OGH 22Ds2/17i

OGH22Ds2/17i27.6.2017

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 27. Juni 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Anwaltsrichter Dr. Mascher und Dr. Waizer sowie den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Sailer in Gegenwart der Richteramtsanwärterin MMag. Spunda als Schriftführerin in der Disziplinarsache gegen *****, Rechtsanwalt in *****, wegen der Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre oder Ansehen des Standes über die Berufung des Kammeranwalts gegen das Erkenntnis des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Tirol vom 11. April 2016, AZ D 15‑50 (3 DV 16‑09), nach mündlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Stani, des Kammeranwalts Dr. Schmidinger und des Beschuldigten zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2017:0220DS00002.17I.0627.000

 

Spruch:

 

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde ***** vom Vorwurf, er habe die Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre oder Ansehen des Standes dadurch begangen, dass er in der Nichtigkeitsbeschwerde für seinen Mandanten Dr. Heinrich S***** im Verfahren AZ 29 Hv 26/15x des Landesgerichts Innsbruck ausführte: „Ob Divergenzen zwischen dem Inhalt der Beweisaufnahme und seiner Darstellung im Urteil Ergebnis von Wahrnehmungsstörungen und Fehlern bei der richterlichen Informationsverarbeitung oder gelegentlich Produkt unbewusster Einseitigkeit sind, kann dahinstehen.“, unter Anwendung des § 3 DSt gemäß § 38 (Abs 1 erster Fall) DSt freigesprochen.

Nach den wesentlichen Feststellungen des Disziplinarrats hat der seit über 30 Jahren in die Liste der Tiroler Rechtsanwälte eingetragene, disziplinarrechtlich unbescholtene Beschuldigte im „Innpiratenfall“ als von Amts wegen bestellter Verfahrenshelfer den Zweitangeklagten Dr. Heinrich S***** verteidigt (AZ 29 Hv 26/15x des Landesgerichts Innsbruck). In der Hauptverhandlung vom 1. Juni 2015 kam es zwischen ihm und der Vorsitzenden zu Unstimmigkeiten, weil er sich während der Vernehmung des Erstgeklagten von seinem Platz erhob, zu seinem Mandanten ging und sich neben ihn in die erste Reihe setzte, um mit ihm zu sprechen. Die Vorsitzende forderte ihn hierauf auf, dies zu unterlassen, woraufhin er erwiderte, dass derartiges laut Gesetz nicht verboten sei. Weiters verlangte er die Protokollierung, dass die Vorsitzende daraufhin gesagt habe, dass eine Unterhaltung mit seinem Mandanten während der Vernehmung störend sei und ihm dies somit verboten würde. Er rügte diese Erklärung als Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte.

Nachdem Dr. S***** in erster Instanz verurteilt worden war, brachte der Beschuldigte namens seines Mandanten eine Nichtigkeitsbeschwerde ein, in der er die im Spruch genannten Ausführungen tätigte.

Diese erfolgten deshalb, weil die Vorsitzende bereits während der Verhandlung aus seiner Sicht Zeugenaussagen einseitig zum Nachteil seines Mandanten würdigte und andererseits einem Entlastungszeugen bereits während dessen Aussage eine Unglaubwürdigkeit unter Hinweis auf strafrechtliche Konsequenzen unterstellte.

Da im Schöffenverfahren praktisch keine Möglichkeit besteht, die Beweiswürdigung zu bekämpfen, wollte der Beschuldigte mit dem inkriminierten Satz plakativ darstellen, wie die Sachlage tatsächlich war, bzw wie das Verfahren tatsächlich gelaufen ist. Dies insbesondere im Zusammenhang mit der Verweigerung der anwaltlichen Verteidigerrechte, um dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit zu geben, das Verfahren zu beheben.

Nicht feststellbar war, dass das Verhalten des Beschuldigten irgendwelche Folgen nach sich gezogen hat.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen die Anwendung des § 3 DSt gerichteten, auf § 281 Abs 1 Z 10 (inhaltlich Z 9 lit a; vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 634; RIS‑Justiz RS0118286) StPO gestützten, auch wegen Schuld ausgeführten Berufung des Kammeranwalts kommt keine Berechtigung zu.

Nach § 9 Abs 1 RAO ist jeder Rechtsanwalt befugt, alles, was er nach dem Gesetz zur Vertretung seiner Partei für dienlich erachtet, unumwunden vorzubringen und ihre Angriffs‑ und Verteidigungsmittel in jeder Weise zu gebrauchen, welche seinem Auftrag, seinem Gewissen und den Gesetzen nicht widerstreiten. Unsachliche oder beleidigende Äußerungen sind aber weder unter dem Gesichtspunkt gewissenhafter Vertretung (RIS‑Justiz RS0055897 [T9]) noch unter jenem der Meinungsfreiheit (RIS‑Justiz RS0056168 [T11]) zulässig.

Der spezielle Status von Rechtsanwälten verleiht ihnen eine zentrale Position in der Rechtspflege als Vermittler zwischen Öffentlichkeit und Gerichten. Im Hinblick auf die Schlüsselrolle der Rechtsanwälte in der Gerichtsbarkeit eines Rechtsstaats kann von ihnen legitimerweise erwartet werden, zur ordnungsgemäßen Rechtspflege beizutragen und damit das öffentliche Vertrauen in diese aufrecht zu erhalten. In der Beurteilung der Reichweite zulässiger Kritik durch Rechtsanwälte sind nach der Rechtsprechung des EGMR das Recht der Öffentlichkeit auf Erhalt von Informationen über Fragen juristischer Entscheidungen, die Erfordernisse ordnungsgemäßer Rechtspflege sowie die Würde von Rechtsberufen zu berücksichtigen (Grabenwarter/Pabel EMRK6 § 23 Rz 30).

Wohl steht das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art 10 Abs 1 MRK) dem Rechtsanwalt wie jedem anderen Staatsbürger zu, er muss sich allerdings mit seiner Kritik im Rahmen des Gesetzes halten und sie sachlich, ohne beleidigendes Beiwerk vortragen (vgl RIS‑Justiz RS0073088, RS0055003).

Zutreffend weist der Berufungswerber darauf hin, dass – wie hier – unsachliche, beleidigende Äußerungen über die Befugnis des § 9 RAO jedenfalls hinausgehen, wenn sie mit einer zielbewussten Vertretung des Mandanten kaum in Zusammenhang zu bringen und lediglich Ausdruck einer mit persönlicher Animosität geführten Auseinandersetzung sind. Unsachliche Unterstellungen genießen ebenso wie beleidigende Äußerungen nicht den Schutz der freien Meinungsäußerung.

Bei der Gewichtung des Verschuldens unter dem Aspekt des § 3 DSt – dessen Anwendung bei keinem Disziplinarvergehen generell ausgeschlossen ist – kommt es stets auf die Umstände des Einzelfalls an. Lassen diese erkennen, dass das Verschulden des gegen das in Rede stehende Verbot verstoßenen Rechtsanwalts in concreto erheblich hinter dem typischer Fälle solcher Verstöße zurückbleibt, so ist das Verschulden als geringfügig einzustufen (RIS‑Justiz RS0101393).

Motiv für die unsachliche und beleidigende Äußerung war nach den vom Disziplinarrat getroffenen Feststellungen im vorliegenden Fall allerdings nicht eine mit persönlicher Animosität geführte Auseinandersetzung zwischen dem Beschuldigten und der Vorsitzenden, sondern der – letztlich erfolglose – Versuch des Beschuldigten, durch ein plakatives – wenn auch überzogenes – Herausstellen der seines Erachtens ungerechtfertigten und unrichtigen Beweiswürdigung des Erstgerichts eine Abänderung oder Aufhebung des verurteilenden Erkenntnisses des Schöffengerichts zu Gunsten seines Mandanten zu erreichen. Die Äußerungen des Beschuldigten sind also durchaus mit einer zielbewussten Vertretung des Mandanten in Zusammenhang zu bringen.

Die vom Disziplinarrat festgestellten und im Protokoll der Hauptverhandlung vom 1. Juni 2015 beim Landesgericht Innsbruck protokollierten Vorkommnisse lassen eine deutlich angespannte Atmosphäre – vom Disziplinarrat als extreme Situation bezeichnet – während dieser Hauptverhandlung erkennen, welche dem Beschuldigten auch noch zwei Monate später, bei Ausarbeitung des Rechtsmittels, in Erinnerung war.

Damit ist die Beurteilung des Disziplinarrats, wonach im Hinblick auf die Umstände und Motive des Beschuldigten dessen Verhalten einen geringfügigen Schuldgehalt aufweist, der erheblich hinter dem typischer Fälle solcher Verstöße zurückbleibt, vertretbar und nicht zu beanstanden.

Da das inkriminierte Verhalten nach den auch unter dem Aspekt der Schuldberufung aufgrund logisch und empirisch einwandfreier Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen keine Folgen nach sich gezogen hat, mithin sämtliche Voraussetzungen für die Anwendung des § 3 DSt vorliegen (RIS‑Justiz RS0113534), war der Berufung ein Erfolg zu versagen.

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