OGH 10ObS178/04f

OGH10ObS178/04f25.1.2005

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Fellinger und Dr. Hoch sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Carl Hennrich aus dem Kreis der Arbeitgeber und Rudolf Schallhofer aus dem Kreis der Arbeitnehmer als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Franz H*****, gegen die beklagte Partei Bundespensionsamt, Barichgasse 38, 1031 Wien, vertreten durch die Finanzprokuratur, Singerstraße 17-19, 1011 Wien, wegen Pflegegeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. September 2004, GZ 7 Rs 77/04d-14, den Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung

Die Revisionsgründe der Nichtigkeit der Berufungsentscheidung und der Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens (Punkt 1. und 2. der oa Revision) wurden geprüft, insoweit liegt jedoch keine erhebliche Rechtsfrage vor (§ 510 Abs 3 ZPO):

Rechtliche Beurteilung

Das Berufungsgericht hat die in der Berufung der beklagten Partei gar nicht bekämpften erstgerichtlichen Feststellungen übernommen, wonach beim Kläger nach einem Schlaganfall eine armbetonte spastische Halbseitenlähmung links verblieben und die Funktionalität im Bereich des linken Beins nur im geringen Ausmaß (nur Durchstrecken ist möglich) wieder eingetreten ist. Mit den diese unstrittigen Tatsachen zugrunde legenden Ausführungen zur Frage, ob und in welchem Ausmaß der Kläger schon aus diesem Grund Mobilitätshilfe im engeren Sinn benötigt (weil seine linken Extremitäten gelähmt sind), hat das Gericht zweiter Instanz somit keine ergänzenden bzw "dislozierten" Feststellungen getroffen, sondern eine Rechtsfrage beantwortet. Es trifft aber auch nicht zu, dass die auf Seite 3/4 der ao Revision (AS 107 f) wiedergegebene Beurteilung (dass, wenn es - wie hier - immer wieder und unvorhersehbar trotz Medikation zu epileptischen Anfällen, aber auch Krampfanfällen in den gelähmten Extremitäten kommt, die Unterstützung des Pflegebedürftigen durch eine Pflegeperson bei grundsätzlich selbstständig durchführbaren Lagewechseln in der Wohnung notwendig sei, um Verletzungen durch einen Sturz zu verhindern), insb der Passus "Unterstützung bei grundsätzlich selbständig durchführbaren Lagewechseln", unüberprüfbar und damit nichtig iSd § 477 Abs 1 Z 9 ZPO sei; schon aus den dazu erstatteten weiteren Ausführungen auf Seite 4 der ao Revision ergibt sich vielmehr, dass auch diesem Vorwurf die Grundlage fehlt:

Darin beruft sich die beklagte Partei nämlich ausdrücklich darauf, das Berufungsgericht "scheine" hier von aktiven Unterstützungshandlungen im Zuge eines Lagewechsels auszugehen, und befasst sich damit, ob mit der zitierten Formulierung das Erfordernis, bei jedem Lagewechsel aktiv Hilfe zu leisten (auch wenn gerade kein Anfallszustand bestehe), oder lediglich die während des Anfalls geleistete aktive Mobilitätshilfe gemeint sei. Die Revisionswerberin strebt also - wie auch ihrer Rechtsrüge zu entnehmen ist - genau jene Überprüfung an, die zufolge der behaupteten Nichtigkeit angeblich gar nicht "mit Sicherheit durchgeführt werden kann".

Insgesamt wendet sich die ao Revision somit lediglich gegen den vom Berufungsgericht vertretenen Standpunkt, für die immer wieder und unvorhersehbar trotz Medikation auftretenden epileptischen Anfälle und für die Krampfanfälle des Klägers in den gelähmten Extremitäten sei infolge Sturzgefahr die Annahme eines Betreuungsaufwandes für Mobilitätshilfe im engeren Sinn im Ausmaß von 15 Stunden pro Monat gerechtfertigt (§ 1 Abs 3 letzter Fall EinstV); gesteht dabei jedoch ausdrücklich zu, dass das Berufungsgericht einen 12 Stunden pro Monat nicht übersteigenden Aufwand für Mobilitätshilfe im engeren Sinn (und somit einen durchschnittlich 160 Stunden pro Monat nicht übersteigenden Gesamtpflegeaufwand) hätte annehmen dürfen (Seite 9/10 der ao Revision = AS 119 f).

Die beklagte Partei meint, die Revision sei zulässig, weil Rsp des Obersten Gerichtshofes zum (exakten) Ausmaß der Orientierungslosigkeit des Betroffenen bzw zur Häufigkeit der mit Krampfzuständen vergleichbaren Schwindelanfälle, sowie zur Frage fehle, ob "auch ein im Durchschnitt lediglich einmal monatlich auftretender, zu Stürzen führender Krampfanfall" bereits die Zuerkennung von Mobilitätshilfe im engeren Sinn im Ausmaß des vollen Richtwertes nach der EinstV rechtfertige. Ein erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO wird damit schon deshalb nicht angesprochen, weil der Kläger keineswegs nur an durchschnittlich einmal monatlich auftretenden, zu Stürzen führenden Krampfanfällen leidet:

Nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen ist er vielmehr - aufgrund der eingangs dargestellten linksseitigen Lähmungserscheinungen - nur noch in der Lage, mit Hilfe einer Vierpunkt-Stockhilfe einige wenige Schritte zu gehen, ansonsten jedoch auf die Benützung eines Rollstuhles angewiesen. Im Bereich seines linken Armes ist keine Funktionalität mehr vorhanden. Es besteht hier Kraftstufe 0. Außerdem leidet der Kläger an Epilepsie, wobei es trotz der eingehaltenen Therapie immer wieder zu epileptischen Anfällen kommt. Wegen Krampfzuständen im Bereich des gelähmten linken Armes und des gelähmten linken Beines erhält er außerdem Botulinus-Toxin-Injektionen. Es kam aber trotzdem im Abstand von drei bis vier Wochen aufgrund von Krampfanfällen immer wieder zu Sturzgeschehnissen, welche auch durch Vergabe von Tobermax weiterhin bestanden.

Da es beim Kläger - trotz Dosisanpassung der antiepileptischen Therapie - in unterschiedlicher Frequenz immer wieder zum Auftreten von epileptischen Anfällen kommt, wobei es sich um generalisierte Krampfanfälle handelt, die nie auszuschließen sind, benötigt der Kläger eine Betreuungsperson, die in der Lage ist, bei Auftreten eines epileptischen Anfalles jederzeit einzugreifen, die sich also in der Nähe des Klägers aufhalten muss (S 3 und 4 des Ersturteils). Auf dieser Grundlage hat das Erstgericht die Annahme eines Betreuungsaufwandes für Mobilitätshilfe im engeren Sinn im Ausmaß von 15 Stunden pro Monat als gerechtfertigt erachtet, während das Berufungsgericht gegen die bekämpften Feststellungen zur Notwendigkeit der Mobilitätshilfe im engeren Sinn keine Bedenken hatte, "wenn auch die Begründung für diesen Pflegebedarf durch den Sachverständigen in den Feststellungen des Ersturteils nicht vollständig enthalten ist" (S 6 f der Berufungsentscheidung). Das BPGG und die EinstV gehen grundsätzlich vom Konzept der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfs aus, dh von der individuell erforderlichen Betreuung und Hilfe (RIS-Justiz RS0106384). Ob überhaupt ein Bedarf nach Betreuung und Hilfe bei bestimmten Verrichtungen besteht, ist daher - von hier nicht relevanten Fällen der diagnosebezogenen Einstufung abgesehen - nicht abstrakt, sondern konkret für den jeweiligen Einzelfall zu prüfen, während für das Ausmaß der Hilfsverrichtungen - im Gegensatz zu den hier gegenständlichen Verrichtungen im Rahmen der Betreuung (§ 1 EinstV) - im Hinblick auf die verbindlichen Pauschalwerte (§ 2 Abs 2 und 3 EinstV) keine konkret-individuelle Prüfung anzustellen ist (SSV-NF 8/74 ua; RIS-Justiz RS0053107; zuletzt: 10 ObS 279/03g). Ob und in welchem Ausmaß eine pflegebedürftige Person der Mobilitätshilfe im engeren Sinn (§ 1 Abs 2 und 3 EinstV) bedarf, hängt somit von den tatsächlichen Verhältnissen des einzelnen Falles ab, ohne dass dies verallgemeinerungsfähig wäre. Im konkreten Fall haben die Vorinstanzen insoweit einen Betreuungsaufwand von 15 Stunden pro Monat angenommen, also den Richtwert von 30 Minuten pro Tag für Mobilitätshilfe im engeren Sinn für alle gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Ortswechsel in der Wohnung und alle im Ablauf des täglichen Lebens vorkommenden Lagewechsel veranschlagt (Greifenender/Liebhart, Handbuch Pflegegeld [2004] Rz 174 ff). Diesem für den Einzelfall ermittelten Ausmaß der Pflegebedürftigkeit ist im Rahmen einer ao Revision nicht entgegenzutreten (vgl 10 ObS 279/03g); da eine Übertragung der Feststellungen über die individuelle Situation des Klägers auf ähnliche Fälle nicht möglich ist, begründen Besonderheiten in diesen Feststellungen - entgegen der Ansicht der Revisionswerberin - nämlich auch keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO (RIS-Justiz RS0040215 [T3]).

Davon abgesehen entspricht es der stRsp des erkennenden Senates, dass bei pflegebedürftigen Menschen, nicht nur dann, wenn ein hochgradiger Orientierungsverlust selbst in der eigenen Wohnung auftritt, die notwendige Begleitung im Sinne einer "Orientierungshilfe" auch als Mobilitätshilfe im engeren Sinn anzusehen ist, sondern auch dann, wenn etwa Schwindelzuständen vorliegen, die - wie hier - wiederholt zu Stürzen geführt haben, und daher die ständige Begleitung des Pflegebedürftigen durch eine Pflegeperson innerhalb des Wohnbereiches notwendig ist, um eine Verletzung durch einen Sturz zu verhindern (RIS-Justiz RS0112331; zuletzt: 10 ObS 21/03s mwN). Mangels erheblicher, für die Entscheidung des Verfahrens relevanter Rechtsfragen iSd § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision daher zurückzuweisen.

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