OGH 12Os47/16b

OGH12Os47/16b18.8.2016

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. August 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Janisch als Schriftführerin in der Strafsache gegen Kurt M***** und einen anderen Angeklagten wegen des Verbrechens des Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Schöffengericht vom 19. Jänner 2016, GZ 25 Hv 96/15g‑28, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Bauer, der Angeklagten Kurt M***** und Arnold M***** und ihrer Verteidiger Dr. Posch und Mag. Strodl zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:0120OS00047.16B.0818.000

 

Spruch:

 

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil aufgehoben, eine neue Hauptverhandlung angeordnet und die Sache an das Landesgericht Wels verwiesen.

 

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurden Kurt M***** und Arnold M***** von dem wider sie erhobenen Vorwurf, sie hätten in A***** im Zeitraum 1. Jänner 2013 bis 31. Jänner 2015 in zumindest vier Angriffen (Kurt M*****) bzw von Ende September 2013 bis 1. April 2015 in fünf Angriffen (Arnold M*****) die an einer massiven psychischen Beeinträchtigung leidende Monika T*****, mithin eine Person, die wegen ihrer geistigen Behinderung unfähig ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass sie mit ihr den Beischlaf vornahmen, gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen (verfehlt auch von der

rechtlichen Kategorie; vgl Lendl, WK‑StPO § 259 Rz 1).

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen aus § 281 Abs 1 Z 4, 5 und 9 lit a StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft kommt Berechtigung zu.

Die Verfahrensrüge (Z 4) zeigt zutreffend auf, dass durch Abweisung des in der Hauptverhandlung am 19. Jänner 2016 gestellten – ersichtlich auf die bereits vorliegende Exploration des Tatopfers (ON 7) bezogenen – Antrags auf Ladung und Vernehmung „der Zeugin Mag. Michaela L***** zur Befundaufnahme bzw zum Beweis dafür, dass bei Frau T***** ein Zustandsbild vorliegt, das einer geistigen Behinderung entspricht, das sie unfähig macht, die Bedeutung eines Geschlechtsverkehrs zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln, sowie Einholung eines psychiatrischen Gutachtens auf Basis der Befundaufnahme“ (ON 27 S 18), Verfahrensgrundsätze verletzt worden sind, deren Beobachtung durch das Wesen eines die Strafverfolgung sichernden fairen Verfahrens geboten ist. Denn angesichts der „aussagepsychologischen Stellungnahme“ der von der Staatsanwaltschaft „aus dem Fachbereich der Psychologie“ bestellten Sachverständigen Mag. Michaela L***** vom 1. Juni 2015 – die nach persönlicher Untersuchung des Tatopfers (ON 7 S 2 ff) auftragsgemäß (vgl ON 4) auch zur Frage, ob Monika T***** in der Lage ist, die Bedeutung der gegenständlichen sexuellen Handlungen einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, Stellung genommen, diese Frage verneint und schließlich ausgeführt hat, dass die eingeschränkte Fähigkeit des Opfers, frei zu entscheiden, „auch für Dritte offensichtlich erkennbar“ ist (ON 7 S 10) – stellt die Abweisung des Beweisantrags mit der Begründung, Mag. L***** sei „nicht vom Fach, sondern eine Psychologin“, sie könne „daher einem Psychiater keine Befundaufnahme vorweg nehmen“, der Psychiater könne „aufgrund einer Stellungnahme einer Psychologin kein adäquates Gutachten erstellen, da dies zwei verschiedene Fachbereiche sind“ (ON 27 S 18), sie „hätte daher zur Wahrheitsfindung nichts beitragen können“ (US 3), eine unzulässige vorgreifende Beweiswürdigung dar (RIS‑Justiz RS0099523, RS0098454). Damit widerspricht sie dem Grundsatz, dass jede Erkenntnisquelle, durch die sich das Gericht von der Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsache oder Behauptung überzeugen kann, als Beweismittel in Betracht kommt (Lendl, WK‑StPO § 258 Rz 19) und – soweit es dem Nachweis (für die Feststellung entscheidender Tatsachen) erheblicher Umstände dient (vgl Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 29 f, 320 f) – nicht ungenützt bleiben darf (RIS‑Justiz RS0096368).

Aus Z 5 zweiter Fall macht die Anklagebehörde erfolgreich Unvollständigkeit geltend, weil der Schöffensenat den Befund der psychologischen Expertin zwar kritisch gewürdigt (US 3), dabei aber gerade deren Ausführungen betreffend die Unfähigkeit des Opfers, „die Bedeutung und die Konsequenzen sexueller Handlungen zu verstehen und einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln“ (ON 7 S 10), mit Stillschweigen übergangen hat.

Berechtigt ist auch der Einwand (ebenfalls Z 5 zweiter Fall), dass die Aussagen der Zeugen Roman H***** (ON 17 S 8 ff), Mag. Andrea S***** (ON 17 S 17 ff) und Mag. Viktoria F***** (ON 17 S 23 ff), die nicht bloß über subjektive Eindrücke (vgl RIS‑Justiz RS0097573, RS0097545; Kirchbacher, WK‑StPO § 247 Rz 5), sondern auch über Wahrnehmungen berichten konnten, die – insgesamt betrachtet – geeignet sind, die von Mag. L***** attestierte psychische Beeinträchtigung des Opfers (iSd § 205 Abs 1 StGB) zu untermauern, im Urteil ebenfalls unbeachtet blieben.

Zutreffend weist die Rechtsrüge (Z 9 lit a) darauf hin, dass das Gutachten der psychologischen Sachverständigen und die erwähnten Zeugenaussagen gemeinsam mit der im Urteil gleichfalls übergangenen (zugleich Z 5 zweiter Fall) Verantwortung des Angeklagten Arnold M*****, ihm sei „bekannt“ und es sei „auch offensichtlich“, „dass T***** Monika geistig nicht voll da ist“ (ON 4 in ON 22 S 11), eine ausreichende Indizienkette dafür bilden, dass die psychische Beeinträchtigung des Opfers auch für die beiden Angeklagten erkennbar war. Demnach wären auch Feststellungen darüber zu treffen gewesen, ob die beiden Angeklagten mit darauf bezogenem Vorsatz handelten. Damit entspricht die Beschwerde den Kriterien erfolgreicher Freispruchsanfechtung (RIS‑Justiz RS0127315).

Dass die inkriminierten geschlechtlichen Handlungen (stets) auf eindeutige Initiative des Opfers hin stattgefunden hätten, es also nicht in einer gegen dessen Interesse gerichteten Weise ausgenützt worden wäre (vgl Kienapfel/Schmoller , BT III § 205 RN 12, 14; Philipp in WK 2 StGB § 205 Rz 11) wurde – obwohl sich die rechtliche Beurteilung darauf bezieht (US 4) – weder eindeutig festgestellt (der Sache nach Z 9 lit a) noch begründet (Z 5 vierter Fall).

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft war das angefochtene Urteil daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der hiezu erstatteten Änderung des Erstangeklagten – aufzuheben, eine neue Hauptverhandlung anzuordnen und die Sache an das Erstgericht zu verweisen.

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