Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Ersturteil wird wiederhergestellt, sodass es unter Einschluss des in Rechtskraft erwachsenen abweisenden Teils zu lauten hat:
„1. Das Klagebegehren besteht dem Grunde nach für den Zeitraum von 1. 1. 2011 bis 28. 2. 2013 zu Recht.
2. Der beklagten Partei wird aufgetragen, der Klägerin vom 1. 1. 2011 bis 28. 2. 2013 bis zur Erlassung des die Höhe der Leistung festsetzenden Bescheides eine vorläufige Zahlung von monatlich 300 EUR zu erbringen und zwar, die bis zur Zustellung dieses Urteils fälligen vorläufigen Zahlungen binnen 14 Tagen, die weiteren im Nachhinein am Ersten des Folgemonats.
3. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren auf Gewährung einer unbefristeten Invaliditätspension wird abgewiesen.
Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin binnen 14 Tagen die mit 544,13 EUR (darin 90,69 EUR USt) bestimmten Kosten der Berufungsbeantwortung und die mit 373,68 EUR (darin enthalten 62,28 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 8. 3. 2011 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin vom 15. 12. 2010 auf Gewährung der Invaliditätspension ab. In der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage brachte die Klägerin vor, sie genieße zwar keinen Berufsschutz; dennoch sei für sie infolge ihres angegriffenen Gesundheitszustands am allgemeinen Arbeitsmarkt keine entsprechende Verweisungstätigkeit mehr vorhanden.
Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren und wendete ein, die Voraussetzungen für die Gewährung der Invaliditätspension lägen nicht vor.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig, der Klägerin die Invaliditätspension in der gesetzlichen Höhe vom 1. 1. 2011 bis 28. 2. 2013 zu gewähren und wies das darüber hinausgehende Mehrbegehren auf Gewährung einer unbefristeten Invaliditätspension ab. Es verpflichtete die beklagte Partei weiters zur Gewährung einer vorläufigen Zahlung von 300 EUR monatlich. Es traf zusammengefasst folgende Feststellungen:
„Die am 23. 8. 1954 geborene Klägerin war während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (dem 1. 1. 2011) als Hilfsarbeiterin tätig. Zum Stichtag lagen 210 Beitragsmonate der Pflichtversicherung und insgesamt 342 Versicherungsmonate vor. Seit 1993 erwarb sie 56 Pflichtversicherungsmonate nach dem ASVG (Arbeiterin); sie bezog 12 Monate eine Invaliditätspension sowie ein Monat Krankengeld. Aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ist die Klägerin nur mehr in der Lage, leichte und fallweise mittelschwere körperliche Arbeiten vorwiegend im Sitzen, fallweise im Gehen und Stehen sowie leichte und mittelschwere geistige Arbeiten mit im einzelnen festgestellten weiteren Einschränkungen im Rahmen eines achtstündigen Arbeitstages mit den üblichen Unterbrechungen zu verrichten. Es muss die Möglichkeit bestehen, etwa stündlich eine in der Nähe liegende Toilette aufzusuchen. Der Gesundheitszustand ist in Bezug auf die urologischen Beschwerden durch konservative Maßnahmen binnen 6 Monaten dahingehend verbesserbar, dass sich die Miktionsintervalle auf zumindest 1,5 Stunden verlängern. Aus den übrigen Fachgebieten ist eine wesentliche Änderung des Gesundheitszustands und des Leistungskalküls nicht zu erwarten. Aufgrund der gegebenen Einschränkungen kommen für die Klägerin als Verweisungstätigkeiten lediglich körperlich leichte Wach‑ und Aufsichtstätigkeiten in Betracht, wie etwa die Tätigkeit einer Portierin oder Eintrittskartenkassiererin. Diese Tätigkeiten sind mit regelmäßigen Publikums‑ bzw Kundenkontakten verbunden. Es wird erwartet, dass der Arbeitsplatz durchgängig besetzt ist. Stündliche Miktionsintervalle und die damit einhergehende stündliche Unterbrechung der Arbeit für mehrere Minuten führen zu einer massiven Störung des Arbeitsablaufs. Dies würde von einem Dienstgeber ohne besonderes Entgegenkommen nicht akzeptiert. Bei Miktionsintervallen von 90 Minuten würde hingegen der Arbeitsablauf nicht wesentlich beeinträchtigt.“
Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass die Voraussetzungen für eine Invaliditätspension nach § 255 Abs 3a und 3b ASVG (idF des BudgetbegleitG 2011) mangels der Erfüllung der in § 255 Abs 3a ASVG normierten Erfordernisse (360 Versicherungsmonate, davon mindestens 240 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit) nicht vorlägen. Da die Klägerin keinen Berufsschutz genieße, sei ihre Invalidität nach § 255 Abs 3 ASVG zu prüfen. Da bei den in Frage kommenden Verweisungstätigkeiten einer Portierin und Eintrittskartenkassiererin aufgrund der stündlichen Miktionsintervalle ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers erforderlich wäre, seien die Voraussetzungen für eine Gewährung einer Invaliditätspension gegeben. Da der Gesundheitszustand aus urologischer Sicht innerhalb von sechs Monaten verbesserbar sei, sei die Pension lediglich befristet für sechs Monate zuzuerkennen. Die Klägerin werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die vom urologischen Sachverständigen angesprochenen konservativen Therapiemaßnahmen durchzuführen seien, widrigenfalls eine Weitergewährung der Invaliditätspension über den 28. 2. 2013 hinaus abgelehnt werden könnte.
Den Beginn der Sechsmonatsfrist nahm das Erstgericht offenbar mit dem Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz im August 2012 an und sprach demgemäß die befristete Pension bis 28. 2. 2013 zu.
Das Berufungsgericht gab der (allein) von der beklagten Partei erhobenen Berufung Folge und wies das Klagebegehren ab. Es übernahm die Feststellungen des Erstgerichts und ging rechtlich davon aus, dass im Hinblick auf die von einem Versicherten benötigten Arbeitspausen grundsätzlich von der in § 11 AZG enthaltenen Regelung über die Ruhepausen auszugehen sei. Darüber hinaus würden von der Wirtschaft im Allgemeinen bei Tätigkeiten, die nicht mit Kundenverkehr verbunden sind, zusätzliche behinderungsbedingte Kurzpausen in einer täglichen Gesamtdauer von etwa 20 Minuten toleriert. Da auch gesunde Arbeitnehmer die Toilette keineswegs nur während der Arbeitspausen üblicherweise aufsuchen, stelle sich die Frage, ob und für wie viele der verbleibenden Toilettenbesuche überhaupt zusätzliche Arbeitspausen erforderlich seien. Aus dem vom Erstgericht gewonnenen Sachverhaltsbild lasse sich entnehmen, dass ein Aufsuchen der Toilette zum Zwecke der Blasenentleerung zu Arbeitsunterbrechungen in der Dauer von (lediglich) mehreren Minuten führe. Damit stehe in tatsächlicher Hinsicht fest, dass der durch das behinderungsbedingte zusätzliche Aufsuchen der Toilette verursachte Zeitaufwand den üblicherweise mit einem nichtbehinderungsbedingten Toilettenbesuch verbundenen geringen Zeitbedarf von (im Durchschnitt) wenigen Minuten nicht übersteige. Selbst wenn man das Zeiterfordernis auf fünf bis sechs Minuten einschätze, würden somit durch die notwendigen Toilettengänge die in der Wirtschaft allgemein akzeptierten behinderungsbedingten zusätzlichen Kurzpausen in der täglichen Gesamtdauer von 20 Minuten nicht überschritten. Ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers sei demnach nicht erforderlich. Die Klägerin sei am allgemeinen Arbeitsmarkt auf die Tätigkeit einer Portierin oder Eintrittskartenkassiererin verweisbar; dies ungeachtet des Umstands, dass zum Berufsbild dieser Verweisungstätigkeiten regelmäßiger Kunden‑ und Publikumskontakt gehöre. Die Voraussetzungen für einen Kostenersatz nach Billigkeit lägen nicht vor, weshalb die Klägerin die Kosten ihrer Berufungsbeantwortung selbst zu tragen habe.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil höchstgerichtliche Rechtsprechung dazu fehle, ob bei Verweisungstätigkeiten, die mit Kunden‑ und/oder Publikumskontakten verbunden sind, von der Wirtschaft akzeptierte Arbeitsunterbrechungen auch dann vorlägen, wenn die Blasenentleerung behinderungsbedingt stündlich erforderlich ist und der dadurch verursachte Zeitaufwand jeweils wenige Minuten nicht übersteigt.
Die gegen diese Entscheidung gerichtete Revision der Klägerin ist zulässig und berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
Die Klägerin macht in ihrer Revision zusammengefasst geltend, das Berufungsgericht habe sich über die Feststellung hinweggesetzt, dass bei den Tätigkeiten einer Portierin oder Eintrittskartenkassiererin stündliche Miktionsintervalle und die damit einhergehende stündliche Unterbrechung der Arbeit für mehrere Minuten zu einer massiven Störung des Arbeitsablaufs führen würden und ein Dienstgeber derartige Störungen ohne besonderes Entgegenkommen nicht akzeptiert. Vorsichtsweise werde auch ein rechtlicher Feststellungsmangel geltend gemacht, weil nicht konkret feststehe, wie lange genau die mit den stündlichen Miktionsintervallen der Klägerin einhergehende Unterbrechung der Arbeit andauere.
Dazu ist auszuführen:
1.1. Grundsätzlich darf ein Versicherter auf eine Berufstätigkeit dann nicht verwiesen werden, wenn er diese nur unter der Voraussetzung eines besonderen Entgegenkommens seines Arbeitgebers verrichten kann (10 ObS 221/88, SSV‑NF 2/97 ua).
1.2. Für die Annahme eines besonderen Entgegenkommens des Dienstgebers ist entscheidend, ob und inwieweit in der Wirtschaft ein bestimmtes Ausmaß von zusätzlichen Pausen im Allgemeinen toleriert wird (RIS‑Justiz RS0084389 [T5]).
1.3. Dabei ist grundsätzlich von der Regelung über die Ruhepausen in § 11 AZG auszugehen. Benötigt ein Versicherter über die gesetzlich vorgesehenen Pausen hinaus zusätzliche Arbeitspausen, so ist eine Verweisung nur zulässig, wenn eine entsprechende Anzahl von Arbeitsplätzen zur Verfügung steht, bei denen die erforderlichen Pausen gewährt werden. Ob dies zutrifft ist eine Tatfrage (RIS-Justiz RS0043613).
1.4. Im vorliegenden Fall ist also nicht zu prüfen, ob im Rahmen eines konkreten Arbeitsverhältnisses einem Arbeitgeber eine bestimmte Verhaltensweise des Arbeitnehmers zumutbar ist, (welche Frage der rechtlichen Beurteilung zuzuordnen wäre), sondern ob auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten bestehen, die die Klägerin mit den festgestellten Einschränkungen auszuführen in der Lage ist. Wie bereits oben ausgeführt, ist diese Frage dem Tatsachenbereich zuzuordnen (10 ObS 209/88, SSV‑NF 2/106; 10 ObS 305/90).
2.1. Im Allgemeinen werden behinderungsbedingte zusätzliche Kurzpausen in einer täglichen Gesamtdauer bis zu etwa 20 Minuten bei (Büro‑)Tätigkeiten, die nicht mit Kundenverkehr verbunden sind, in der Wirtschaft toleriert, sodass diese Gruppe von Arbeitnehmern nicht auf ein besonderes Entgegenkommen des Arbeitgebers angewiesen und deshalb nicht vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist (10 ObS 137/03z, SSV‑NF 17/66; RIS-Justiz RS0084414, RS0084389 [T3]).
2.2. Was behinderungsbedingte Toilettengänge betrifft, wurde mit der Begründung, dass das Aufsuchen der Toilette keineswegs nur während der Arbeitspausen üblich sei, die Frage aufgeworfen, inwieweit dafür überhaupt „zusätzliche Arbeitspausen“ (siehe oben Pkt 1.3.) erforderlich sind (10 ObS 119/05f mwN). Im Allgemeinen ist es üblich, jedenfalls kurze Toilettenpausen während der Arbeitszeit zu tolerieren und diese nicht als zusätzliche Arbeitspausen zu qualifizieren (10 ObS 106/11b mwN).
2.3. Zusätzliche Pausen beeinflussen aber den Arbeitsablauf im Hinblick auf deren Länge, zeitliche Lagerung, Vorhersehbarkeit etc den Arbeitsablauf in ganz unterschiedlicher Weise und stellen an die Toleranz des Arbeitgebers ganz unterschiedliche Anforderungen (10 ObS 124/99d, SSV-NF 13/113). Auch bei der Notwendigkeit häufiger Unterbrechungen wegen Aufsuchens der Toilette ist daher immer auf die konkrete Verweisungstätigkeit abzustellen (Sonntag in Sonntag ASVG4 § 255 Rz 25). In diesem Sinn betrafen die in der Entscheidung 10 ObS 110/11s getroffenen Aussagen ausschließlich die ‑ nicht mit Kundenverkehr verbundene ‑ Verweisungstätigkeit einer Büro‑Reinigungskraft. Mit dieser Verweisungstätigkeit wurden einen geringen Zeitaufwand erfordernde zusätzlich nötige Pausen für Toilettenbesuche (unter im einzelnen festgestellten weiteren Voraussetzungen) als leicht vereinbar angesehen, sodass ein besonderes Entgegenkommen des Dienstgebers als nicht erforderlich erachtet wurde.
2.4. Wie die Revisionswerberin zutreffend aufzeigt, steht im vorliegenden Fall aber fest, dass bei den der Klägerin allein möglichen Verweisungstätigkeiten einer Portierin und Eintrittskartenkassiererin infolge der regelmäßigen Publikums‑ bzw Kundenkontakte erwartet wird, dass der Arbeitsplatz durchgängig besetzt ist, weshalb stündliche Miktionsintervalle und die damit einhergehende stündliche Unterbrechung der Arbeit auch nur für wenige Minuten zu einer massiven Störung des Arbeitsablaufs führen; bei eineinhalbstündigen Miktionsintervallen ist dies hingegen nicht mehr der Fall. Diese ‑ vom Berufungsgericht übernommenen ‑ Feststellungen sind für die Beurteilung ausschlaggebend, weil es darauf ankommt, ob auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Verweisungstätigkeiten bestehen, die die Klägerin trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen auszuführen in der Lage ist. Dass über die konkret festgestellten Verweisungstätigkeiten hinaus, die nicht in Frage kommen, noch andere Verweisungsmöglichkeiten bestünden, wurde von der beklagten Partei nicht behauptet.
2.5. Auf Basis dieser Feststellung kommt dem Klagebegehren für die Dauer des Fortbestehens der nur einstündigen Miktionsintervalle daher Berechtigung zu. Das Erstgericht hat das Bestehen der Invalidität im Hinblick auf die Besserbarkeit auf eineinhalbstündige Miktionsintervalle ab dem Stichtag bis 28. 2. 2013 angenommen. Diesem Zeitraum hat die beklagte Partei weder in ihrer Berufung noch in ihrer Revisionsbeantwortung in Frage gestellt.
Das Ersturteil war daher vorbehaltlich des bereits in Rechtskraft erwachsenen abweislichen Teils wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Die ERV-Entlohnung beträgt nicht 3,60 EUR, sondern nur 1,80 EUR, weil eine Rechtsmittelschrift (hier: Revision) kein „verfahrenseinleitender“ sondern ein „weiterer“ Schriftsatz ist (§ 23a 2. Satz RATG; RIS-Justiz RS0126594 [T1]).
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