OGH 4Ob53/23g

OGH4Ob53/23g25.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek, sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Fitz als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj L*, geboren * 2020, *, Mutter D*, vertreten durch Mag. Florian Plöckinger, Rechtsanwalt in Wien, Vater E*, vertreten durch den Verfahrenshelfer Mag. David Kohl, Rechtsanwalt in Wien, dieser vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in Wien, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 13. Jänner 2023, GZ 43 R 546/22w‑32, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Leopoldstadt vom 11. August 2022, GZ 3 Ps 96/22w‑6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00053.23G.0425.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Grundrechte, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Antrag des Vaters, der Oberste Gerichtshof möge aussprechen, dass dem angefochtenen Beschluss keine sofortige Wirksamkeit und Vollstreckbarkeit zukomme, wird zurückgewiesen.

Im Übrigen wird dem Revisionsrekurs Folge gegeben. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben und zur neuerlichen Entscheidung über den Rekurs an das Rekursgericht zurückverwiesen.

Ein Kostenersatz findet nicht statt (§ 107 Abs 5 AußStrG).

 

Begründung:

[1] Vater und Mutter sind verheiratet und haben die gemeinsame Obsorge für die Minderjährige.

[2] Die Mutter beantragte, ihr die Obsorge vorläufig und endgültig allein zu übertragen sowie dem Vater Kontakte zur Minderjährigen vorläufig und endgültig zu untersagen. Der Vater sei der Mutter gegenüber gewalttätig gewesen und habe gedroht, Mutter und Kind umzubringen.

[3] Das Erstgericht hob die gemeinsame Obsorge vorläufig auf und betraute die Mutter vorläufig mit der alleinigen Obsorge, ohne den Vater zuvor am Verfahren zu beteiligen. Der Vater habe die Mutter wiederholt beleidigt, beschimpft und ihr Mobiltelefon weggenommen. Er habe die Mutter mit einem Messer bedroht, während sie die wenige Monate alte Minderjährige im Arm gehalten habe. Er habe die Minderjährige angeschrien, geschlagen und gebissen. Er habe gedroht, Mutter und Tochter zu töten. Dieses Verhalten gefährde das Kindeswohl, sodass ihm die Obsorge zu entziehen sei. Der Beschluss ist nach § 107 AußStrG sofort verbindlich und vollstreckbar.

[4] Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung. Der Vater sei zwar vor der Entscheidung nicht gehört worden, doch könne eine vorläufige Maßnahme auch ohne Anhörung des Antragsgegners erlassen werden, wenn eine akute Gefährdung des Kindeswohls die Anhörung verzichtbar erscheinen lasse. Es liege daher kein Verfahrensmangel vor. Die Beweisrüge des Vaters sei nicht gesetzmäßig ausgeführt.

[5] Der Revisionsrekurs des Vaters strebt die Abweisung des Antrags auf vorläufige Übertragung der Obsorge an. Hilfsweise beantragt der Vater die Aufhebung des Beschlusses und die neuerliche Entscheidung durch das Rekurs- oder Erstgericht. Außerdem beantragt er den Ausspruch über die Zuerkennung der vorläufigen Wirksamkeit abzuändern.

[6] Die Mutter beantragt, den Revisionsrekurs zurück- oder abzuweisen.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und berechtigt.

I. Zum Revisionsrekurs

[8] 1. Der Vater rügt die Unterlassung seiner Anhörung vor der Entscheidung als Verfahrensmangel sowohl des erstinstanzlichen als auch des Rekursverfahrens.

[9] 2. Das Verfahren vor dem Erstgericht war nicht mangelhaft.

[10] 2.1. Gemäß § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG können schwere Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, die das Rekursgericht verneint hat, auch noch im Revisionsrekurs gerügt werden, weil das Gesetz keine § 519 ZPO vergleichbare Bestimmung enthält (Klicka/Rechberger in Rechberger/Klicka, AußStrG³ [2020] § 66 Rz 2). Dies gilt insbesondere für eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (RS0121265 insbes [T4]; 2 Ob 24/22a Rz 5).

[11] Der Senat hat daher inhaltlich zu prüfen, ob das Erstgericht seine Entscheidung aufgrund eines einseitigen Verfahrens treffen durfte.

[12] 2.2. Grundsätzlich ist im Verfahren außer Streitsachen den Parteien Gelegenheit zu geben, von dem Gegenstand, über den das Gericht das Verfahren von Amts wegen eingeleitet hat, den Anträgen und Vorbringen der anderen Parteien und dem Inhalt der Erhebungen Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen (§ 15 AußStrG).

[13] Das Erfordernis allseitigen Parteiengehörs wird seit der EGMR-Entscheidung vom 15. 10. 2009, 17056/06, Micallef gegen Malta, auch für Provisorialverfahren als Regelfall angesehen. Dies hat der Oberste Gerichtshof auch für Verfahren wegen vorläufiger Maßnahmen außerhalb der EO bejaht, etwa für Verfahren wegen vorläufiger Untersagung nach § 7 Abs 4 NahVersG (16 Ok 12/13) oder – wie hier – wegen vorläufiger Obsorgeübertragung (9 Ob 8/14p [Pkt 2], vgl 4 Ob 215/22d Rz 10; siehe auch Deixler-Hübner in Rechberger/Klicka, AußStrG³ [2020] § 107 Rz 19).

[14] Der EGMR hält jedoch ausnahmsweise ein einseitiges Verfahren für zulässig, wenn die Effektivität einer Maßnahme von einer besonders raschen Entscheidung abhängt. Daher ist im Obsorgeverfahren die Anordnung einer vorläufigen Maßnahme gemäß § 107 Abs 2 AußStrG ohne vorangehende Anhörung des Antragsgegners möglich, wenn diese Entscheidung zum Schutz eines Minderjährigen aufgrund besonderer Umstände unverzüglich zu treffen ist (1 Ob 57/19t mwN). Einer solchen Entscheidung kommt wegen ihrer typischen Dringlichkeit im Regelfall schon von Gesetzes wegen vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu (§ 107 Abs 2 letzter Satz AußStrG idF KindNamRÄG 2013).

[15] Bei der Prüfung, ob die einseitige Erlassung einer vorläufigen Maßnahme nach § 107 AußStrG geboten ist, ist aber ein strenger Maßstab geboten, weil dem Antragsgegner im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren bei unterbliebener Anhörung kein Rechtsbehelf zur nachträglichen Gewährung des rechtlichen Gehörs vor dem Erstgericht zur Verfügung steht, wie es der Widerspruch nach § 397 EO im Verfahren wegen einstweiliger Verfügungen erlaubt (9 Ob 8/14p [Pkt 3] mwH; Einberger in Schneider/Verweijen, AußStrG [2018] § 107 Rz 15; Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 [2019] § 107 Rz 54).

[16] 2.3. Im vorliegenden Fall behauptete die Mutter mehrfache Gewalttaten und massive Drohungen (Genitalverstümmelung, Todesdrohung unter Vorhalt eines Messers) gegen Mutter und Kind. Sie belegte diese Vorwürfe nicht nur durch ihre eigene Einvernahme, sondern auch mit Lichtbildern einer verwüsteten Wohnung und von Hämatomen, ärztlichen Befunden sowie Unterlagen zur Wegweisung und Untersuchungshaft des Vaters. Den Vater ins Verfahren einzubeziehen hätte eines Rechtshilfeersuchens an ein Schweizer Gericht bedurft, was mindestens zu einer mehrwöchigen Verzögerung der Entscheidung geführt hätte.

[17] Zwar reichen bloße Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme mit dem Obsorgeberechtigten nicht generell aus, um ihm das Gehör zu verweigern (vgl 4 Ob 150/16m).

[18] Im vorliegenden Fall wäre dem Vater aber während mehrerer Wochen noch das Recht zugekommen, den Aufenthaltsort der von ihm angeblich mit Verstümmelung und Tod bedrohten Minderjährigen zu bestimmen, sowie sie zu pflegen und zu erziehen. Diese Gefährdung nicht nur für das Wohl, sondern sogar das Leben der Minderjährigen wog angesichts der gut bescheinigten, besonders akuten Bedrohungssituation schwerer als das Interesse des Vaters, den Vorwürfen gegen ihn bereits im Verfahren erster Instanz entgegentreten zu können, indem ihm der Antrag der Mutter bereits vor der Entscheidung des Erstgerichts zur Kenntnis gebracht und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt wird.

[19] 2.4. Die Vorgangsweise des Erstgerichts, dem Vater die Obsorge ohne seine Anhörung zu entziehen, begründet im vorliegenden Fall daher keinen Verfahrensmangel.

[20] 3. Jedoch ist das Rekursverfahren mangelhaft.

[21] 3.1. Die ausnahmsweise Zulässigkeit einer einseitigen Erlassung von einstweiligen Maßnahmen im Dienste ihrer Effektivität wird von der Rechtsprechung damit gerechtfertigt, dass das rechtliche Gehör nachträglich eingeräumt wird. Im Sicherungsverfahren nach der EO erfolgt dies durch den Widerspruch des Antragsgegners, nach dem das Erstgericht selbst seine einstweilige Verfügung wieder aufheben kann (RS0074799 [T11 und T12]).

[22] Eine entsprechende Regelung fehlt zwar im Außerstreitgesetz. Dafür kann der in erster Instanz nicht gehörte Antragsgegner aber im Rekursverfahren unbeschränkt Tatsachenvorbringen erstatten und Beweismittel anbieten. Gemäß § 49 AußStrG sind nämlich neu vorgebrachte Tatsachen und angebotene Beweismittel soweit zu berücksichtigen, als die Verspätung nur auf einer entschuldbaren Fehlleistung der Partei beruht. Diese Neuerungserlaubnis gilt natürlich auch, wenn eine Partei mangels Einbeziehung im Verfahren ihren Standpunkt schuldlos nicht darstellen und beweisen konnte.

[23] 3.2. Im vorliegenden Fall brachte der Vater im Rekurs vor, dass er seine Familie weder geschlagen noch bedroht habe. Er habe viel Zeit mit seiner neugeborenen Tochter verbracht, sich um sie gekümmert, ihr nachts das Fläschchen gebracht und sei mit ihr zum Arzt und spazieren gegangen. Das Erstgericht habe ihm aber nicht die Gelegenheit gegeben, seinen Standpunkt darzulegen.

[24] Das Rekursgericht ging auf diese Tatsachenbehauptungen inhaltlich nicht ein. Es vertrat die Ansicht, dass darin keine gesetzmäßig ausgeführte Beweisrüge zu sehen sei, zumal der Vater für seine Behauptungen keine Beweisergebnisse ins Treffen führe.

[25] Dabei übersieht das Rekursgericht, dass eine in erster Instanz gar nicht angehörte Partei gerade nicht an die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens gebunden ist (6 Ob 51/09g), weil sie ja keine Gelegenheit hatte, zur Feststellung des Sachverhalts beizutragen.

[26] 3.3. Der Anfechtungsgrund der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist im AußStrG dadurch gekennzeichnet, dass er nicht mehr absolut – wie die Nichtigkeitsgründe der ZPO – wirkt. Er kann nur dann zur Aufhebung führen, wenn er zum Nachteil des Rechtsmittelwerbers ausschlagen könnte (RS0120213). Der Rechtsmittelwerber hat deshalb darzulegen, welches konkrete (zusätzliche) Vorbringen er erstattet beziehungsweise welche konkreten (weiteren) Beweismittel er angeboten hätte, wäre er dem Verfahren erster Instanz umfassend beigezogen worden (RS0120213 [T9]), weil für die Entscheidung unerhebliches Vorbringen nicht gehört werden muss (RS0120213 [T10]).

[27] Der Vater muss als Revisionsrekurswerber also darlegen, dass die Gehörverletzung durch das Rekursgericht das Verfahrensergebnis beeinflusst haben kann.

[28] Diesem Erfordernis ist hier Genüge getan. Der Vater brachte im Revisionsrekurs nochmals konkret vor, dass sich das Familienleben aus seiner Sicht ganz anders gestaltet hatte, als es die Mutter schilderte. Außerdem brachte er zum Ausdruck, dass er an einem „rechtskonformen Ermittlungsverfahren“ der Vorinstanzen hätte „mitwirken“ wollen. Dies kann im Zusammenhang zwanglos als Beweisanbot seiner Einvernahme als Partei verstanden werden.

[29] In diesem Zusammenhang ist außerdem auf den Untersuchungsgrundsatz des § 16 AußStrG zu verweisen, wonach das Gericht von Amts wegen dafür zu sorgen hat, dass alle für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen aufgeklärt werden, und sämtliche Hinweise auf solche Tatsachen entsprechend zu berücksichtigen hat. Dies gilt auch noch im Rekursverfahren (vgl RS0126182, wonach sogar Rechtsmittelgründe amtswegig aufzugreifen sind, wenn sie geeignet sind, die Richtigkeit der Entscheidung zu hindern).

[30] 3.4. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs kann im Außerstreitverfahren auch dadurch behoben werden, dass eine Partei im Rechtsmittelverfahren Gelegenheit erhält, ihren Standpunkt zu vertreten (RS0006057).

[31] Die Mutter argumentiert in ihrer Revisionsrekursbeantwortung, dass eine solche Heilung der Gehörverletzung dadurch eingetreten sei, dass der Vater seinen Standpunkt im Rekursverfahren habe darlegen können. Dies trifft jedoch nicht zu, weil das Rekursgericht die Entscheidung nur aufgrund der Ergebnisse des einseitigen erstinstanzlichen Verfahrens überprüfte und gar nicht auf die Tatsachenbehauptungen des Vaters einging.

[32] Eine Sanierung durch den Obersten Gerichtshof kommt nicht in Frage, weil dieser auch im Außerstreitverfahren keine Tatsacheninstanz ist (RS0007236 [vgl T9 zum AußStrG 2005]).

[33] Eine Zurückverweisung des Verfahrens an das Rekursgericht ist deshalb unumgänglich, wobei die erforderliche Beweiswiederholung und -ergänzung auch durch einen beauftragten Richter des Rekursgerichts vorgenommen werden kann (§ 52 Abs 2 AußStrG).

II. Zum „Antrag auf hemmende Wirkung“

[34] 1. Da das Erstgericht nichts anderes ausgesprochen hat, kommt seiner Entscheidung vorläufige Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit zu. Im Übrigen gilt § 44 AußStrG sinngemäß (§ 107 Abs 2 S 3 und 4 AußStrG).

[35] Daher traten die vorläufigen Beschlusswirkungen ein, sobald der Beschluss des Erstgerichts zugestellt wurde. Sie wirken bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung über die Sache, auch wenn der Beschluss inzwischen aufgehoben oder durch einen anderen Beschluss ersetzt wird (§ 44 Abs 1 AußStrG).

[36] 2. Gemäß § 44 Abs 2 AußStrG ist gegen Entscheidungen über die vorläufige Verbindlichkeit oder Vollstreckbarkeit kein Rechtsmittel zulässig. Der Vater konnte in seinen Rechtsmitteln gegen den vorläufig wirksamen Beschluss die Abänderung dieser vorläufigen Wirksamkeit nur anregen. Der entsprechende Antrag im Revisionsrekurs ist daher als unzulässig zurückzuweisen (RS0122828).

[37] Weder die bisherige Bescheinigungslage noch aktenkundige Entwicklungen seit der Entscheidung durch das Erstgericht geben dazu Anlass, dem somit als bloße Anregung zu verstehenden Antrag des Vaters inhaltlich näher zu treten und die vorläufige Wirksamkeit amtswegig aufzuheben (§ 44 Abs 1 Satz 3 AußStrG).

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