Begründung im Einzelnen nicht überspannt werden, zumal es nicht möglich ist, auf jedes Argument und jedes einzelne Beweisergebnis einzugehen. Es trifft zwar zu, dass Befund und Gutachten des Sachverständigen der freien Beweiswürdigung unterliegen. Dem sind aber faktische Grenzen gesetzt (Rechberger/Klicka aaO §§ 360-362 ZPO Rz 7). Der Sachverständige ist in erster Linie Mitarbeiter des Gerichts, dem er Fachwissen verschafft, das es selbst nicht besitzt. Als solcher wird der Sachverständige teilweise auch wie ein Richter behandelt (vgl §§ 355, 359, 362 ZPO). Erst in zweiter Linie ist er (persönliches) Beweismittel; sein Gutachten soll, so wie die Aussagen des Zeugen, stets der freien Beweiswürdigung des Richters unterliegen. Trotzdem entspricht seine Stellung in der Praxis oft jener des Richters; in vielen typischen Sachverständigenprozessen (zB wenn es um schwierige technische oder medizinische Fragen geht) bleibt für die richterliche Beweiswürdigung kaum ein Spielraum (Rechberger/Klicka aaO Vor § 351 ZPO Rz 2).

Hier hat das Erstgericht in seiner Beweiswürdigung ausreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, aus welchen Erwägungen es die eingeholten Gutachten als verlässliche Feststellungsgrundlage heranzuziehen vermochte. Die in erster Linie vom Kläger kritisierte Feststellung, dass die Verweisungstätigkeiten keinen Kundenkontakt erfordern, gründet sich auf die diesbezüglich unmissverständlichen Ausführungen der berufskundlichen Sachverständigen (Seite 2 des Protokolls vom 10. September 2024, ON 44). Einen Begründungsmangel im oben aufgezeigten Sinn vermag der Kläger daher nicht aufzuzeigen.

Zu den weiteren Ausführungen des Klägers, die widersprüchliche Feststellungen behaupten, ist festzuhalten:

Widersprüche der getroffenen Tatsachenfeststellungen untereinander sind eine Sonderform des sekundären Feststellungsmangels: Liegen zu einem rechtlich relevanten Beweisthema im Urteil einander widersprechende Tatsachenfeststellungen vor, liegt damit in Wahrheit keine eindeutige und letztlich überhaupt keine Tatsachenfeststellung vor. Es kann daher eine rechtliche Beurteilung nicht erfolgen, sodass ein sekundärer Feststellungsmangel vorliegt (vgl RIS-Justiz RS0043182, RS0043293, RS004274, Pochmarski/Tanczos/Kober, Berufung in der ZPO4, 189). Dementsprechend handelt es sich um eine Frage der rechtlichen Beurteilung, ob widersprüchliche Feststellungen vorliegen.

Entgegen der Meinung des Klägers erweisen sich die Feststellungen nicht als widersprüchlich. Der Kläger meint, dass die Feststellung, dass Arbeitnehmer in Adressenverlagen bzw in der Werbemittelbranche Druckerzeugnisse, die von Druckereien oder von Kunden angeliefert werden bearbeiten in Widerspruch zur Feststellung, dass diese Arbeiten ohne Kundenkontakt durchgeführt werden, stünde. Diese Argumentation überzeugt schon deswegen nicht, weil sich aus den Feststellungen zu diesen Beruf jedenfalls nicht ableiten lässt, dass es diese Arbeitnehmer sind, die die von Druckereien oder Kunden angelieferten Druckerzeugnisse entgegenzunehmen haben. Selbst wenn das der Fall wäre, bedeutete das nicht, dass derartige Arbeitsplätze durchgängig besetzt sein müssen.

Soweit der Kläger auf den Verweisungsberuf einer Bürohilfskraft Bezug nimmt und abermals einen Widerspruch zur Feststellung, dass dieser Beruf keinen Kundenkontakt erfordert ortet, ist ihm zu entgegnen, dass fest steht, dass die Berufsaufgaben frei vom Publikumsverkehr erfüllt werden und diese Arbeitnehmer (nur) gegebenenfalls Botengänge (auch) zu Behörden, Banken, Post oder Bahn durchführen. In großen Betrieben führen sie unter anderem spezialisiert Scan- und Kopierarbeiten durch. Dass sie mit Mitarbeitern kommunizieren, bedeutet nicht, dass sie Kundenkontakt im hier relevanten Sinn haben. Dass Bürohilfskräfte jedenfalls in Kontakt mit Kunden zu treten haben - wie das die Berufung behauptet -, lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen, zumal fest steht, dass diese Tätigkeiten vorwiegend an Scan- , Microficheverfilmungs- oder Protokollarbeitsplätzen ausgeführt werden. Dass in beiden Verweisungstätigkeiten „zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Arbeitnehmer in Kontakt mit Kunden treten“, mag zutreffen, hat aber weder Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung, noch zeigt es Widersprüchlichkeiten in den Feststellungen auf.

In seiner Rechtsrüge meint der Kläger zusammengefasst, dass es ihm aufgrund der Feststellung, wonach er infolge des vorliegenden Syndroms einer überaktiven Blase für den WC-Gang Pausen von etwa 20 Minuten bezogen auf einen 8-stündigen Arbeitstag benötige, nicht möglich sei, die vom Erstgericht angeführten Verweisungstätigkeiten auszuüben, zumal bei beiden Berufen Kundenkontakt notwendig sei. In diesem Zusammenhang rügt er als sekundären Feststellungsmangel, dass das Erstgericht nicht festgestellt habe, „wie dringend die Pausen notwendig wären bzw wie dringend diese in Anspruch genommen werden müssen“. Da der Kläger nicht ansatzweise darlegt, welche zusätzlichen Feststellungen das Erstgericht aufgrund welcher vorhandenen Beweisgrundlage in diesem Zusammenhang hätte treffen müssen, bringt er seine Rechtsrüge nicht zur gesetzmäßigen Ausführung (vgl 9 ObA 102/15p, RIS-Justiz RS0053317). Im Übrigen kann auch darauf hingewiesen werden, dass sich aus dem urologischen Sachverständigengutachen vom 29. Juni 2024 (ON 34) nur eine geringe Drangsymptomatik ergibt (Seite 3 des Gutachtens). Im Rahmen der Gutachtenserörterung vom 30. Juli 2024, ON 39 legte dieser Sachverständige auch dar, dass die Abklärung des rein klinisch diagnostizierten Syndroms der überaktiven Blase weniger zur Einschätzung der Arbeitsfähigkeit, sondern vielmehr in Bezug auf die Behandlungsmöglichkeiten interessant sei.

Weiters ist der Berufung Folgendes zu erwidern:

Richtig ist zwar, dass dann, wenn der Pensionswerber über die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen hinaus zusätzliche Arbeitspausen benötigt, eine Verweisung auf dem Arbeitsmarkt nur möglich ist, wenn eine entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen besteht, bei denen die Einhaltung dieser Pausen gewährleistet ist (RIS-Justiz RS0043613).

Gemäß § 11 Abs 1 AZG ist die Arbeitszeit durch eine Ruhepause von mindestens einer halben Stunde zu unterbrechen, wenn die Gesamtdauer der Tagesarbeitszeit mehr als sechs Stunden beträgt. Hier ergibt sich aus dem festgestellten Sachverhalt nur, dass der Kläger für den WC-Gang Pausen von etwa 20 Minuten bezogen auf einen 8-Stunden-Arbeitstag benötigt. Selbst wenn man davon ausginge, dass damit - zur gesetzlichen Pause - zusätzliche Kurzpausen gemeint sind, ist für den Kläger nichts gewonnen.

Grundsätzlich trifft es zu, dass ein Versicherter auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden darf, wenn er diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers verrichten kann (RIS-Justiz RS0084383). Benötigt der Pensionswerber über die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen hinaus zusätzliche Arbeitspausen, so ist eine Verweisung auf den Arbeitsmarkt nur möglich, wenn eine entsprechende Zahl von Arbeitsplätzen besteht, bei denen die Einhaltung dieser Pausen gewährleistet ist. Für die Annahme eines besonderen Entgegenkommens des Dienstgebers ist entscheidend, ob und inwieweit in der Wirtschaft ein bestimmtes Ausmaß von zusätzlichen Pausen im Allgemeinen toleriert wird (10 ObS 93/15x, RIS-Justiz RS0084389). Dabei ist grundsätzlich von der Regelung über die Ruhepausen in § 11 AZG auszugehen. Benötigt ein Versicherter über die gesetzlich vorgesehenen Pausen hinaus zusätzliche Arbeitspausen, so ist eine Verweisung nur zulässig, wenn eine entsprechende Anzahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung steht, bei denen die erforderlichen Pausen gewährt werden. Ob dies zutrifft, ist eine Tatfrage (RIS-Justiz RS0043613). Im Allgemeinen werden behinderungsbedingte zusätzliche Kurzpausen in einer Gesamtdauer bis zu etwa 20 Minuten bei Tätigkeiten, die nicht mit Kundenverkehr verbunden sind, in der Wirtschaft toleriert, sodass diese Gruppe von Arbeitnehmern nicht auf ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers angewiesen und deshalb nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist (RIS-Justiz RS0084414, RS0084389 [T 3]). Was behinderungsbedingte Toilettengänge betrifft, wurde bereits darauf verwiesen, dass das Aufsuchen der Toilette keineswegs nur während der Arbeitspausen üblich ist und daher fraglich sei, inwieweit dafür überhaupt „zusätzliche Arbeitspausen“ erforderlich sind (10 ObS 119/05f mwN). Im Allgemeinen ist es üblich, jedenfalls kurze Toilettenpausen während der Arbeitszeit zu tolerieren und diese nicht als zusätzliche Arbeitspausen zu qualifizieren (10 ObS 106/11b mwN). In seiner Entscheidung 10 ObS 93/15x erkannte der Oberste Gerichtshof, dass ein Versicherter, der alle zwei bis drei Stunden die Möglichkeit haben muss, die Toilette aufzusuchen, wobei der Harndrang plötzlich und imperativ auftreten kann und der Arbeitsablauf daher alle zwei bis drei Stunden für die Dauer von fünf bis zehn Minuten unterbrochen wird, nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist. Auch Miktionsintervalle von eineinhalb Stunden werden als nicht arbeitsmarktausschließend erachtet (vgl 10 ObS 125/13z). Hier steht fest, dass der Kläger (der eine urologische Abklärung seines Miktionsverhaltens bisher aus Eigenem nicht hat durchführen lassen, sodass die diesbezüglichen Feststellungen ausschließlich auf seinen Angaben beruhen [vgl Aktenvermerk vom 9. September 2024, ON 41 iVm Seite 2 des Protokolls vom 10. September 2024, ON 44]) für WC-Gänge Pausen von etwa 20 Minuten benötigt und, dass er bei den Verweisungstätigkeiten einer Bürohilfskraft oder eines Adressenverlagsmitarbeiters jederzeit eine Toilette aufsuchen kann. Dass diese Verweisungsberufe regelmäßigen Kundenkontakt in dem Sinn erfordern, dass der Arbeitsplatz durchgängig besetzt, das heißt unter keinen Umständen für einen kurzen Toilettengang verlassen werden könnte, sein müsste ergibt sich aus den zu diesen Berufen getroffenen Feststellungen nicht.

Da der Kläger daher nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, ist der Berufung ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 3 lit b ASGG. Gründe für einen ausnahmsweisen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden weder behauptet noch ergeben sich solche aus der Aktenlage.

Mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO besteht für eine Revisionszulassung kein Anlass.

 

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