OGH 10ObS143/03g

OGH10ObS143/03g27.5.2003

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Bauer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Peter Ammer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Johann Ellersdorfer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Erwin K*****, ohne Beschäftigung, *****, im Revisionsverfahren nicht vertreten, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, vertreten durch Dr. Anton Paul Schaffer, Rechtsanwalt in Wien, wegen Invaliditätspension, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Jänner 2003, GZ 8 Rs 361/02w-32, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 24. September 2002, GZ 29 Cgs 106/01i-27, mit einer Maßgabe bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Spruch:

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 12. 6. 1957 geborene Kläger war in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag überwiegend als Hilfsarbeiter tätig. Infolge seines körperlichen und geistigen Zustandes ist seine Arbeitsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Unter anderem sind ihm eine Verlegung des Wohnsitzes und Wochenpendeln nicht möglich. Der Kläger, dem nach einem Unfall das linke Auge operativ entfernt werden musste, darf ein Kraftfahrzeug nur bei Tageslicht und klarer Sicht im Umkreis von 20 Kilometern lenken. Die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist ihm möglich und zumutbar. Er kann auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch die Tätigkeiten eines Portiers, Aufsehers, Eintrittskartenkassiers, Büroboten, Adjustierers, Verpackers oder Parkraumüberwachers verrichten. Da der Kläger auf Tagespendeln angewiesen ist, erreicht er lediglich die Bezirke Feldbach, Fürstenfeld, Güssing und Jennersdorf. In diesen Bezirken gibt es insgesamt maximal 20 Arbeitsplätze für Portiere, Aufseher, Eintrittskartenkassierer und Parkraumüberwacher, jedoch keine Arbeitsplätze für Büroboten, Verpacker oder Adjustierer mit den vom Kläger noch erfüllbaren Leistungsanforderungen.

Das Erstgericht gab dem auf Gewährung der Invaliditätspension ab dem auf die Antragstellung folgenden Monatsersten gerichteten Klagebegehren mit der Begründung statt, dass auf dem für den Kläger in Betracht kommenden regionalen Arbeitsmarkt keine ausreichenden Arbeitsstellen vorhanden seien.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil mit der Maßgabe, dass es der beklagten Partei auch die Erbringung einer vorläufigen Zahlung von monatlich EUR 450,-- auftrug. Es teilte die Rechtsansicht des Erstgerichtes, dass in dem vom Kläger durch Tagespendeln erreichbaren Umkreis seines Wohnortes unter Berücksichtigung seines medizinischen Leistungskalküls nicht genügend Arbeitsstellen vorhanden seien. Die Revision sei zulässig, weil keine gesicherte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes zur Frage vorliege, welche Anzahl von Arbeitsplätzen bei einem regional beschränkten Arbeitsmarkt als ausreichend anzusehen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der beklagten Partei erkennbar aus dem Grund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung im Sinne einer Abweisung des Klagebegehrens abzuändern.

Der Kläger hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig, aber nicht berechtigt.

Eingangs ist festzuhalten, dass die Bezeichnung der beklagten Partei amtswegig von "Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter" auf "Pensionsversicherungsanstalt" zu berichtigen war, weil mit 1. 1. 2003 alle Rechte und Verbindlichkeiten der Pensionsversicherungsanstalt der Arbeiter auf die neu errichtete Pensionsversicherungsanstalt als Gesamtrechtsnachfolger übergingen (§ 538a ASVG idF 59. ASVG-Nov BGBl I Nr 1/2002).

Die beklagte Partei vertritt weiterhin die Ansicht, das Vorhandensein einer dem Verhältnis zwischen gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt und regionalen Arbeitsmarkt entsprechenden Zahl von Arbeitsplätzen auf dem regionalen Arbeitsmarkt müsse als ausreichend angesehen werden. Dem Kläger stehe ein regionaler Arbeitsmarkt zur Verfügung, der sicherlich um ein Vielfaches kleiner sei als ein Fünftel des gesamtösterreichischen Arbeitsmarktes. Da zur Verweisbarkeit gesamtösterreichisch mindestens 100 Arbeitsplätze zur Verfügung stehen müssen, seien die dem Kläger auf dem regionalen Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung stehenden maximal 20 Arbeitsplätze ausreichend.

Diesen Ausführungen ist folgendes entgegenzuhalten:

Nach der hier maßgebenden Bestimmung des § 255 Abs 3 ASVG gilt ein Versicherter als invalid, wenn er infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr imstande ist, durch eine Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt noch bewertet wird und die ihm unter billiger Berücksichtigung der von ihm ausgeübten Tätigkeiten zugemutet werden kann, wenigstens die Hälfte des Entgeltes zu erwerben, das ein körperlich und geistig gesunder Versicherter regelmäßig durch eine solche Tätigkeit zu erzielen pflegt. Es müssen daher Arbeitsplätze in einem solchen Umfang vorhanden sein, dass noch von einem "Arbeitsmarkt" gesprochen werden kann, wobei es allerdings gleichgültig ist, ob diese Stellen frei oder besetzt sind. Es müssen demnach solche Arbeitsplätze in nennenswerter Zahl für eine Verweisung zur Verfügung stehen. Ist hingegen die Zahl der für einen körperlich oder geistig eingeschränkt arbeitsfähigen Versicherten in Frage kommenden Arbeitsplätze (frei oder besetzt) so gering, dass der Arbeitsmarkt dem Versicherten praktisch auf Dauer verschlossen ist, mangelt es dem Versicherten an der Möglichkeit, durch Ausübung einer zumutbaren Tätigkeit ein seinem Lebensunterhalt dienendes Entgelt erwerben zu können. Diesem Versicherten steht dann ein Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung (vgl SSV-NF 6/4 ua).

Ob die in einem Verweisungsberuf zur Verfügung stehende Zahl von Arbeitsplätzen ausreicht, um unter Beachtung der gesetzlichen Bestimmungen einen Versicherten darauf zu verweisen, ist eine Rechtsfrage, die vom Gericht zu lösen ist (SSV-NF 3/70). Grundlage für die Beurteilung der Frage, ob ein für eine Verweisung ausreichender Arbeitsmarkt besteht, ist die Zahl der in diesem Verweisungsberuf bestehenden Arbeitsplätze. Stehen in Österreich in den der Arbeitsfähigkeit des Versicherten angemessenen Verweisungsberufen nicht wenigstens 100 Arbeitsplätze zur Verfügung, kann nach der Rechtsprechung des erkennenden Senates nicht vom Bestehen eines Arbeitsmarktes gesprochen und der Versicherte nicht auf diese Tätigkeiten verwiesen werden (SSV-NF 8/43 mwN ua).

Es entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senates, dass es für die Beurteilung der Invalidität in der Regel nicht auf den aktuellen Wohnort des Pensionswerbers und die in diesem oder von dort durch Tagespendeln erreichbaren Arbeitsplätze ankommt, sondern auf die Zahl der in ganz Österreich vorhandenen, weil ihm diese bei zumutbarem Wochenpendeln und zumutbarer Verlegung des Wohnsitzes zur Verfügung stehen. Ist einem Pensionswerber allerdings - wie dem Kläger - infolge seines körperlichen und/oder geistigen Zustandes nur mehr Tagespendeln, nicht aber auch Wochenpendeln und Übersiedeln möglich, dann stehen ihm nur mehr die seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Arbeitsplätze in seinem tatsächlichen Wohnort und in dessen durch Tagespendeln in zumutbarer Weise erreichbarem Umkreis zur Verfügung (SSV-NF 8/43 mwN ua).

Der Oberste Gerichtshof hat bereits in der Entscheidung SSV-NF 8/43 die Auffassung vertreten, dass einem Pensionswerber, dem infolge seines Gesundheitszustandes zwar nicht mehr der gesamte österreichische Arbeitsmarkt, wohl aber ein regionaler Arbeitsmarkt offensteht, auf dem von ihm erreichbaren Teilarbeitsmarkt nicht mindestens 100 für ihn geeignete Arbeitsplätze zur Verfügung stehen müssen, sondern dass es diesbezüglich vielmehr genügt, wenn es in der betreffenden Region für an sich zumutbare Verweisungstätigkeiten eine solche Zahl von - offenen oder besetzten - Stellen gibt, die die Annahme rechtfertigen, dass ein Arbeitsfähiger und Arbeitswilliger einen solchen Arbeitsplatz auch erlangen kann. Im vorliegenden Fall bestehen nach den Feststellungen maximal 20 für den Kläger erreichbare, adäquate Arbeitsplätze. Diese Zahl ist auch nach Auffassung des Obersten Gerichtshofes jedenfalls zu gering, um die Annahme eines für den Kläger bestehenden "Arbeitsmarktes" rechtfertigen zu können. Die gegenteilige Rechtsansicht der Revisionswerberin, die das Vorhandensein einer dem Verhältnis zwischen gesamtösterreichischen Arbeitsmarkt und regionalen Arbeitsmarkt entsprechenden Zahl von Arbeitsplätzen auf dem regionalen Arbeitsmarkt als ausreichend ansieht, könnte unter Umständen dazu führen, dass bei einem noch weiter eingeschränkten regionalen Arbeitsmarkt bereits das Vorhandensein einiger weniger Arbeitsplätze ausreichen würde, um eine Verweisbarkeit des Versicherten bejahen zu können, obwohl der Pensionswerber in diesem Fall faktisch vom regionalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wäre. Diese Ansicht steht daher im Widerspruch zu den oben dargelegten gesetzlichen Wertungen und Grundsätzen.

Auf Grund dieser Erwägungen war der Revision ein Erfolg zu versagen.

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