European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0230DS00007.22I.0706.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
In Stattgebung der Beschwerde wird der angefochtene Beschluss dahin abgeändert, dass Grund zur Disziplinarbehandlung in mündlicher Verhandlung hinsichtlich des Verdachts vorliegt, * habe sich in einem zu AZ * des Landesgerichts * eingebrachten Schriftsatz vom 28. Juli 2020 einer gegen das Sachlichkeitsgebot nach § 9 Abs 1 RAO verstoßenden Schreibweise bedient, indem er unter anderem äußerte:
‑ „Die Gegenseite schreckt auch vor infamen
Verleumdungen nicht zurück“,
‑ es werde ein „Weg des 'Täuschens & Tarnens'
fortgesetzt“,
‑ „eine [gegnerische] Ausführung“ sei „in ihrer
Perfidie und Unrichtigkeit kaum zu überbieten“,
‑ „das gegnerische Vorbringen ist durchsichtig; mit Verleumdungen und Stimmungsmache versucht man vom rechtlich relevanten Sachverhalt, der sich im Grunde auf wenige Zeilen zusammenfassen lässt, abzulenken“, sowie
‑ der Zeuge * C* sei „sogar kriminell“ und die Erstbeklagte prahlerisch.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Beschluss stellte der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien fest, dass kein Grund zur Disziplinarbehandlung von Rechtsanwalt * (erkennbar) wegen desVerdachts vorliege, er habe durch die aus dem Spruch ersichtlichen Äußerungen schuldhaft die Pflichten seines Berufs verletzt und die Ehre oder das Ansehen des Standes beeinträchtigt.
[2] Nach der Begründung dieser Entscheidung (BS 2 f) brachte der Disziplinarbeschuldigte (als Klagsvertreter) einen von ihm verfassten Schriftsatz vom 28. Juli 2020 im zu AZ * des Landesgerichts * anhängigen Verfahren ein, in dem er die aus dem Spruch ersichtlichen Ausführungen tätigte. Damit reagierte er auf (nicht näher beschriebene) Äußerungen in einer – vom Anzeiger verfassten – gegnerischen Klagebeantwortung, welche vom Disziplinarrat ihrerseits „als standeswidrige Überschreitung der freien Meinungsäußerung“ und „bewusstes In-Streit-ziehen“ des Disziplinarbeschuldigten eingestuft wurden. Letzterer habe „vorab zumindest intern geprüft, ob der Tatbestand der Verleumdung erfüllt sein kann“, und „den Vorwurf nicht leichtfertig und unüberlegt erhoben“.
[3] Darauf basierend gelangte der Disziplinarrat zur Einschätzung, dass die inkriminierten Äußerungen „gerade noch tolerabel“ im Sinne einer „angemessenen Reaktion“ auf die „standeswidrigen Vorwürfe des Anzeigers“ seien und „der Vorwurf der Verleumdung durch Bezichtigung des Disziplinarbeschuldigten eines standeswidrigen Verhaltens nicht ungeprüft und leichtfertig erhoben wurde“ (BS 3).
Rechtliche Beurteilung
[4] Die dagegen gerichtete, die Fassung eines Einleitungsbeschlusses (in eventu eine Kassation und Zurückverweisung) anstrebende Beschwerde des Kammeranwalts ist – wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt – berechtigt:
[5] Ein Beschluss des Inhalts, dass kein Grund zur Disziplinarbehandlung vorliegt (Einstellungsbeschluss), darf vom Disziplinarrat – soweit hier wesentlich – gefasst werden, wenn nicht einmal der Verdacht eines ein Disziplinarvergehen begründenden Verhaltens des angezeigten Rechtsanwalts im Sinn des § 28 Abs 2 DSt vorliegt (vgl RIS‑Justiz RS0056969, RS0057005; Lehner in Engelhart/Hoffmann/Lehner/ Rohregger/Vitek, RAO10 § 28 DSt Rz 9).
[6] Vom – eine Verfahrenseinstellung rechtfertigenden – Fehlen eines solchen Verdachts ist (im Lichte des § 212 Z 2 StPO [§ 77 Abs 3 DSt]) nur dann auszugehen, wenn das vorliegende Tatsachensubstrat Grund zur Annahme bietet, dass Dringlichkeit und Gewicht des Tatverdachts nicht ausreichen, um eine Verurteilung des Beschuldigten auch nur für möglich zu halten, und von weiteren Ermittlungen eine Intensivierung des Verdachts nicht zu erwarten ist. Diese Beurteilung ist Sache der Beweiswürdigung des Senats gemäß § 28 DSt, während dem erkennenden Senat gemäß § 30 DSt die Prüfung vorbehalten bleibt, ob sich der Verdacht zum Schuldbeweis verdichtet hat (RIS‑Justiz RS0056973 [T5]).
[7] Korrespondierend zu der in § 9 Abs 1 erster Satz RAO normierten Pflicht eines Rechtsanwalts zur Parteientreue, räumt der zweite Satz dieser Bestimmung dem Rechtsanwalt das Recht ein, alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachtet, unumwunden vorzubringen und ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel in jeder Weise zu gebrauchen, welche seinem Auftrag, seinem Gewissen und den Gesetzen nicht widerstreiten. Wenn damit auch die Grenze, die bei der Prozessführung nicht überschritten werden darf, hoch liegt, meint das solcherart – neben Auftrag und Gesetz – als Maßstab genannte „Gewissen“ doch ein solches, das hohen berufsethischen Grundsätzen verpflichtet ist (Lehner in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 9 RAO Rz 14 mwN).
[8] Von einem Rechtsanwalt wird zudem aufgrund seiner hohen Bildung und seiner Tätigkeit im Rahmen der Rechtspflege erwartet, dass er sich stets in Wort und Schrift einer sachlichen Ausdrucksweise bedient und jede unsachliche und beleidigende Äußerung unterlässt (RIS-Justiz RS0055208); bereits das fahrlässige Überschreiten des aus § 9 Abs 1 RAO zulässigen Maßes in Schriftsätzen verletzt die Berufspflichten und beeinträchtigt überdies die Ehre und das Ansehen des Standes (vgl RIS‑Justiz RS0120395; 21 Ds 1/20i).
[9] Unter Hinweis auf den Wortlaut einzelner – auch ohne Feststellungen zum konkreten Bedeutungsinhalt (vgl RIS‑Justiz RS0092588, RS0092437 [T4]) für die Prüfung der Verdachtslage nach § 28 DSt ausreichender (weil insoweit bereits „für sich“ sprechender) – Passagen im Schriftsatz des Disziplinarbeschuldigten, insbesondere die Vorwürfe „infamer Verleumdungen“ des „Täuschens und Tarnens“ und der „Perfidie“ sowie die Behauptungen eines „kriminellen“ Verhaltens eines Zeugen und des „prahlerischen“ Agierens der Beklagten, macht die Beschwerde des Kammeranwalts hinreichend deutlich geltend, dass (objektiv betrachtet und soweit für die Beurteilung der Dringlichkeit der Verdachtslage gemäß § 28 DSt zulässig) durchaus konkrete Anhaltspunkte für die Verdachtsannahme vorliegen, der Disziplinarbeschuldigte habe sich (als Parteienvertreter) einer unsachlichen und über die Befugnis zu unumwundenem Vorbringen (vgl dazu Lehner in Engelhart/Hoffmann/ Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 9 RAO Rz 16 mwN) hinausgehenden Ausdrucksweise bedient, welche vielmehr eine mit persönlicher Animosität geführte Kontroverse indiziert (RIS-Justiz RS0117215) und die ihm – zumal bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt subjektiv erkennbar und vermeidbar – als Verstoß gegen § 9 RAO anzulasten wäre (vgl RIS-Justiz RS0055208, RS0055897, RS0056312).
[10] Da somit vorerst die Möglichkeit einer disziplinarrechtlichen Verfehlung nicht auszuschließen ist und über allfällige Zweifel an der disziplinären Verantwortlichkeit des Disziplinarbeschuldigten nur in einer mündlichen Disziplinarverhandlung entschieden werden kann (vgl Lehner in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO10 § 28 DSt Rz 10; RIS-Justiz RS0110142, RS0057005), war der (in nichtöffentlicher Sitzung ergangene) Einstellungsbeschluss nach § 28 Abs 3 DSt unzulässig (RIS‑Justiz RS0056969, RS0056973).
[11] Demnach war der angefochtene Beschluss in Stattgebung der Beschwerde und in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur wie aus dem Spruch ersichtlich abzuändern.
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