OGH 9Ob8/14p

OGH9Ob8/14p26.2.2014

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Hopf als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras und Mag. Ziegelbauer, die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Dehn und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj L***** S*****, geboren am *****, wegen Obsorge, über den Revisionsrekurs der Mutter M***** S*****, vertreten durch Scheer Rechtsanwalt GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 20. Dezember 2013, GZ 43 R 635/13w-45, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2014:0090OB00008.14P.0226.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).

 

Begründung:

Im Scheidungsvergleich vom 9. 8. 2012 vereinbarten die Eltern des minderjährigen Kindes die gemeinsame Obsorge, den hauptsächlichen Aufenthalt des Kindes bei der Mutter und ein umfangreiches Kontaktrecht des Vaters. Das Kind besuchte nach seiner Einschulung im September 2012 die erste Klasse einer Wiener Volksschule. Im August 2013 reiste die Mutter mit ihm nach Israel.

Das Erstgericht erachtete es als bescheinigt, dass das Kind als Muttersprache Russisch, aber auch gut Deutsch, hingegen praktisch kein Hebräisch spricht, es in Wien gut integriert ist und Freunde hat. Die Mutter trat mit dem Kind Anfang August 2013 die Reise mit der Behauptung an, am 30. 8. 2013 wieder nach Wien zurückzukehren, hatte jedoch die Absicht, diesbezüglich den Vater zu täuschen und in Wahrheit auf Dauer, zumindest aber für ein ganzes Jahr mit dem Kind nach Israel zu übersiedeln. Erst am 25. 8. 2013 teilte sie ihm diese Absichten mit. Künftige Kontaktmöglichkeiten des Vaters mit dem Kind junktimierte sie mit seiner Zustimmung zur Verlegung des Wohnsitzes des Kindes nach Israel, die der Vater verweigerte. Bis dahin waren die Kontakte zwischen Vater und Kind sehr gut, seither wirkt das Kind unsicher und verschlossen. Dem Vater bereitet auch die angespannte Sicherheitslage im Nahen Osten große Sorge.

Das Erstgericht folgte mit dem bekämpften Beschluss dem am 2. 9. 2013 eingebrachten Antrag des Vaters, mit vorläufiger Verbindlichkeit und Vollstreckbarkeit der Mutter vorläufig, dh bis zur Rechtskraft einer Entscheidung über den gleichzeitig gestellten Obsorgeübertragungsantrag des Vaters, die Obsorge zu entziehen und ihn alleine damit zu betrauen. Sei im Hinblick auf das Kindeswohl auch die personelle Kontinuität mit dem bisher betreuenden Elternteil zu beachten, liege doch ein besonders krasser Bruch aller sonstigen Lebensverhältnisse des Kindes vor. Vor Beschlussfassung hatte das Erstgericht von der Zustellung des Antrags an die Mutter und von einer Aufforderung zur Äußerung abgesehen.

Das Rekursgericht bestätigte die Entscheidung.

Rechtliche Beurteilung

In ihrem dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt die Mutter keine Rechtsfrage von der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG auf:

1.  Voranzustellen ist, dass die Frage der Obsorgeübertragung immer eine solche des Einzelfalls ist, der in der Regel keine grundsätzliche Bedeutung zuerkannt werden kann, wenn durch die Entscheidung nicht leitende Grundsätze der Rechtsprechung oder des Kindeswohls verletzt wurden (s RIS‑Justiz RS0007101).

Auch die Frage, bei welchen konkreten Verhältnissen eine Übersiedlung in eine Stadt im Ausland eine Kindeswohlgefährdung darstellt, die eine Obsorgeübertragung rechtfertigen könnte, ist eine Rechtsfrage des Einzelfalls und daher im Allgemeinen keine erhebliche Rechtsfrage im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG (RIS‑Justiz RS0106310 [T4]).

2.  Die Revisionsrekurswerberin meint, mangels ihrer Anhörung im Provisorialverfahren sei es zur Verletzung ihres rechtlichen Gehörs gekommen.

Richtig ist, dass aufgrund der Entscheidung des EGMR vom 15. 10. 2009, Micaleff gegen Malta , 17056/06, im Regelfall nunmehr auch im Provisorialverfahren die Garantien des Art 6 EMRK anwendbar sind. Der Gerichtshof hat aber auch anerkannt, dass in Ausnahmefällen ‑ in denen etwa die Effektivität der angestrebten Maßnahme von einer raschen Entscheidung abhängt ‑ die sofortige Erfüllung aller Anforderungen des Art 6 EMRK unmöglich sein kann. Während die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betroffenen Tribunals oder Richters in solchen Verfahren eine unentbehrliche und unveräußerliche Sicherheit ist, können daher in solchen besonderen Fällen andere Verfahrensgarantien nur in jenem Ausmaß anwendbar sein, das mit der Art und dem Zweck des jeweiligen Provisorialverfahrens vereinbar ist (s auch 2 Ob 140/10t).

3.  Dass ein entsprechender Ausnahmefall vorliegen kann, wenn eine akute Gefährdung des Kindeswohls durch das Verhalten des anderen besteht, liegt auf der Hand (ebenso Beck in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG § 107 Rz 48 mwN; s auch 3 Ob 263/09m). Dennoch ist hier ein strenger Maßstab geboten, weil dem Antragsgegner im Verfahren über die Obsorge und die Ausübung des Umgangsrechts bei unterbliebener Anhörung kein Widerspruch nach § 397 EO ‑ als jener Rechtsbehelf, mit dem bei Erlassung einstweiliger Maßnahmen im Sinn der EO das rechtliche Gehör nachträglich gewährt wird ‑ zur Verfügung steht ( Beck in Gitschthaler/Höllwerth , aaO).

4.  Schon zur früheren Rechtslage wurde eine akute Gefährdung des Kindeswohls angenommen, wenn zu befürchten war, dass das Kind unrechtmäßig ins Ausland verbracht werden sollte (EFSlg 116.065, 122.275).

Die Mutter wendet gegen die Unrechtmäßigkeit der Übersiedlung ein, gemäß § 162 Abs 2 ABGB als Domizilelternteil alleine zur Bestimmung des Wohnorts des Kindes berechtigt zu sein. Die Bestimmung des § 162 Abs 3 erster Satz ABGB („Ist nicht festgelegt, in wessen Haushalt das Kind hauptsächlich betreut werden soll, so darf der Wohnort des Kindes nur mit Zustimmung beider Elternteile oder Genehmigung des Gerichts ins Ausland verlegt werden.“) könnte zwar den Schluss nahelegen, dass bei Feststehen eines hauptsächlich betreuenden Elternteils dieser allein auch über einen Umzug ins Ausland entscheiden kann. In den Gesetzesmaterialien (JAB 2087 BlgNR 24. GP S 3 zu § 162 ABGB) wurde aber klargestellt, dass sich der Domizilelternteil im Hinblick auf das Einvernehmlichkeitsgebot des § 137 Abs 2 ABGB um eine Zustimmung des anderen Elternteils zu bemühen und bei Ablehnung nach § 189 Abs 1 letzter Satz und Abs 5 ABGB dessen Äußerung zu berücksichtigen habe, wenn dies dem Wohl des Kindes besser entspreche. Ein derartiges Bemühen der Mutter geht aus ihrem Vorbringen jedoch nicht hervor.

5.  Eine Gefährdung des Kindeswohls wurde auch bei einer ‑ entgegen den Zusicherungen der Mutter erfolgten ‑ heimlichen und überraschenden Übersiedlung nach Peru bejaht, weil dadurch völlig abrupt und unvorhersehbar die intakte Beziehung der Kinder zu ihrem Vater abgebrochen wurde (6 Ob 124/08s).

6.  Bedenkt man, dass auch im vorliegenden Fall eine heimliche und überraschende Übersiedlung ins Ausland stattfand, dass das Kind dadurch aus seinem gewohnten Lebens‑ und Schulumfeld herausgerissen wurde, dass damit die sehr guten und intensiven Kontaktmöglichkeiten zwischen Vater und Kind (abgesehen von Telefonaten und Skypen) ohne Verabschiedung abrupt abgebrochen wurden, dass das Kind aber auch des Hebräischen nicht mächtig ist und deshalb schon sprachlich mit Eingliederungsproblemen in einer neuen Schule konfrontiert wäre, so ist zunächst die Annahme einer akuten Gefährdung des Kindeswohls vertretbar und keiner weiteren Korrektur bedürftig.

Berücksichtigt man weiter, dass die Kontinuität im Besuch der gewohnten Volksschule gefährdet war (Antragstellung des Vaters zum Schulbeginn 2013) und dass der Vater darüber hinaus auch eine Verbringung des Kindes an einen ihm unbekannten Ort befürchten musste (Bekanntgabe eines künftigen Aufenthaltsortes des Kindes durch die Mutter nur bei Zustimmung zum Wohnortwechsel), so kann nicht zweifelhaft sein, dass die Effektivität des vorläufigen Obsorgeentzugs hier von einer raschen Entscheidung abhing, der eine vorangehende Anhörung der Mutter entgegengestanden wäre. Damit ist aber auch die Ansicht des Rekursgerichts, dass die unterbliebene Anhörung und Einvernahme der Mutter im Provisorialverfahren im Licht des einstweiligen Charakters der angeordneten vorläufigen Obsorgeentziehung und ihrer Dringlichkeit zum Schutz des Kindeswohls keinen Verfahrensmangel begründen konnte, nicht weiter korrekturbedürftig.

7.  Die Ausführungen der Revisionsrekurs-werberin zu § 107 Abs 2 AußStrG vermögen daran nichts zu ändern. Es sei nur hervorgehoben, dass diese Bestimmung idF des KindNamRÄG 2013, BGBl I Nr 15/2013, eine vorläufige Obsorgeentscheidung nun nach Maßgabe des Kindeswohls, insbesondere zur Aufrechterhaltung der verlässlichen Kontakte und zur Schaffung von Rechtsklarheit, erlaubt. Auf eine akute Gefährdung des Kindeswohls kommt es insofern nicht mehr an (Kindeswohlförderung statt bisheriger Gefahrenabwehr, s Beck in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG § 107 Rz 38).

8.  Da der außerordentliche Revisionsrekurs danach insgesamt keine Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG aufzeigt, ist er zurückzuweisen.

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