European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0050OB00067.23Y.0717.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 1.096,56 EUR (darin 182,76 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Begründung:
[1] Am 16. Jänner 2021 kam es auf einem Rodelhang zu einem Zusammenstoß zwischen den auf einem Plastikbob sitzenden siebenjährigen Zwillingen des Beklagten und dem auf der Rodelpiste stehenden Kläger. Der Rodelhang (Hügel) wird seit Jahrzehnten von Familien und insbesondere von Kindern zum Rodeln verwendet. Der Kläger war kurz zuvor zu seiner 16-jährigen Tochter gelaufen, weil er gesehen hatte, dass sie im flachen Teil des Rodelhangs gestürzt war. Er blieb dort kurz stehen und unterhielt sich mit seiner unverletzten Tochter, wobei er talwärts schaute und die im Abstand von ein paar Sekunden abfahrenden Kinder aller Altersklassen nicht beachtete. Der Beklagte, der seinen Kindern vom Rand der Piste aus beim Rodeln zuschaute, sah den auf dem Rodelhang stehenden Kläger erst unmittelbar vor der Kollision.
[2] Der Kläger begehrte Schmerzengeld sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für alle künftigen unfallkausalen Folgeschäden.
[3] Der Beklagte wendete im Wesentlichen ein, der Kläger sei mitten auf der Rodelbahn gestanden; weder der Beklagte noch seine Kinder hätten den Zusammenstoß verhindern können.
[4] Das Erstgericht wies die Klage ab.
[5] Die Kinder des Beklagten hätten Übung im Umgang mit dem von ihnen verwendeten Bob gehabt und seien angewiesen worden, erst loszufahren, wenn die Piste frei ist. Der Beklagte und seine Frau hätten ihre Kinder durchgehend beobachtet. Der Beklagte habe nicht damit rechnen müssen, dass sich der Kläger in die Rodelstrecke begeben, dort stehen bleiben und dem Rodelgeschehen keine Aufmerksamkeit widmen würde. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger den Kindern des Beklagten hätte ausweichen können, wenn er den Rodelverkehr beachtet hätte. Der Beklagte habe seine Aufsichtspflicht nicht verletzt.
[6] Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung.
[7] Der von den Kindern des Beklagten verwendete Bob (mit zwei Plastikgriffen zum Lenken und Bremsen) sei „allgemein gebräuchlich“ und die beiden seien unmittelbar zuvor jeweils einzeln mit ihrer 17-jährigen Schwester gemeinsam darauf gerodelt. Außerdem seien die beiden auch schon früher ohne Probleme gerodelt. Der Beklagte habe seine Aufsichtspflichten nicht verletzt, indem er seinen siebenjährigen Kindern nicht das Rodeln verboten habe. Überschießende Feststellungen habe das Erstgericht entgegen den Behauptungen der Berufung nicht getroffen.
[8] Die Revision sei zuzulassen, weil der Frage, ob die Haftung nach § 1309 ABGB strenger zu beurteilen sei, wenn zwei Kinder gemeinsam einen Bob benützten, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.
[9] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Entscheidung im klagestattgebenden Sinn abzuändern, hilfsweise aufzuheben.
[10] Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig, weil sie keine Rechtsfrage im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO aufzeigt. Die Begründung kann sich auf die Ausführung der Zurückweisungsgründe beschränken (§ 510 Abs 3 ZPO).
[12] 1.1 Das Maß der Aufsichtspflicht im Sinn des § 1309 ABGB bestimmt sich danach, was angesichts des Alters, der Eigenschaft und der Entwicklung des Aufsichtsbedürftigen vom Aufsichtsführenden vernünftigerweise verlangt werden kann (RIS‑Justiz RS0027339 [T1]). Das Maß der gebotenen Sorgfalt bei Bestehen einer Aufsichtspflicht ist jeweils danach zu beurteilen, wie sich ein „maßgerechter“ Mensch in der konkreten Situation des Aufsichtspflichtigen verhalten hätte. Konkret vorhersehbare Gefahren sind zu vermeiden (RS0027339 [T7]). Für das Ausmaß der Aufsichtspflicht sind immer die besonderen Verhältnisse des einzelnen Falls maßgeblich (RS0042405 [T16]; RS0038140 [T1]). Die Frage, ob eine Aufsichtspflichtverletzung vorliegt, hängt daher stets von den Umständen des Einzelfalls ab und ist in der Regel nicht erheblich im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (RS0027463 [T2]; (RS0027323 [T10]).
[13] 1.2 Auch die Frage, ob eine aufsichtsführende Person, die zwei Kindern gemeinsam das Rodeln in einem Plastikbob auf einer Rodelwiese ermöglicht, dadurch ihre Aufsichtspflicht verletzt, lässt sich nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beantworten. Dabei sind etwa das Alter, die körperliche Konstitution und bisherige Erfahrung der Kinder, die Schnee- und Sichtverhältnisse und die Beschaffenheit des Bobs von wesentlicher Bedeutung. Allgemeine Grundsätze lassen sich zur Beurteilung dieser Frage hingegen nicht aufstellen.
[14] 1.3 Die in der Revision genannte Entscheidung 4 Ob 99/17p weist ebenfalls darauf hin, dass die Frage, ob eine Aufsichtspflichtverletzung vorliegt, stets von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Der dort beurteilte Fall ist mit dem hier vorliegenden nicht vergleichbar, denn er betraf Schadenersatzforderungen eines beim Spielen im Turnsaal verletzten fünfjährigen Kindes und die Aufsichtsführung für 21 Kindergartenkinder durch nur eine Person, die die Kinder auf einer Langbank (auch paarweise) rutschen ließ, während sie selbst in einem anderen Raum beschäftigt war. Daraus, dass der vierte Senat in der genannten Entscheidung die vom Berufungsgericht bejahte Aufsichtspflichtverletzung als im Einzelfall vertretbar ansah, lässt sich für den Rechtsstandpunkt des Klägers nichts gewinnen.
[15] 2.1 Nach ständiger Rechtsprechung können vom Berufungsgericht verneinte Mängel des Verfahrens erster Instanz im Revisionsverfahren nicht mehr geltend gemacht werden (RS0042963; RS0106371), es sei denn, das Berufungsgericht hätte infolge unrichtiger Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften eine Erledigung der Mängelrüge unterlassen (RS0043086 [T8]) oder die Mängelrüge mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen (RS0043086 [T7]). Solches behauptet der Kläger hier jedoch gar nicht, sondern er rügt neuerlich (wie schon in seiner Berufung) die unterbliebene Beiziehung eines Sachverständigen „aus dem Bereich Sport“ zur Frage, ob der von den beiden Kindern des Beklagten verwendete Bob nur für die Nutzung durch ein Kind alleine geeignet gewesen sei. Das Berufungsgericht hat dazu nachvollziehbar argumentiert, dass bei den beiden unmittelbar vor dem Zusammenstoß von der 17-jährigen Schwester gemeinsam mit je einem der beiden siebenjährigen Kinder durchgeführten Fahrten keine Probleme aufgetaucht seien, weshalb sich weitere Fragen der technischen Kapazität des Bobs für die Beurteilung einer Aufsichtspflichtverletzung des Beklagten nicht stellten.
[16] 2.2 Die Beweiswürdigung kann im Revisionsverfahren nicht mehr angefochten werden. Dies kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass ein unerwünschtes Ergebnis der Behandlung der Beweisrüge als Mangel des Berufungsverfahrens releviert wird (RS0043150 [T8]). Die Rechtsrüge ist nur dann gesetzmäßig ausgeführt, wenn sie vom festgestellten Sachverhalt ausgeht (RS0043312 [T14]). Die Revision „bekämpft“ unter anderem die Feststellung, dass der Rodelhang seit Jahrzehnten von zahlreichen Familien und insbesondere Kindern zu Rodelzwecken benutzt wird, und argumentiert, es gebe Beweisergebnisse, nach denen es sich nur um eine Wiese handle, die in dem Bereich, in dem der Kläger gestanden sei, „sehr flach“ sei. Damit wendet sie sich unzulässig gegen die Beweiswürdigung. Das Rechtsmittel vermag auch nicht aufzuzeigen, weshalb die gewünschten (ergänzenden) Feststellungen (etwa zur näheren Beschreibung des Rodelhangs) für die rechtliche Beurteilung von Bedeutung sein sollten.
[17] 3.1 Die Frage, ob im Hinblick auf den Inhalt der Prozessbehauptungen eine bestimmte Tatsache als vorgebracht anzusehen ist, ist eine Frage des Einzelfalls, der zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung keine erhebliche Bedeutung zukommt (RS0042828 [T1]). Gleiches gilt für die Frage, ob Feststellungen sich im Rahmen des geltend gemachten Klagegrundes oder der erhobenen Einwendungen halten (RS0042828 [T22]; RS0037972 [T15]). Auch die Frage, ob Feststellungen als im Rahmen des Vorbringens berücksichtigt werden können oder ob sie „überschießend“ sind, hat keine über den einzelnen Rechtsstreit hinausgehende Bedeutung (RS0040318 [T3]).
[18] 3.2 Die Revision verweist auf die schon in der Berufung zu angeblich überschießenden Feststellungen enthaltenen Argumente, zu denen das Berufungsgericht bereits ausführte, dass diese als von den Einwendungen des Beklagten gegen die Verletzung seiner Aufsichtspflicht umfasst anzusehen seien. Soweit sich das Vorbringen des Klägers dazu neuerlich vom festgestellten Sachverhalt entfernt (etwa dazu, dass sich siebenjährige Kinder nicht an Anweisungen von Aufsichtspflichtigen halten würden, oder dass der Bob nur für ein Kind geeignet gewesen sei), ist die Revision nicht gesetzmäßig ausgeführt.
[19] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Der Beklagte hat auf die fehlende Zulässigkeit der Revision hingewiesen (RS0035979 [T16]). § 23 Abs 9 RATG gilt allerdings nur für das Berufungsverfahren; im Revisionsverfahren gebührt der einfache Einheitssatz.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)