OGH 10ObS262/03g

OGH10ObS262/03g10.2.2004

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Peter Ammer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gottfried Winkler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Atifa F*****, vertreten durch Dr. Reinhard Tögl, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. Mai 2003, GZ 7 Rs 50/03g-29, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 19. Dezember 2002, GZ 34 Cgs 127/01g-25, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei hat die Kosten ihres Rechtsmittels selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Für die am 10. 2. 1955 geborene Klägerin, die in ihrer Berufslaufbahn dem Arbeitsmarkt als Gärtnereiarbeiterin, (in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag 1. 3. 2001 überwiegend) als Abwäscherin und als Raumpflegerin zur Verfügung stand und keinen Berufsschutz genießt, kommt als einzig mögliche Verweisungstätigkeit diejenige einer Geschirrabräumerin in Betracht. Der Klägerin sind weder Ortswechsel noch Wochenpendeln möglich. Allerdings kann zum Erreichen eines Arbeitsplatzes ein öffentliches Verkehrsmittel im Sinne eines Tagespendelns benützt werden. Unter dieser Prämisse stehen der Klägerin maximal 40 Arbeitsplätze zur Verfügung, davon maximal 25 in ihrem Wohnort, die weiteren in den umliegenden Bezirken. Diese Arbeitsplätze sind mit einem Zeitaufwand - hin und zurück - von maximal zwei Stunden pro Tag erreichbar.

Das Erstgericht gab dem Begehren auf Zuspruch einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß ab dem Stichtag 1. 3. 2001 statt. Stehe einem Pensionswerber infolge seines Gesundheitszustandes nur mehr ein regionaler Arbeitsmarkt offen, müssten zur Verweisbarkeit nicht mindestens 100 geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stehen; es genüge, wenn es in der betreffenden Region eine solche Zahl von offenen oder besetzten Stellen gebe, die die Annahme rechtfertigten, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen könne. Bei einer Zahl von maximal 40 geeigneten (und erreichbaren) Arbeitsplätzen ergebe sich in logischer Konsequenz, dass kein ausreichender regionaler Arbeitsmarkt existiere, weshalb eine Verweisbarkeit ausscheide.

Das Berufungsgericht änderte im klagsabweisenden Sinn ab. Das Vorhandensein von 40 geeigneten Arbeitsplätzen im zulässigen Tagespendelbereich der Klägerin stelle einen ausreichenden Teilarbeitsmarkt dar. Gründe für eine Revisionszulassung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO seien nicht zu erkennen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision der Klägerin aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im klagsstattgebenden Sinn abzuändern. Hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt.

Die beklagte Partei hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil eine gefestigte Rechtsprechung zum Umfang eines einem Versicherten offen stehenden regional eingeschränkten, durch Tagespendeln erreichbaren Arbeitsmarktes fehlt. Die Revision ist jedoch nicht berechtigt.

In ihrer Revision führt die Klägerin aus, das Vorhandensein von 40 geeigneten Arbeitsplätzen genüge ihres Erachtens nicht für die Annahme, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen könne.

Nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung kommen als Verweisungsberufe nur solche Berufstätigkeiten in Betracht, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in ausreichender Anzahl, also nicht so eingeschränkt vorkommen, dass von einem "Arbeitsmarkt" gar nicht mehr gesprochen werden kann (RIS-Justiz RS0084857). Bezogen auf den gesamten österreichischen Arbeitsmarkt muss die Zahl der Arbeitsplätze zumindest hundert erreichen (SSV-NF 7/37, 10 ObS 2339/96k, 10 ObS 259/02i; RIS-Justiz RS0084772 [T2]; Mazal, Die Judikatur des OGH in Pensionsversicherungssachen 1987-1992, in Tomandl [Hrsg], Der OGH als Sozialversicherungshöchstgericht [1994] 46 [63]). Dabei ist nicht entscheidend, wie viele Arbeitsplätze konkret im näheren Umkreis des Wohnsitzes des Versicherten zur Verfügung stehen (10 ObS 13/01m; RIS-Justiz RS0084743 [T13]). Die Lage des Wohnortes im Einzelfall stellt nämlich ein persönliches Moment dar, das bei der Prüfung der Frage, ob Invalidität besteht, außer Betracht zu bleiben hat (SZ 60/166 = SSV-NF 1/20; SSV-NF 4/78; RIS-Justiz RS0084871).

Sind dem Versicherten aber Wohnsitzverlegung und Wochenpendeln nicht möglich, kommt für ihn nur ein regionaler Arbeitsmarkt in Betracht. In diesem Sinn ist die Frage zu stellen, ob es in der betreffenden Region für zumutbare Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von - offenen oder besetzten - Stellen gibt, die die Annahme rechtfertigen, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz abstrakt auch erlangen kann (SSV-NF 8/43; RIS-Justiz RS0084415). Der Oberste Gerichtshof hat sich zuletzt in der Entscheidung 10 ObS 143/03g ausführlich mit der Frage befasst, welche Größe ein regional begrenzter Arbeitsmarkt aufweisen muss, um eine Verweisbarkeit eines Versicherten begründen zu können. In diesem Fall standen maximal 20 geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung, die vom Obersten Gerichtshof mit folgender zusammengefasster Begründung nicht als ausreichend angesehen wurden:

Ein entscheidendes Kriterium für die Verweisbarkeit eines Versicherten liege darin, dass geeignete Arbeitsplätze in einer nennenswerter Zahl für eine Verweisung zur Verfügung stünden. Sei hingegen die Zahl der für einen körperlich oder geistig eingeschränkt arbeitsfähigen Versicherten in Frage kommenden Arbeitsplätze - egal ob frei oder besetzt - so gering, dass der Arbeitsmarkt dem Versicherten praktisch auf Dauer verschlossen sei, mangle es dem Versicherten an der Möglichkeit, durch Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit ein seinem Lebensunterhalt dienendes Entgelt erwerben zu können. Diesem Versicherten stehe dann ein Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung.

Ob die in einem Verweisungsberuf zur Verfügung stehende Zahl von Arbeitsplätzen ausreiche, um unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen einen Versicherten darauf zu verweisen, sei eine vom Gericht zu lösende Rechtsfrage. Wenn in Österreich in den der Arbeitsfähigkeit des Versicherten angemessenen Verweisungsberufen nicht wenigstens 100 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, könne nach der höchstgerichtlichen Rechtsprechung nicht vom Bestehen eines Arbeitsmarktes gesprochen werden und es könne der Versicherte nicht auf diese Tätigkeiten verwiesen werden.

Sei einem Pensionswerber infolge seines körperlichen und/oder geistigen Zustandes nur mehr Tagespendeln, nicht aber auch Wochenpendeln und Übersiedeln möglich, stünden ihm nur mehr die seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsplätze in seinem tatsächlichen Wohnort und in dessen durch Tagespendeln in zumutbarer Weise erreichbarem Umkreis zur Verfügung. Sei auf einen regionalen Teilarbeitsmarkt abzustellen, sei nicht die Zahl von mindestens 100 geeigneten Arbeitsplätzen relevant; vielmehr genüge es, wenn es in der betreffenden Region für an sich zumutbare Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von - offenen oder besetzten - Stellen gebe, die die Annahme rechtfertigen, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen könne. Eine Zahl von maximal 20 erreichbaren, adäquaten Arbeitsplätzen sei jedenfalls zu gering, um einen "Arbeitsmarkt" annehmen zu können. Andernfalls würde bei einem sehr weit eingeschränkten regionalen Arbeitsmarkt bereits das Vorhandensein einiger weniger Arbeitsplätze ausreichen, um eine Verweisbarkeit des Versicherten bejahen zu können, obwohl der Pensionswerber in diesem Fall faktisch vom regionalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre. Damit hat der Oberste Gerichtshof einer proportionalen Aufteilung der gesamtösterreichischen "hundert Arbeitsplätze" auf den entsprechenden regionalen Arbeitsmarkt eine Absage erteilt.

Im Vergleich zu dem zu 10 ObS 143/03g entschiedenen Fall stehen der Klägerin im vorliegenden Fall 40 Arbeitsplätze im Tagespendelbereich zur Verfügung, also knapp die Hälfte derjenigen Zahl, die als ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen auf dem gesamtösterreichischen Markt angesehen wird. Wie schon dargestellt ist auch bei einem regionalen Arbeitsmarkt die Frage entscheidend, ob ein dem Versicherten offen stehender "Arbeitsmarkt" vorhanden ist, der die Annahme rechtfertigt, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen Arbeitsplatz erlangen kann (SSV-NF 8/43). Sind auf einem - im Hinblick auf die eingeschränkte Mobilität der Versicherten - regional begrenzten, durch Tagespendeln erreichbaren Arbeitsmarkt aber 40 Arbeitsplätze vorhanden, liegt eine so nennenswerte Zahl von Stellen vor, dass eine für die Verweisbarkeit ausreichende Nachfrage nach Arbeitskräften gewährleistet ist. In diesem Sinn ist die Rechtsansicht des Berufungsgerichts zu bestätigen.

Damit ist der Revision ein Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.

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