European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0070OB00003.21Y.0324.000
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen, die hinsichtlich des rechtskräftigen Zuspruchs von 432,38 EUR samt 4 % Zinsen aus 327 EUR seit 14. 11. 2019 und aus 105,38 EUR seit 27. 4. 2018sowie der rechtskräftigen Abweisung von 4 % Zinsen aus 327 EUR von 5. 9. 2018 bis 13. 11. 2019 unberührt bleiben, werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung insgesamt wie folgt lautet:
„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei 16.880,05 EUR samt jeweils 4 % Zinsen aus 12.755,12 EUR seit 27. 4. 2018, aus 3.798,03 EUR seit 5. 9. 2018 und aus 327 EUR seit 14. 11. 2019 binnen 14 Tagen zu zahlen.
Das Zinsenmehrbegehren von 4 % Zinsen aus 327 EUR von 5. 9. 2018 bis 13. 11. 2019 wird abgewiesen.“
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 11.481,58 EUR (darin 974,33 EUR USt und 5.635,60 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Verfahrens aller drei Instanzen binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Zwischen dem Kläger und der Beklagten besteht eine „Gesundheit & Wertvoll“‑Krankenzusatzversicherung; dem Versicherungsvertrag liegen die „Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Krankheitskosten- und Krankenhaus-Tagegeldversicherung, Fassung 1999“ (in der Folge AVB) zugrunde, die auszugsweise wie folgt lauten:
„[…]
1. Gegenstand und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes
1.1.a) Versicherungsfall ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung des Versicherten wegen Krankheit oder Unfallfolgen. Der Versicherungsfall beginnt mit der Heilbehandlung, er endet, wenn nach medizinischem Befund die Notwendigkeit der Heilbehandlung nicht mehr besteht. […]
1.4. Unfall ist ein vom Willen des Versicherten unabhängiges Ereignis, das plötzlich von außen mechanisch oder chemisch auf den Körper einwirkt und eine körperliche Schädigung nach sich zieht.
[...]“
[2] In den Tarifbedingungen „Versicherungsschutz für Sozialversicherte, Sonderklasse Select Kompakt QCIX 9/2017“, wurde der Deckungsumfang wie folgt umschrieben:
„Die Versicherung erstreckt sich auf Behandlungen von Unfallfolgen und nachfolgend abschließend aufgezählten schweren Erkrankungen bzw. Operationen und Untersuchungen im stationären und tagesklinischen Bereich, Rehabilitation nach Unfall und Ersatz von Bergungskosten.
Voraussetzung für die Übernahme der Behandlungskosten ist, dass der Versicherer diese vor Beginn schriftlich zugesagt hat (ausgenommen Unfall- und akute Behandlungen).
Folgende Erkrankungen bzw Operationen und Untersuchungen gelten als versichert:
[…]“
[3] Der Kläger, der schon länger an einer Gonarthrose im linken Knie litt, stürzte am 21. 4. 2018 über eine Treppe und verletzte sich an diesem Knie. Er litt danach an starken Knieschmerzen und begab sich in Behandlung der Privatklinik *****; dort wurde er am 22. und 23. 4. 2018 und von 26. 4. bis 3. 5. 2018 stationär behandelt und ihm wurde am 27. 4. 2018 ein künstliches Kniegelenk eingesetzt. Dies wurde aufgrund der ausgeprägten Schmerzhaftigkeit und der bereits vorher bestandenen massiven Gonarthrose notwendig. Der Sturz des Klägers führte lediglich zu einem Gelenkserguss und zu einem Reizzustand, wodurch die vorhandene Arthrose aktiviert wurde. Auch ohne den Sturz wäre mittel- bzw langfristig eine Knieprothese notwendig gewesen.
[4] Der Kläger begehrte wie im Spruch ersichtlich an nämlich von ihm gezahlte Behandlungs- und Operationskosten von 16.553,05 EUR sowie 327 EUR an Taggeld. Grund für Aufenthalt und Operation seien der Sturz und die dadurch verursachte Verletzung gewesen. Es liege ein Unfall vor; die Operation habe der Beseitigung der Unfallfolgen gedient. Die Bedingungslage enthalte keine Begrenzung des Unfallversicherungsschutzes bei Vorschäden durch Krankheiten oder Gebrechen.
[5] Die Beklagte erkannte das Klagebegehren in Ansehung von 327 EUR Taggeld und weiteren 105,37 EUR als Beitrag zu den Operationskosten an und bestritt im Übrigen ihre Leistungspflicht. Es sei kein Unfallgeschehen vorgelegen. Das Einsetzen der Knieendoprothese sei aufgrund der bereits bestehenden Gonarthrose erforderlich gewesen; diese sei keine Unfallfolge. Ohne Vorschäden wäre eine Operation nicht erforderlich gewesen. Die Behandlung von anderen Erkrankungen, einschließlich erst durch einen Unfall akut gewordener Vorerkrankungen, sei nicht gedeckt.
[6] Das Erstgericht gab der Klage im Umfang von 432,38 EUR samt 4 % Zinsen aus 327 EUR seit 14. 11. 2019 und aus 105,38 EUR seit 27. 4. 2018 statt und wies das Mehrbegehren von 16.447,67 EUR sA sowie das Zinsenmehrbegehren von (erkennbar) 4 % Zinsen aus 327 EUR von 5. 9. 2018 bis 13. 11. 2019 ab.
[7] Durch den Sturz des Klägers sei eine bereits seit Jahren bestehende Gonarthrose im linken Knie nur aktiviert worden. Das Einsetzen einer Knieprothese, die den Krankenhausaufenthalt des Klägers bedingt habe, sei daher nicht Folge des Sturzes, sondern lediglich die Beseitigung eines schon lange davor bestehenden Zustands, der vom Kläger ganz offensichtlich bis dahin gar nicht wahrgenommen worden sei. Auch ohne Sturzgeschehen wäre mittel- bzw langfristig ein Einsetzen einer Knieprothese medizinisch notwendig gewesen. Ansonsten habe der Kläger nur einen Gelenkserguss erlitten; ob ein Knorpelabbruch durch den Unfall entstanden sei, habe nicht festgestellt werden können. Die Operation habe daher lediglich der Behandlung einer bereits bestehenden massiven Vorschädigung des Knies gedient, welche nicht Ursache des Unfalls gewesen sei.
[8] Das vom Kläger gegen die Abweisung von 16.447,67 EUR sA angerufene Berufungsgericht bestätigte die erstgerichtliche Entscheidung. Nach den Feststellungen wären die Behandlung und die Operation nach dem Sturz, möge dieser durchaus als Unfall zu werten sein, ohne die massive Vorschädigung des Kniegelenks (noch) nicht notwendig gewesen. Hier stehe eine Unfallversicherung zur Rede, in der die Versicherungsleistung zur Behandlung und Heilung der Unfallfolgen zu erbringen wäre. Wenn wie hier eine so massive Vorschädigung vorliege, möge der Unfall diese auch erst virulent gemacht haben, sei die Operation nicht als unmittelbare Unfallfolge zu werten. Bei Auslegung des Vertrags am Maßstab eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers müsse klar sein, dass eine Unfallversicherung nur die durch den Unfall hervorgerufenen Folgen decke, auch wenn hier eine Klausel fehle, die den sachlichen Versicherungsschutz um den „Vorzustand“, Vorschädigungen, Vorerkrankungen, Abnutzungserscheinungen oder bereits vorhandene Gebrechen begrenzen würde. Der Versicherungsnehmer, der eine Versicherungsleistung beanspruche, habe die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des Eintritts des Versicherungsfalls zu beweisen. Hier habe aber die Beklagte den Beweis erbracht, dass die Beeinträchtigung auch ohne Unfall mit Sicherheit eingetreten wäre (überholende Kausalität).
[9] Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision mangels Rechtsprechung zum Umfang der Leistungspflicht aus einem Unfallversicherungsvertrag zu, bei dem nicht ausdrücklich der sachliche Versicherungsschutz bei Vorerkrankungen oder schon vorhandenen Gebrechen eingeschränkt oder ausgeschlossen werde.
[10] Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn des Zuspruchs weiterer 16.447,67 EUR sA; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
[11] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
[12] Die Revision ist zulässig und berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[13] 1. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach den Grundsätzen der Vertragsauslegung (§§ 914 f ABGB) auszulegen, und zwar orientiert am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers und stets unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks einer Bestimmung (RS0050063 [T71]; RS0112256 [T10]; RS0017960). Die Klauseln sind, wenn sie nicht Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen; dabei ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung zu berücksichtigen (RS0008901 [insb T5, T7, T87]). Unklarheiten gehen zu Lasten der Partei, von der die Formulare stammen, das heißt im Regelfall zu Lasten des Versicherers (RS0050063 [T3]).
[14] 2.1. Nach der Einschätzung eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers (RS0017960) gehört zum Vorliegen eines Unfalls grundsätzlich eine, wenngleich auch nur geringfügige, Verletzung des Versicherten (vgl 7 Ob 130/09g, 7 Ob 103/15w, 7 Ob 32/17g).
[15] 2.2. Hier hat der Kläger einen Sturz erlitten, durch den sein Knie verletzt wurde. Es liegt daher ein Unfall im Sinne der Versicherungsbedingungen vor.
[16] 3.1. Nach der Bedingungslage ist die Beklagte für Behandlungen deckungspflichtig, die Unfallsfolgen sind, also für Behandlungen von Zuständen, die durch einen Unfall verursacht wurden.
[17] 3.2. Ein Umstand ist für einen Erfolg ursächlich, wenn er ihn herbeigeführt, ihn bewirkt hat. Nach der Formel von der conditio sine qua non ist zu fragen, ob der Erfolg auch ohne den zu prüfenden Umstand eingetreten wäre. Dieser ist ursächlich für einen Erfolg, wenn er nicht weggedacht werden kann, ohne dass dann der Erfolg entfiele (vgl RS0128162). Nach der Theorie von der adäquaten Kausalität ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem schädigenden Umstand und dem eingetretenen Schaden nicht nur dann anzunehmen, wenn der Umstand den eingetretenen Schaden unmittelbar verursacht hat; ein adäquater Kausalzusammenhang liegt vielmehr auch dann vor, wenn eine weitere Ursache für den entstandenen Schaden hinzugetreten ist und dieses Hinzutreten nicht außerhalb der allgemeinen menschlichen Erwartung steht. Es kommt nur darauf an, ob nach den allgemeinen Kenntnissen und Erfahrungen das Hinzutreten der weiteren Ursache, wenn auch nicht gerade normal, so doch wenigstens nicht ganz außergewöhnlich ist (RS0022546 [T3]).
[18] 3.3. Hier hat der Kläger nach den Feststellungen durch seinen Sturz eine Knieverletzung erlitten, welche die Gonarthrose aktivierte, zu Schmerzzuständen führte und letztlich die umgehende Einsetzung eines künstlichen Kniegelenks in der konkreten Situation notwendig machte. Ohne den Unfall wäre dies beim bis dahin beschwerdefreien Kläger erst mittel- bis langfristig erforderlich geworden. Damit steht der Unfall als eine Ursache für das Einsetzen der Prothese zu diesem Zeitpunkt fest.
[19] 4.1. Zu beurteilen ist hier ein Krankenzusatzversicherungsvertrag, bei dem die medizinisch notwendige Heilbehandlung des Versicherten wegen Unfallfolgen unbeschränkt zugesagt wird. Auf Vorschäden wird in der Bedingungslage in keiner Weise Bezug genommen. Sie unterscheidet sich damit von üblichen Klauseln in der Unfallversicherung, mit denen eine sachliche Begrenzung des Versicherungsschutzes insofern vorgesehen ist, als eine Versicherungsleistung nur für die durch den eingetretenen Unfall hervorgerufenen Folgen zu erbringen ist, der Versicherer also nur für die Folgen einzutreten hat, für die der Unfall (allein) kausal ist (vgl RS0119520).
[20] Es ist Sache des Versicherers ausdrücklich eine sachliche Beschränkung seiner Deckungszusage für Vorschäden zu vereinbaren, wenn er eine solche zur Anwendung bringen will. Unterlässt er dies, so kommt es darauf an, ob diese für den durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer dennoch aus dem Gesamtzusammenhang klar erkennbar ist, was hier aber im Gegensatz zur Rechtsmeinung der Vorinstanzen nicht der Fall ist. Der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer fasst die uneingeschränkte Deckungszusage so auf, dass die Heilbehandlung als Folge eines Unfalls notwendig werden muss, also der Unfall zumindest auch kausal dafür war. Damit scheidet eine Begrenzung des Versicherungsschutzes bei allfälligen Vorschäden aus.
[21] 4.2. Da die Schmerzen im Knie des Klägers durch den Sturz, dh einen Unfall, aktiviert wurden und nur dadurch die Knieoperation zu diesem Zeitpunkt notwendig wurde (vgl Punkt 3.3.), ist die Beklagte zur Deckung verpflichtet.
[22] 5.1. Die Kostenentscheidung für das erstinstanzliche Verfahren beruht auf § 43 Abs 2 erster Fall iVm § 54 Abs 1a ZPO. Einwendungen gegen die Kostennote wurden nicht erhoben. Auf die Honorierung des Schriftsatzes vom 13. 11. 2019 hat der Kläger ausdrücklich verzichtet (785,16 EUR). Da er in erster Instanz nur geringfügig – teilweise im Zinsenpunkt – unterlegen ist, hat er alle Kosten ersetzt zu erhalten (6.336,82 EUR, darin 545,87 EUR USt und 3.061,60 EUR Barauslagen).
5.2. Die Kostenentscheidung für das Rechtsmittelverfahren (Berufung 2.774,52 EUR, darin 271,92 EUR USt und 1.143 EUR Gerichtsgebühren; Revision 2.370,24 EUR, darin 156,54 EUR USt und 1.431 EUR Gerichtsgebühren) stützt sich auf §§ 50, 41 ZPO.
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