European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2016:010OBS00086.16V.0719.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
Die am ***** 1969 geborene Klägerin trat erstmals im Dezember 1991 ins Erwerbsleben ein und war bis Juli 2006 in verschiedenen ungelernten Berufen tätig. Die Klägerin wurde von 2004 bis zum 7. 7. 2006 zur Pflegehelferin und Altenfachbetreuerin ausgebildet. Nach den – insofern im Revisionsverfahren nicht mehr strittigen – Sachverhaltsgrundlagen war die Klägerin zwischen 1. 8. 2006 und dem Stichtag am 1. 6. 2014 in 84 Beitragsmonaten in der erlernten Tätigkeit berufsschutzerhaltend tätig. Die Klägerin ist trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage, leichte Hilfstätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt, wie zB Aufsichtstätigkeiten, zu verrichten.
Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab, weil die 1969 geborene Klägerin zwar im Alter von 22 Jahren ins Erwerbsleben eingetreten sei, aber erst in einem gegenüber dem Regelfall deutlich fortgeschrittenen Alter von knapp 37 Jahren ihre Ausbildung zur qualifizierten Pflegehelferin und Altenfachbetreuerin abgeschlossen habe. In einem solchen Fall sei es sachlich nicht gerechtfertigt, den von § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG vorgesehenen 15‑jährigen Rahmenzeitraum für die Beurteilung eines Berufsschutzes gemäß § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG zu verkürzen.
Rechtliche Beurteilung
In ihrer außerordentlichen Revision gegen diese Entscheidung zeigt die Klägerin keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.
1.1 Nach § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG idF Budgetbegleitgesetz 2011 (BGBl I 2010/111) liegt eine überwiegende Tätigkeit iSd § 255 Abs 1 ASVG vor, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag (§ 223 Abs 2 ASVG) in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellte/r ausgeübt wurde. Liegen gemäß § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG zwischen dem Ende der Ausbildung (§ 255 Abs 2a ASVG) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellte/r vorliegen („Hälfteregelung“). Nach § 255 Abs 2a ASVG gelten als Ende der Ausbildung nach § 255 Abs 2 ASVG der Abschluss eines Lehrberufs, der Abschluss einer mittleren oder höheren Schulausbildung oder Hochschulausbildung sowie der Abschluss einer dem Schul‑ oder Lehrabschluss vergleichbaren Ausbildung, jedenfalls aber der Beginn einer Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellte/r.
1.2 Seit 1. 1. 2011 ist es somit für die Erlangung eines Berufsschutzes nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG grundsätzlich erforderlich, dass ein Versicherter 7,5 Jahre der Ausübung eines qualifizierten Berufs innerhalb von 15 Jahren vor dem Stichtag nachweisen kann. Motiv des Gesetzgebers des BBG 2011 war es, nur noch eine längere Ausübung des qualifizierten Berufs zu schützen (10 ObS 63/14h).
1.3 In der Entscheidung 10 ObS 50/12v, SSV‑NF 26/33, hat der Oberste Gerichtshof ausgeführt, dass der Gesetzgeber auch nach dem BBG 2011 in § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG für die Erlangung eines Berufsschutzes auf die überwiegende Ausübung einer qualifizierten Tätigkeit in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag abstellt. Mit § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG habe der Gesetzgeber eine spezielle Regelung für jene Versicherten getroffen, bei denen zwischen dem Ende der Ausbildung bzw dem Eintritt in das Berufsleben und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen, und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit von 90 Pflichtversicherungsmonaten iSd § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG von vornherein nicht möglich war. Nur in diesem Fall genügt ausnahmsweise, dass zumindest in der Hälfte der Kalendermonate eine qualifizierte Erwerbstätigkeit vorliegt, wobei als absolute Untergrenze zwölf Versicherungsmonate einer qualifizierten Tätigkeit vorliegen müssen.
2.1 Das Berufungsgericht hat diese Rechtsprechung in vertretbarer Weise auf den vorliegenden, der Entscheidung 10 ObS 50/12v, SSV‑NF 26/33, durchaus vergleichbaren Sachverhalt angewandt. Dem hält die Revisionswerberin entgegen, dass diese Entscheidung korrekturbedürftig sei und die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG auf sie Anwendung finde.
2.2 Die Entscheidung 10 ObS 50/12v, SSV‑NF 26/33, erfuhr in der Literatur bezüglich der teleologischen Reduktion der Anwendbarkeit der Hälfteregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG auf den Personenkreis, dem auch die Klägerin angehört, vereinzelt Kritik ( Panhölzl , Eingeschränkte Geltung der Hälfteregelung beim Berufsschutz, DRdA 2013/11; 136; ihm folgend Födermayr in Mosler/Müller/Pfeil, SV‑Komm [139. Lfg] § 255 Rz 116). Diese Kritik bietet keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzugehen.
2.3 Die teleologische Reduktion ist vom Fehlen einer nach dem Zweck des Gesetzes notwendigen Ausnahme geprägt ( Schauer in ABGB‑ON 1.02 § 7 Rz 18). Der Wortlaut ist im Vergleich zum erkennbaren Zweck des Gesetzes überschießend (RIS‑Justiz RS0008979). Zweifellos ist bei der teleologischen Reduktion besonders umsichtig vorzugehen, um sich nicht dem Vorwurf der Beliebigkeit auszusetzen (Kodek in Rummel/Lukas 4 § 7 ABGB Rz 63). In diesem Sinn erfordert die teleologische Reduktion einer gesetzlichen Regelung den klaren Nachweis des Gesetzeszwecks, an dem sich die (letztlich den Gesetzeswortlaut korrigierende) Auslegung orientieren soll (10 ObS 158/15f; RIS‑Justiz RS0106113 [T3]).
2.4 Der Oberste Gerichtshof hat bereits in mehreren der Entscheidung 10 ObS 50/12v, SSV‑NF 26/33, folgenden Entscheidungen und unter Berufung auf die Gesetzesmaterialien (981 BlgNR 24. GP 204 f) dargelegt, dass die Novellierung des § 255 Abs 2 ASVG mit dem BBG 2011 den klaren Zweck verfolgte, die Anspruchsvoraussetzungen für die Erlangung (nicht: für den Erhalt, vgl dazu 10 ObS 63/14h; RIS‑Justiz RS0129361) des Berufsschutzes zu verschärfen (10 ObS 50/12v, SSV‑NF 26/33; 10 ObS 12/14h, SSV‑NF 28/13; 10 ObS 63/14h; 10 ObS 144/14w). Vor diesem Hintergrund ist die Regelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG als Ausnahmeregelung zur Grundregel des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG bei wertender Betrachtung im konkreten Fall einschränkend auszulegen ( Kodek aaO § 6 ABGB Rz 200 mwH). Der Zweck der Regelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG war es, wie ausgeführt, auch jenen Versicherten die Erlangung des Berufsschutzes zu ermöglichen, denen der grundsätzlich dafür vorgesehene Zeitrahmen von 15 Jahren seit dem Eintritt in das Berufsleben nicht (10 ObS 50/12v) zur Verfügung stand. Demgegenüber ist es mit dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck einer Verschärfung der Bestimmungen über die Erlangung von Berufsschutz unvereinbar, in jenen Fällen die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG anzuwenden, in denen dieser Zeitraum dem Versicherten – wie hier der Klägerin – zwar zur Verfügung stand, aber nicht von ihm zur Erlangung des Berufsschutzes genützt wurde. Die Anwendung dieser Bestimmung hätte in solchen Fällen zur Folge, dass ein Versicherter in der Situation der Klägerin Berufsschutz schon erlangen könnte, wenn er, nach Abschluss etwa der später nachgeholten Berufsausbildung, zumindest (nur mehr) zwölf Monate in der erlernten oder angelernten Tätigkeit arbeitet. Ein vergleichbarer Versicherter hingegen, der im 15‑jährigen Rahmenzeitraum wie die Klägerin nicht (überwiegend) im erlernten Beruf tätig war, obwohl er seine zB Berufsausbildung wie vom Gesetzgeber als Regelfall ins Auge gefasst mit etwa 18 Jahren abgeschlossen hat, müsste zur späteren Erlangung des Berufsschutzes immer (!) mindestens in 7,5 Jahren in den letzten 15 Jahren vor dem jeweiligen Stichtag im erlernten Beruf tätig sein; denn auf ihn käme § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG jedenfalls nicht zur Anwendung. Diese Auslegung würde einen Versicherten in der Situation der Klägerin daher deutlich und in sachlich nicht begründbarer Weise begünstigen, womit aber der vom BBG 2011 verfolgte Zweck der Verschärfung der Voraussetzungen zur Erlangung von Berufsschutz nach § 255 Abs 2 ASVG in sein Gegenteil verkehrt wäre.
3. Die von der Revisionswerberin behauptete Altersdiskriminierung und Verfassungswidrigkeit wegen Verletzung des Gleichheitssatzes des Art 7 Abs 1 B‑VG (Art 2 StGG) liegt nicht vor. Der Oberste Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen ausgesprochen, dass gegen die Bestimmung des § 255 Abs 2 ASVG idF BBG 2011 auch diesbezüglich keine Bedenken bestehen: Es erscheint nämlich nicht unsachlich, dass der Gesetzgeber für die Erlangung des Berufsschutzes grundsätzlich auf das Vorliegen einer bestimmten Mindestversicherungszeit einer qualifizierten Erwerbstätigkeit in einem bestimmten Rahmenzeitraum abstellt, bei jenen Versicherten aber, bei denen nur ein kürzerer Beobachtungszeitraum vorliegt, auf das Erfordernis der sogenannten „Halbdeckung“ mit einer absoluten Untergrenze von zwölf Monaten einer qualifizierten Tätigkeit (10 ObS 50/12v, SSV‑NF 26/33; 10 ObS 63/14h; 10 ObS 144/14w; 10 ObS 8/15x). Diese Regelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG führt entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin nicht dazu, dass „eine jüngere Person schneller eine Berufsunfähigkeitspension erhält, als eine ältere“, sondern erweitert die allen Versicherten, die zeitlich bereits zumindest 15 Jahre im Berufsleben stehen, gemäß § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG eingeräumte Möglichkeit zur Erlangung von Berufsschutz auch auf solche Versicherte, die – unabhängig von ihrem Alter – nach ihrem Eintritt in das Erwerbsleben rein zeitlich noch nicht 15 Jahre arbeiten konnten.
4. In der Rechtsrüge muss bestimmt und kurz begründet werden (§ 506 Abs 1 Z 2 ZPO), warum der festgestellte Sachverhalt rechtlich unrichtig beurteilt wurde oder dass infolge eines Rechtsirrtums eine entscheidungswesentliche Tatsache nicht festgestellt wurde (10 ObS 33/02d; 10 ObS 88/94, SSV‑NF 8/37). Diesen Anforderungen genügen die Revisionsausführungen nicht, soweit sie unter Bezugnahme auf Art 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ohne jegliche Begründung behaupten, dass § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG eine Diskriminierung wegen des Geschlechts darstelle.
5. Der Oberste Gerichtshof sieht sich daher weder zu der von der Klägerin angeregten Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof zwecks Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 255 Abs 2 Z 3 ASVG, noch zu der im Hinblick auf die behauptete Diskriminierung von der Klägerin angeregten Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art 267 AEUV beim Gerichtshof der Europäischen Union veranlasst.
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