BVwG W247 2225171-1

BVwGW247 2225171-129.5.2020

AsylG 2005 §7 Abs1 Z2
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8 Abs1 Z2
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2020:W247.2225171.1.00

 

Spruch:

W247 2225171-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. HOFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:A) Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, idgF., iVm §§ 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4, sowie 8 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF., als unbegründet abgewiesen.B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:I. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, reiste spätestens am 25.08.2004 ins Bundesgebiet und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die BF wurde am 30.08.2004, vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen und schilderte hinsichtlich ihrer Ausreisegründe die Ereignisse ihren (mittlerweile) Ex-Ehegatten XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, betreffend. Das Verfahren wurde am 30.08.3004 zugelassen.

Die BF wurde in der Folge am 17.03.2005 vor dem Bundesasylamt erneut zu ihren Fluchtgründen einvernommen und bezog sie sich hierbei wiederum auf die Ausreisegründe ihres Ex-Ehegatten. Eigene Fluchtgründe brachte die BF nicht vor.

1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, wurde dem Asylantrag der BF gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben und ihr in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Ebenso wurde ihrem Ex-Ehegatten mit Bescheid vom selben Tag, Zl. 04 07.639-BAL, gemäß § 7 AsylG 1997 Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

2.1. Am 01.03.2018 wurde von Amts wegen ein Aberkennungsverfahren beim Ex-Ehegatten der BF eingeleitet.

2.2. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 08.05.2018, Zl. 740763906-180206371, wurde dem Ex-Ehegatten der BF der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG aberkannt. Gemäß § 7 Abs. 4 AsylG wurde festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z. 2 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Diese Entscheidung erwuchs mit 02.06.2018 in Rechtskraft.

2.3. Am 25.01.2019 wurde von Amts wegen bei der BF ein Aberkennungsverfahren eingeleitet.

2.4. Am 25.01.2019 erging seitens des BFA eine Mitteilung über die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens und Aufforderung zur Stellungnahme samt Länderinformationsblatt der Russischen Föderation. Im Rahmen dieses Schreibens wurde der BF ein Fragenkatalog übermittelt.

2.5. Die BF brachte mit schriftlicher Stellungnahme vom 07.02.2019 - neben der Beantwortung der an sie gerichteten Fragen zur Identität, ihren persönlichen Umständen in Ö, sowie den persönlichen Bindungen zum Herkunftsstaat - im Wesentlichen vor, dass sie mit ihrer Familie seit 2004 in Österreich lebe und sie das Land lieben gelernt hätten. Dieses Land sei zu ihrer Heimat geworden. Integration sei seit dem ersten Tag ihre oberste Priorität gewesen. Ihre beiden Söhne hätten mehr als die Hälfte ihres Lebens hier verbracht und seien diese stets fleißig, brav und vorbildhaft gewesen. Nichts binde sie an die alte Heimat. Der nächste Schritt in ihrem Leben sollte nun der Erhalt der Staatsbürgerschaft sein. Mit ihrem Ex-Ehegatten habe sie nichts mehr zu tun und bräuchten sie internationalen Schutz, um hier in Frieden zu leben. Es gebe keine Sicherheit und keine Zukunft für sie in ihrer alten Heimat.

2.6. Am 12.02.2019 erging eine Mitteilung gemäß § 7 Abs. 3 AsylG an den Magistrat XXXX .

2.7. Mit Stellungnahme vom 28.02.2019 brachte die BF vor, dass eine Asylaberkennung in ihrem Fall unzulässig sei, da weder sie noch ihre Söhne jemals im Heimatland gewesen seien. Selbst wenn sie jemals im Heimatland gewesen seien, sei die Fünf-Jahres-Frist gemäß § 7 Abs. 3 AsylG 2005 bereits abgelaufen und eine Aberkennung aus diesem Grund unzulässig, da keine Straffälligkeit vorliege. Sie sei seit 2015 von ihrem Mann geschieden und sei eine Aberkennung im Familienverfahren schon aus diesem Grund unzulässig. Selbst wenn sie nicht geschieden wäre, sei eine Aberkennung im Familienverfahren auch nach der Judikatur des Asylgerichtshofes unzulässig, da im Aberkennungsverfahren § 34 AsylG keine Anwendung finde. Die BF stelle daher den Antrag 1) auf Einstellung des Aberkennungsverfahrens, 2) auf Ausstellung einer schriftlichen Bestätigung über die Einstellung, in eventu auf bescheidmäßige Feststellung der Aufrechterhaltung der Flüchtlingseigenschaft.

2.8. Am 01.03.2019 wurde dem BFA seitens des Amtes der oberösterreichischen Landesregierung die Niederschrift vom 20.11.2018 betreffend den von der BF am 19.09.2018 gestellten Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft übermittelt. Aus dieser Niederschrift geht hervor, dass die BF ihren Antrag auf Verleihung der Staatsbürgerschaft am 20.11.2018 zurückgezogen hatte.

2.9. Am 03.05.2019 langte die Mitteilung des Magistrates XXXX ein, wonach der BF mit Feststellungsbescheid vom 26.04.2019, zugestellt am 30.04.2019, ein Aufenthaltstitel XXXX amtswegig erteilt worden sei. Aus der gleichzeitig übermittelten Stellungnahme geht hervor, dass die BF die Erteilung die Erteilung dieses Aufenthaltstitels nicht gewollt habe.

2.10. Am 27.05.2019 übermittelte der Magistrat XXXX die Beschwerde gegen den Feststellungsbescheid des Magistrates XXXX samt zugehörigem Feststellungsbescheid, sowie den gesamten Akteninhalt zum Verfahren betreffend die Erteilung eines Aufenthaltstitels.

2.11. Am 18.09.2019 langte die Verständigung über die rechtskräftige Erteilung des Aufenthaltstitels XXXX , gültig von 29.05.2019 bis 29.05.2024, vom Magistrat XXXX beim BFA ein.

2.12. Am 02.10.2019 langte beim BFA das angeforderte Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes XXXX vom XXXX , Zl. XXXX , ein, mit welchem die Beschwerde der BF gegen den Feststellungsbescheid betreffend die Erteilung des Aufenthaltstitels XXXX als unbegründet abgewiesen wurde und die Revision für unzulässig erklärt wurde.

3.1. Mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid vom 02.10.2019 erkannte das BFA den der BF mit Bescheid vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihr die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das BFA der BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.).

Dazu wurde zur Person der BF festgestellt, dass ihre Identität bzw. Nationalität feststehe, sie Staatsangehörige der Russischen Föderation sei und der Volksgruppe der Tschetschenen angehöre. Ihr sei der Aufenthaltstitel „ XXXX “ vom Magistrat XXXX zur XXXX , gültig von 29.05.2019 bis 29.05.2024, rechtskräftig erteilt worden. Es habe festgestellt werden können, dass sie an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung leide. Sie wäre unbescholten.

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten wurde festgestellt, dass die BF im gesamten Asylverfahren keine eigenen Fluchtgründe angegeben habe. Sie habe bei ihren Einvernahmen im Asylverfahren keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht, sondern wiederholt auf die Angaben ihres Ex-Ehegatten verwiesen. Feststehe auch, dass aus ihren Stellungnahmen zum Aberkennungsverfahren keine konkret gegen sie gerichtete Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen hervorgehen würden. Auch von Amts wegen sei keine gezielte Verfolgung oder Bedrohung Ihrer Person im Herkunftsland erkannt worden. Ihr sei aufgrund der damaligen Fluchtgründe ihres Ex-Ehegatten der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden. Mit Bescheid des BFA vom 08.05.2018, Zl. 740763906-180206371, sei ihrem Ex-Ehegatten der Status des Asylberechtigten aberkannt worden, sodass die BF keine weiteren Ansprüche ableiten könne. Die Aberkennung des Asylstatus ihres Ex-Ehegatten sei am 02.06.2018 in Rechtskraft erwachsen. Dementsprechend könne die BF es auch nicht ablehnen, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie besitze. Ferner habe festgestellt werden können, dass sich die Lage im Herkunftsstaat der BF für Tschetschenen seit der Asylgewährung ihres Ex-Ehegatten und von der BF maßgeblich geändert habe. Es könne nicht festgestellt werden, dass die BF in ihrer Heimat einer Verfolgung oder Bedrohung durch staatliche Organe oder Privatpersonen ausgesetzt sei. Es hätte auch aus den sonstigen Umständen keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung festgestellt werden können.

Nicht festgestellt werden habe können, dass die BF in ihrem Herkunftsstaat von solchen Verhältnissen betroffen sei, die dazu führen, dass sie, wenn sie sich dort aufhalte, einem realem Risiko unterworfen wäre, einer Art. 2 oder 3 EMRK widersprechenden Gefahr ausgesetzt oder einer dem 6. oder 13. Zusatzprotokoll zur EMRK widerstreitenden Behandlung unterworfen zu sein. Es habe festgestellt werden können, dass die Verwandten der BF in der Russischen Föderation leben würden und sie bei einer Rückkehr unterstützen könnten. Auch verfüge die BF über Schulbildung und Berufserfahrung und könnte sie bei einer Rückkehr auf Grundversorgung und Sozialhilfe in der Russischen Föderation zurückgreifen, sodass sie in keine existenzbedrohende Lage geraten würde.

Zu den Gründen für die Aberkennung des Status der Asylberechtigten wurde beweiswürdigend u.a. ausgeführt, dass der BF der Asylstatus ausschließlich aufgrund der Familieneigenschaft zu XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, zuerkannt worden sei. Der einst zuerkannte Status sei der Bezugsperson der BF jedoch rechtskräftig aberkannt worden, sodass die BF nunmehr keine Ansprüche daraus ableiten könne. Die Ermittlungsergebnisse im Verfahren des Ex-Ehegatten der BF hätten eindeutig ergeben, dass dieser auch keiner asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung ausgesetzt wäre, sodass weder die BF noch ihr Ex-Ehegatte auf den Status des Asylberechtigten angewiesen wären. Es sei für die Behörde glaubhaft, dass weder die BF noch ihr Ex-Ehegatte einer asylrelevanten Verfolgung im gesamten Gebiet der Russischen Föderation ausgesetzt seien und demnach keinen alleinigen Anspruch auf internationalen Schutz ableiten könnten. Die BF könne es auch nicht ablehnen, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit sie ableiten könne. In Gesamtschau seien ihre Behauptungen einer aktuellen und konkret gegen sie gerichteten asylrelevanten Verfolgung und Bedrohung als nicht glaubhaft zu qualifizieren. Aufgrund dieser Tatsachen gehe die Behörde davon aus, dass auch für die BF kein weiterer Bedarf mehr auf den Status der Asylberechtigten bestehe, zumal sie ohnehin nie einer asylrelevanten Verfolgung oder Bedrohung in der Russischen Föderation ausgesetzt gewesen sei. Seit ihrer Asylgewährung seien sohin die damaligen Voraussetzungen weggefallen, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden wäre. In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten wurde ausgeführt, dass in Zusammenschau der persönlichen Lebensumstände und der Länderinformationen für die BF zumutbar wäre, in die Russischen Föderation zurückzukehren, ohne in eine existenzbedrohliche Notlage zu geraten. Im Ermittlungsverfahren hätten sich keine Hinweise darauf ergeben, dass die BF im Falle der Rückkehr in die Russische Föderation im Recht auf Leben gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht sein könnte. Es seien somit keine Gründe hervorgekommen, die eine Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten erforderlich machen würden.

3.2. Mit Verfahrensanordnung vom 03.10.2019 wurde der BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

3.3. Gegen den Bescheid wurde – beim BFA einlangend mit 25.10.2019 - binnen offener Frist in vollen Umfang Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit erhoben. Dazu wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Aberkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 gemäß Abs. 3 leg. cit. prinzipiell nur zulässig sei, wenn seit der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten noch keine 5 Jahre vergangen seien, außer die betroffene Person wäre straffällig geworden. Die gelte ausdrücklich auch dann, wenn der betroffenen Person der Aufenthaltstitel „ XXXX “ in einem Verfahren gemäß § 45 Abs. 8 NAG erteilt worden sei. Auch in diesem Fall müsse jedenfalls ein Aberkennungsgrund vorliegen. Die alleinige Erteilung des Aufenthaltstitels ohne Vorliegen eines Aberkennungsgrundes reiche nicht für die Aberkennung aus. Nur, wenn ein Aberkennungsgrund gemäß Z 2 leg. cit. vorliege, könne somit der Status des Asylberechtigten aberkannt werden. Die BF wäre seit mehr als 5 Jahren in Österreich und nicht straffällig geworden. Sie sei auch nicht in ihr Heimatland gereist, weshalb kein Aberkennungsgrund gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG vorliege. Wenn die Behörde vermeine, dass der Asylaberkennungsgrund des Art. 1 Abschnitt C lit. 5 GFK erfüllt wäre, weil ihrem Ex-Ehegatten der Status des Asylberechtigten rechtskräftig aberkannt worden sei, übersehe sie, dass nach der Judikatur des Asylgerichtshofes die Bestimmungen über das Familienverfahren im Aberkennungsverfahren keine Anwendung finden würden. Bei der Aberkennung sei keine Familiengleichbehandlung vorgesehen. Der Status des Asylberechtigten dürfe somit nur jenen Personen aberkannt werden, in deren eigener Person sich der Aberkennungstatbestand verwirklicht habe. Die Aberkennung des Zusammenführenden schlage nicht auf den Familienangehörigen durch. Im vorliegenden Fall komme hinzu, dass aus der bloßen Tatsache der Asylaberkennung des Ex-Ehegatten der BF nicht geschlossen werden könne, dass die Umstände, aufgrund derer sie als Flüchtling anerkannt worden sei, weggefallen seien, da es immer auf den genauen Grund der Aberkennung des Zusammenführenden ankomme. Die BF habe in ihrer eigenen Person keinen Aberkennungstatbestand verwirklicht. Die Behörde stütze die Aberkennung ausdrücklich nur auf die Aberkennung ihres Ex-Ehegatten. Auch wenn ihr der Daueraufenthaltstitel erteilt worden sei, müssten aber die Aberkennungsgründe des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG vorliegen. Die Aberkennung des Status des Asylberechtigten sei daher nicht gerechtfertigt. Beantragt wurde, 1.) den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes ersatzlos zu beheben; 2.) den angefochtenen Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Verhandlung an die Behörde 1. Instanz zurückzuverweisen; 3.) eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

3.4. Mit Beschwerdevorlage vom 05.11.2019 und die Verwaltungsakte langten beim Bundesverwaltungsgericht am 07.11.2019 ein.II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:1. Feststellungen:1.1. Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Der Ablauf des Verfahrensgangs zum bisherigen Verfahren wird – wie unter Punkt I. dargelegt – festgestellt.

1.2. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die volljährige Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation, welche die im Spruch ersichtlichen Personalien führt. Sie ist der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig und muslimischen Glaubens.

Die BF reiste spätestens am 25.08.2004 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, wurde der BF im Rahmen des Familienverfahrens aufgrund der Fluchtgründe ihres (nunmehrigen) Ex-Ehegatten gemäß § 7 AsylG 1997 in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.04.2005, Zl. 04 07.639-BAL, wurde dem Asylantrag des XXXX , Ex-Gatte der BF, gemäß § 7 AsylG 1997 stattgegeben und ihm in Österreich Asyl gewährt, sowie gemäß § 12 AsylG festgestellt, dass ihm kraft Gesetz die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Am 01.03.2018 wurde von Amts wegen ein Aberkennungsverfahren bei dem Ex-Gatten der BF eingeleitet. Am 28.03.2018 wurde dem Ex-Gatten der BF vom Magistrat Stadt XXXX unter der Zahl AEG/69851 der Aufenthaltstitel „ XXXX “ erteilt.

Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2018, Zl. 740763906-180206371, wurde dem Ex-Gatten der BF unter anderem der Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aberkannt, gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 wurde festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukommt und gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt. Diese Entscheidung erwuchs mit 02.06.2018 in Rechtskraft.

Feststellend führte die belangte Behörde im Aberkennungsbescheid des Ex-Gatten Folgendes aus:

„[…]Dem BFA wurde bekannt, dass Sie in den vergangenen Jahren mehrmals nach Dagestan in der Russischen Föderation gereist sein sollen. Weiters wurde bekannt, dass Sie in Dagestan neuerlich geheiratet hätten.

Im Rahmen Ihrer Einvernahme vor dem BFA gaben Sie zu, dass Sie, neben zahlreichen, oft monatelangen Aufenthalten im Zeitraum von 2016 bis 2018, im Jahr 2016 persönlich in Dagestan einen Antrag auf Ausstellung eines biometrischen Reisepasses der Russischen Föderation einbrachten, der Ihnen am 27.04.2016 auch ausgestellt und ausgefolgt worden ist. Die Ausstellung des Reisepasses erfolgte demzufolge nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten in Österreich und Sie unterstellten sich durch die Beantragung und Ausstellung des Dokumentes dem Schutz der Russischen Föderation[…].“

Die Umstände, auf Grund derer die Beschwerdeführerin als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefe, in ihrem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Die BF leidet an keinen schwerwiegenden, gesundheitlichen Beeinträchtigungen und arbeitsfähig. Sie ist unbescholten.

Sie verfügt über eine fundierte Schulbildung im Herkunftsstaat, hat sich in Österreich über Sprachkurse (Niveau B2) fortgebildet und am Vorbereitungslehrgang für Gesundheits- und Sozialberufe im Bereich des Pflegeberufs teilgenommen. Sie geht in Österreich einer ordentlichen Beschäftigung nach und ist selbsterhaltungsfähig. Sie verfügt über mehrere familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat und steht mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in telefonischem Kontakt.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihr die notwendige Lebensgrundlage entzogen wäre. So können sie auch insbesondere ihre Verwandten in der Russischen Föderation nach einer Rückkehr im Bedarfsfall anfänglich unterstützen.

Es ist der BF grundsätzlich möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in Russland bieten trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen auch für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken. Der Beschwerdeführer hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.

Das Bundesamt hat nach § 7 Abs. 3 AsylG 2005 die Niederlassungsbehörde von der beabsichtigten Aberkennung verständigt. Der BF wurde im April 2019 rechtskräftig ein XXXX nach § 45 Abs. 8 NAG erteilt.

1.2. Zum Herkunftsstaat bzw. Tschetschenien werden folgende Feststellungen getroffen:1. Neueste Ereignisse – Integrierte Kurzinformation

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 18.4 Homosexuelle).Ende 2018 kam es in Tschetschenien wieder zur Verhaftung von Homosexuellen. Laut Angaben des russischen LGBT-Netzwerkes wurden mindestens 40 Frauen und Männer inhaftiert, mindestens zwei sollen im Zuge von Folter getötet worden sein (LGBT Netzwerk 14.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019). Laut dem Leiter des LGBT-Netzwerkes, Igor Kotschetkow, kam es nicht nur zur physischen Bedrohung bis zur Inkaufnahme des Todes der Festgehaltenen, sondern die Sicherheitskräfte sollen auch versucht haben, die Frauen und Männer daran zu hindern, aus der Teilrepublik auszureisen oder vor Gericht zu ziehen (NZZ 18.1.2019, vgl. UN News 13.2.2019). Die Kampagne, deren Muster und auch der Ort der Inhaftierung, eine Anlage in der Stadt Argun, erinnern an eine erste Welle an Verhaftungen von tschetschenischen Homosexuellen vor zwei Jahren. Nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivisten gingen die Einschüchterungen, Festnahmen und Gewalttaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender weiter. Im Frühsommer 2017 hatte das Ermittlungskomitee von höchster Stelle in Moskau aus wegen starken internationalen Drucks eine Untersuchung der schwerwiegenden Vorwürfe angeordnet. Diese brachte allerdings nie konkrete Resultate (NZZ 18.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019).

Quellen:

- Russisches LGBT-Netzwerk (14.1.2019):

New wave of persecution against LGBT people in Chechnya: around 40 people detained, at least two killed, https://lgbtnet.org/en/newseng/new-wave-persecution-against-lgbt-people-chechnya-around-40-people-detained-least-two-killed , Zugriff 28.2.2019

- Nowaja Gaseta (18.1.2019): Легитимные жертвы, https://www.novayagazeta.ru/articles/2019/01/16/79205-legitimnye-zhertvy , Zugriff 28.2.2019

- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (18.1.2019): In Tschetschenien hat eine neue Welle der Verfolgung Homosexueller begonnen, https://www.nzz.ch/international/in-tschetschenien-hat-eine-neue-welle-der-verfolgung-homosexueller-begonnen-ld.1452401 , Zugriff 28.2.2019

- UN News (13.2.2019): LGBT community in Chechnya faces ‘new wave of persecution’: UN human rights experts, https://news.un.org/en/story/2019/02/1032641 , Zugriff 28.2.2019Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB RUSS übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 16.3. Zeugen Jehovas).

Änderungen seit Mai 2018:

Erstens wurde weitere, die Zeugen Jehovas betreffende Literatur in die „Föderale Liste extremistischer Materialien“ des Justizministeriums der RF (http://minjust.ru/ru/extremist-materials?field_extremist_content_value ) aufgenommen. Es handelt sich dabei um die Positionen 4471, 4472, 4485 bis 4488 und 4502, die aufgrund der Entscheidungen diverser russischer Gerichte am 5.7.2018 bzw. am 31.8.2018 in die Liste aufgenommen wurden. Zweitens wurde der Erlass N 11 „Über die gerichtliche Praxis in Strafsachen zu Verbrechen mit extremistischer Ausrichtung“ des Plenums des Obersten Gerichts vom 28.6.2011 am 20.9.2018 novelliert, die Definition der Z 20 Abs. 2, was unter einer Teilnahme an einer extremistischen Organisation iSd Art. 282.2 russ. StGB zu verstehen ist, ist aber ebenso unverändert geblieben wie der Art. 282.2 russ. StGB („Organisation der Tätigkeit einer extremistischen Organisation“) selbst. Auch die Entscheidung des Obersten Gerichts der RF N AKPI 17-238 vom 20. April 2017, mit der das „Leitungszentrum der Zeugen Jehovas in Russland“ als extremistische Organisation eingestuft und verboten wurde, ist unverändert gültig.

Unter dem Link http://gorod-che.ru/new/2018/10/10/58877 findet sich ein Artikel vom 10.10.2018, wonach fünf Bewohner der Kirowsker Oblast festgenommen wurden wegen des Versuches, die Tätigkeit einer religiösen Organisation, die die Glaubenslehre der Zeugen Jehovas weiterverbreitet, wieder aufzunehmen. Trotz der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts vom 20.4.2017 hätten die Festgenommenen laut Untersuchungskomitee – in voller Kenntnis der Gerichtsentscheidung – in der Zeit vom 16.8.2017 bis zum 29.9.2018 beschlossen, die religiöse Tätigkeit wieder aufzunehmen.

Unter Beachtung aller konspirativen Maßnahmen hätten sie jedes Mal in neuen Wohnungen Treffen von Jüngern und Teilnehmern der religiösen Vereinigung organisiert. Dort hätten sie biblische Lieder gesungen, die Fertigkeiten bei der Durchführung der missionarischen Tätigkeit vervollkommnet und in der Extremismus-Liste aufgeführte verbotene Literatur studiert (New World Translation of the Holy Scriptures, Nr. 4488 der Liste). Außerdem hätten sie eine verbotene religiöse Organisation finanziert, indem sie ca. 500.000 RUB von den Glaubensanhängern gesammelt hätten. Dieses Geld sei zwischen den Führern der Organisation für die Miete der Räumlichkeiten, für den Erwerb und die Wartung von Computern aufgewendet worden. Der Rest der Summe sei dem Leitungszentrum überwiesen worden.

Art. 282.3 des russ. StGB (http://www.consultant.ru/document/cons_doc_LAW_10699/51346ce1f845bc43ee6f3eadfa69f65119c941fa/ ) stellt die Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit unter gerichtliche Strafe. Er lautet:

„Art. 282.3 Finanzierung einer extremistischen Tätigkeit

1. Die Zurverfügungstellung oder Sammlung von Mitteln oder die Erbringung finanzieller Dienstleistungen, wissentlich bestimmt für die Finanzierung der Organisation, der Vorbereitung und Begehung zumindest eines der Verbrechen extremistischer Ausrichtung oder für die Sicherstellung der Tätigkeit einer extremistischen Vereinigung oder extremistischen Organisation wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 1 bis 4 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 3 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist bis zu 1 Jahr oder mit Freiheitsstrafe von 3 bis 8 Jahren.

2. Diese Taten, begangen von einer Person unter Ausnutzung ihrer Amtsstellung wird mit einer Geldstrafe in der Höhe von 300.000 bis 700.000 RUB bestraft oder in der Höhe des Arbeits- oder eines anderen Einkommens des Verurteilten für einen Zeitraum von 2 bis 4 Jahren oder ohne eine solche oder mit Zwangsarbeiten für einen Zeitraum von 2 bis 5 Jahren mit dem Entzug des Rechts, bestimmte Positionen einzunehmen oder bestimmte Tätigkeiten auszuüben mit einer Frist bis zu 5 Jahren oder ohne einen solchen und mit einer Beschränkung der Freiheit mit einer Frist von 1 bis zu 2 Jahren oder mit Freiheitsstrafe von 5 bis 10 Jahren.

Anmerkung: Eine Person, die erstmals ein Verbrechen gemäß dieses Art. begangen hat, wird von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit frei, wenn sie mittels rechtzeitiger Benachrichtigung der Behörden oder auf andere Weise die Verhinderung des Verbrechens, das sie finanziert hat, sichergestellt hat, ebenso wenn sie die Verhinderung der Tätigkeit der extremistischen Gesellschaft oder der extremistischen Organisation sichergestellt hat, für deren Sicherstellung der Tätigkeit sie Mittel zur Verfügung gestellt oder gesammelt oder finanzielle Dienstleistungen erbracht hat, wenn in ihren Handlungen kein anderer Straftatbestand enthalten ist.“

Teilnahmen an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen (der Zeugen Jehovas) werden also von den russischen Behörden im Lichte der Verbotsentscheidung des Obersten Gerichts, des Auslegungserlasses und der Extremismus-Liste des russischen Justizministeriums im Rahmen der russischen Strafgesetze weiterhin verfolgt.

Eine nochmalige Internetrecherche der ÖB Moskau hat aber weiterhin keine Hinweise erbracht, dass einfache Gläubige der Zeugen Jehovas, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften bzw. Missionierungen oder öffentlichen Handlungen teilnehmen, von legalen Repressionen betroffen wären.

Quellen:

- ÖB Moskau (23.10.2018): Information per Email

-

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 19. Bewegungsfreiheit bzw. 19.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens).

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per EmailDer Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

2. Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5 .2018b).Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5 .2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a). Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534 , Zugriff 1.8.2018

- CIA – Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html , Zugriff 1.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 1.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 1.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 1.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/ , Zugriff 1.8.2018

- OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true , Zugriff 29.8.2018

- Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen , Zugriff 1.8.2018

- Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident , Zugriff 1.8.2018

- Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html , Zugriff 1.8.2018

2.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017). Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- GKS – Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018, http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx , Zugriff 1.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/ , Zugriff 1.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf , Zugriff 1.8.2018

2.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser „Interessenausgleich“ traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen „Aufständischen“ und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert – anders als in der Nachbarrepublik – zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der „Siloviki“, das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete „Terrorverdächtige“ können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich „reinigen“, was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan – und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht – Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018). Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/ , Zugriff 2.8.2018

- IOM – International Organisation of Migration (6.2014): Länderinformationsblatt Russische Föderation

- NZZ – Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan: Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351 , Zugriff 2.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 2.8.2018

3. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0 , Zugriff 28.8.2018

- BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/ , Zugriff 28.8.2018

- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824 , Zugriff 29.8.2018

- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html , Zugriff 28.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170 , Zugriff 28.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 28.8.2018

3.1. Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/ , Zugriff 28.8.2018

- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/ , Zugriff 28.8.2018

- DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520 , Zugriff 28.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf , Zugriff 28.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 28.8.2018

3.2. Tschetschenien

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, auch in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).Im gesamten Jahr 2017 gab es in Tschetschenien 75 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 59 Todesopfer (20 Aufständische, 26 Zivilisten, 13 Exekutivkräfte) und 16 Verwundete (14 Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Tschetschenien acht Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon sieben Todesopfer (sechs Aufständische, eine Exekutivkraft) und ein Verwundeter (eine Exekutivkraft) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/ , Zugriff 28.8.2018

- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/ , Zugriff 28.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 28.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 28.8.2018

3.3. Dagestan

Die russische Teilrepublik Dagestan im Nordkaukasus gilt seit einigen Jahren als Brutstätte von Terrorismus. Mehr als 1.000 Kämpfer aus dem Land sollen sich dem Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen haben. Terroristen aus Dagestan sind auch in anderen Teilen Russlands und im Ausland aktiv. Viele Radikale aus Dagestan sind außerdem in den Nahen Osten ausgereist. In den Jahren 2013 und 2014 brachen ganze salafistische Familien dorthin auf. Die russischen Behörden halfen den Radikalen damals sogar bei der Ausreise. Vor den Olympischen Spielen in Sotschi wollte Russland möglichst viele Gefährder loswerden. Nach Angaben der Sicherheitsbehörden Dagestans Anfang 2017 kämpften etwa 1.200 Männer aus Dagestan in den Reihen der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien und im Irak. Mittlerweile werden Radikale, die sich terroristischen Organisationen im Ausland anschließen wollen, von den russischen Behörden an der Ausreise gehindert und festgenommen, was die Terrorgefahr in Dagestan erhöht (Deutschlandfunk 28.6.2017). Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar. Relativ häufig kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Extremisten. Letztere gehörten bis vor kurzem primär zum 2007 gegründeten sogenannten Kaukasus-Emirat, bekundeten jedoch vermehrt ihre Loyalität gegenüber dem sog. IS. Die Anhänger des Emirats beanspruchen, den „wahren Islam“ in der Region zu vertreten, während die Vertreter des sog. „traditionellen“ Islams als korrupt angesehen werden und im Verdacht stehen, der Regierung in Moskau bzw. ihren Repräsentanten in der Region Untertan zu sein. Einige Angriffe auf Polizisten bzw. Polizeieinrichtungen wurden unter dem Deckmantel des IS ausgeführt; im Dezember 2015 bekannte sich der sog. IS zu einem Anschlag auf eine historische Festung in Derbent. Inwieweit der IS nach der territorialen Niederlage im Nahen Osten entsprechende Ressourcen verschieben wird, um im Nordkaukasus weitere terroristische Umtriebe zu entfalten oder die regionale Zweigstelle weiterhin zu Propagandazwecken nutzen wird, um seinen globalen Einfluss zu unterstreichen, wird von den russischen Sicherheitskräften genau verfolgt werden (ÖB Moskau 12,2017).Im gesamten Jahr 2017 gab es in Dagestan 55 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 47 Todesopfer (38 Aufständische, vier Zivilisten, fünf Exekutivkräfte) und acht Verwundete (ein Militanter, fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 29.1.2018). Regelmäßig kommt es auch im Jahr 2018 in Dagestan zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen (ACCORD 16.8.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es in Dagestan 17 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon elf Todesopfer (vier Aufständische, eine Exekutivkraft, sechs Zivilisten) und sechs Verwundeter (vier Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

- ACCORD (16.8.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan, Zeitachse von Angriffen, https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/#Toc489358424 , Zugriff 28.8.2018

- Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/ , Zugriff 28.8.2018

- Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics.Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/ , Zugriff 28.8.2018

- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824 , Zugriff 29.8.2018

4. Rechtsschutz / Justizwesen

Es gibt in der Russischen Föderation Gerichte bezüglich Verfassungs-, Zivil-, Administrativ- und Strafrecht. Es gibt den Verfassungsgerichtshof, den Obersten Gerichtshof, föderale Gerichtshöfe und die Staatsanwaltschaft. Die Staatsanwaltschaft ist verantwortlich für Strafverfolgung und hat die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit der Handlungen von Regierungsbeamten. Strafrechtliche Ermittlungen werden vom Ermittlungskomitee geleitet (EASO 3.2017). Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig, allerdings kritisieren sowohl internationale Gremien (EGMR, EuR) als auch nationale Organisationen (Ombudsmann, Menschenrechtsrat) regelmäßig Missstände im russischen Justizwesen. Einerseits kommt es immer wieder zu politischen Einflussnahmen auf Prozesse, andererseits beklagen viele Bürger die schleppende Umsetzung von Urteilen bei zivilrechtlichen Prozessen (ÖB Moskau 12.2017). Der Judikative mangelt es auch an Unabhängigkeit von der Exekutive und berufliches Weiterkommen in diesem Bereich ist an die Einhaltung der Präferenzen des Kreml gebunden (FH 1.2018).In Strafprozessen kommt es nur sehr selten zu Freisprüchen der Angeklagten. Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums über das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen aus Ende 2014 rangiert die Justiz (gemeinsam mit der Polizei) im letzten Drittel. 45% der Befragten zweifeln daran, dass man der Justiz trauen kann, 17% sind überzeugt, dass die Justiz das Vertrauen der Bevölkerung nicht verdient und nur 26% geben an, den Gerichten zu vertrauen (ÖB Moskau 12.2017). Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen: So wurde in einem aufsehenerregenden Fall der amtierende russische Wirtschaftsminister Alexei Ulyukayev im November 2016 verhaftet und im Dezember 2017 wegen Korruptionsvorwürfen seitens des mächtigen Leiters des Rohstoffunternehmens Rosneft zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, FH 1.2018).2010 ratifizierte Russland das 14. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Änderungen im Individualbeschwerdeverfahren vorsieht. Das 6. Zusatzprotokoll über die Abschaffung der Todesstrafe ist zwar unterschrieben, wurde jedoch nicht ratifiziert. Der russische Verfassungsgerichtshof hat jedoch das Moratorium über die Todesstrafe im Jahr 2009 bis zur Ratifikation des Protokolls verlängert, so dass die Todesstrafe de facto abgeschafft ist. Auch das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs wurde von Russland nicht ratifiziert. Spannungsgeladen ist das Verhältnis der russischen Justiz zu den Urteilen des EGMR. Moskau sieht im EGMR ein politisiertes Organ, das die Souveränität Russlands untergraben möchte (ÖB Moskau 12.2017). Im Juli 2015 stellte der russische Verfassungsgerichtshof klar, dass bei einer der russischen Verfassung widersprechenden Konventionsauslegung seitens des EGMR das russische Rechtssystem aufgrund der Vorrangstellung des Grundgesetzes gezwungen sein wird, auf die buchstäbliche Befolgung der Entscheidung des Straßburger Gerichtes zu verzichten. Diese Position des Verfassungsgerichtshofs wurde im Dezember 2015 durch ein Föderales Gesetz unterstützt, welches dem VfGH das Recht einräumt, Urteile internationaler Menschenrechtsinstitutionen nicht umzusetzen, wenn diese nicht mit der russischen Verfassung im Einklang stehen. Das Gesetz wurde bereits einmal im Fall der Verurteilung Russlands durch den EGMR in Bezug auf das Wahlrecht von Häftlingen 61 angewendet (zugunsten der russischen Position) und ist auch für den YUKOS-Fall von Relevanz. Der russische Verfassungsgerichtshof zeigt sich allerdings um grundsätzlichen Einklang zwischen internationalen gerichtlichen Entscheidungen und der russischen Verfassung bemüht (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018, US DOS 20.4.2018).Am 10.2.2017 fällte das Verfassungsgericht eine Entscheidung zu Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs, der wiederholte Verstöße gegen das Versammlungsrecht als Straftat definiert. Die Richter entschieden, die Abhaltung einer „nichtgenehmigten“ friedlichen Versammlung allein stelle noch keine Straftat dar. Am 22. Februar überprüfte das Oberste Gericht das Urteil gegen den Aktivisten Ildar Dadin, der wegen seiner friedlichen Proteste eine Freiheitsstrafe auf Grundlage von Artikel 212.1. erhalten hatte, und ordnete seine Freilassung an. Im Juli 2017 trat eine neue Bestimmung in Kraft, wonach die Behörden Personen die russische Staatsbürgerschaft aberkennen können, wenn sie diese mit der „Absicht“ angenommen haben, die „Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung des Landes anzugreifen“. NGOs kritisierten den Wortlaut des Gesetzes, der nach ihrer Ansicht Spielraum für willkürliche Auslegungen bietet (AI 22.2.2018).Bemerkenswert ist die extrem hohe Verurteilungsquote bei Strafprozessen. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität. Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis unterscheidet dabei nicht nach Merkmalen wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Nationalität. Für zu lebenslanger Haft Verurteilte bzw. bei entsprechend umgewandelter Todesstrafe besteht bei guter Führung die Möglichkeit einer Freilassung frühestens nach 25 Jahren. Eine Begnadigung durch den Präsidenten ist möglich. Auch unabhängig von politisch oder ökonomisch motivierten Strafprozessen begünstigt ein Wetteifern zwischen Strafverfolgungsbehörden um hohe Verurteilungsquoten die Anwendung illegaler Methoden zum Erhalt von „Geständnissen“ (AA 21.5.2018).Repressionen Dritter, die sich gezielt gegen bestimmte Personen oder Personengruppen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe richten, äußern sich hauptsächlich in homophoben, fremdenfeindlichen oder antisemitischen Straftaten, die von Seiten des Staates nur in einer Minderheit der Fälle zufriedenstellend verfolgt und aufgeklärt werden (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 2.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 2.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 1.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 2.8.2018

4.1. Tschetschenien

Das russische föderale Recht gilt für die gesamte Russische Föderation, einschließlich Tschetscheniens. Neben dem russischen föderalen Recht spielen sowohl Adat als auch Scharia eine wichtige Rolle in Tschetschenien. Republiksoberhaupt Ramzan Kadyrow unterstreicht die Bedeutung, die der Einhaltung des russischen Rechts zukommt, verweist zugleich aber auch auf den Stellenwert des Islams und der tschetschenischen Tradition. Das Adat ist eine Art Gewohnheitsrecht, das soziale Normen und Regeln festschreibt. Dem Adat-Recht kommt in Zusammenhang mit der tschetschenischen Lebensweise eine maßgebliche Rolle zu. Allgemein gilt, dass das Adat für alle Tschetschenen gilt, unabhängig von ihrer Clanzugehörigkeit. Das Adat deckt nahezu alle gesellschaftlichen Verhältnisse in Tschetschenien ab und regelt die Beziehungen zwischen den Menschen. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Alltagsregeln von einer Generation an die nächste weitergegeben. Das Adat ist in Tschetschenien in Ermangelung einer Zentralregierung bzw. einer funktionierenden Gesetzgebung erstarkt. Daher dient das Adat als Rahmen für die gesellschaftlichen Beziehungen. In der tschetschenischen Gesellschaft ist jedoch auch die Scharia von Bedeutung. Die meisten Tschetschenen sind sunnitische Muslime und gehören der sufistischen Glaubensrichtung des sunnitischen Islams an [für Informationen bezüglich Sufismus vgl.: ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam]. Der Sufismus enthält u. a. auch Elemente der Mystik. Eine sehr kleine Minderheit der Tschetschenen sind Salafisten. Formal gesehen hat das russische föderale Recht Vorrang vor Adat und Scharia, doch sind sowohl das Adat als auch die Scharia in Tschetschenien genauso wichtig wie die russischen Rechtsvorschriften. Iwona Kaliszewska, Assistenzprofessorin am Institut für Ethnologie und Anthropologie der Universität Warschau, führt an, dass sich die Republik Tschetschenien in Wirklichkeit außerhalb der Gerichtsbarkeit des russischen Rechtssystems bewegt, auch wenn sie theoretisch darunter fällt. Dies legt den Schluss nahe, dass sowohl Scharia als auch Adat zur Anwendung kommen, und es unterschiedliche Auffassungen bezüglich der Frage gibt, welches der beiden Rechte einen stärkeren Einfluss auf die Gesellschaft ausübt (EASO 9.2014). Scharia-Gerichtsbarkeit bildet am Südrand der Russischen Föderation eine Art „alternativer Justiz“. Sie steht zwar in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands, wird aber, mit Einverständnis der involvierten Parteien, für Rechtsprechung auf lokaler Ebene eingesetzt (SWP 4.2015).In Einklang mit den Prinzipien des Föderalismus ist das tschetschenische Parlament autorisiert, Gesetze innerhalb der Zuständigkeit eines Subjektes der Russischen Föderation zu erlassen. Laut Artikel 6 der tschetschenischen Verfassung überwiegt das föderale Gesetz das tschetschenische im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Föderalen Regierung, wie beispielsweise Gerichtswesen und auswärtige Angelegenheiten, aber auch bei geteilten Zuständigkeiten wie Minderheitenrechte und Familiengesetzgebung. Bei Themen im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit der Republik überwiegt das tschetschenische Gesetz. Die tschetschenische Gesetzgebung besteht aus einem Höchstgericht und 15 Distrikt- oder Stadtgerichten, sowie Friedensgerichte, einem Militärgericht und einem Schiedsgericht. Die formale Qualität der Arbeit der Judikative ist vergleichbar mit anderen Teilen der Russischen Föderation, jedoch wird ihre Unabhängigkeit stärker angegriffen als anderswo, da Kadyrow und andere lokale Beamte Druck auf Richter ausüben (EASO 3.2017). Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenien und Dagestan, die aufgrund von z.T. unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschten Beweisen zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien (AA 21.5.2018). Der Konflikt im Nordkaukasus zwischen Regierungskräften, Aufständischen, Islamisten und Kriminellen führt zu vielen Menschenrechtsverletzungen, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen und daher auch zu einem generellen Abbau der Rechtsstaatlichkeit. In Tschetschenien werden Menschenrechtsverletzungen seitens der Sicherheitsbehörden mit Straffreiheit begangen (US DOS 20.4.2018, vgl. HRW 7.2018, AI 22.2.2018). In Bezug auf Vorladungen von der Polizei in Tschetschenien ist zu sagen, dass solche nicht an Personen verschickt werden, die man verdächtigt, Kontakt mit dem islamistischen Widerstand zu haben. Solche Verdächtige würden ohne Vorwarnung von der Polizei mitgenommen, ansonsten wären sie gewarnt und hätten Zeit zu verschwinden (DIS 1.2015).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 2.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautentführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , S. 9, Zugriff 2.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 2.8.2018

- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 2.8.2018

- HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx , Zugriff 2.8.2018

- ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam [vergriffen; liegt in der Staatendokumentation auf]

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf , Zugriff 2.8.2018

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 2.8.2018

5. Sicherheitsbehörden

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst FSB, das Untersuchungskomittee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und ist in föderale, regionale und lokale Einheiten geteilt. 2016 wurde die Föderale Nationalgarde gegründet. Diese neue Exekutivbehörde steht unter der Kontrolle des Präsidenten, der ihr Oberbefehlshaber ist. Ihre Aufgaben sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, Administrierung von Waffenbesitz, Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, Schutz der Öffentlichen Sicherheit und Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil (US DOS 20.4.2018).Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, wenn sie am Schauplatz eines Verbrechens verhaftet werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 20.4.2018).Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 21.5.2018).Die im Nordkaukasus agierenden Sicherheitskräfte sind in der Regel maskiert (BAMF 10.2013). Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus wird Sicherheitskräften zugeschrieben. In Tschetschenien sind sowohl föderale russische als auch lokale tschetschenische Sicherheitskräfte tätig. Letztere werden bezeichnenderweise oft Kadyrowzy genannt, nicht zuletzt, da in der Praxis fast alle tschetschenischen Sicherheitskräfte unter der Kontrolle Ramzan Kadyrows stehen (Rüdisser 11.2012). Ramzan Kadyrows Macht gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen Kadyrowzy. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet und ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Von Seiten des tschetschenischen MVD [Innenministerium] sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hatte angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ersuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden „unantastbaren Polizeieinheiten“ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 2.8.2018

- HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx , Zugriff 2.8.2018

- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds, http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/ , Zugriff 2.8.2018

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 2.8.2018

6. Korruption

Korruption gilt in Russland als wichtiger Teil des gesellschaftlichen Systems. Obwohl Korruption in Russland endemisch ist, kann im Einzelfall nicht generalisiert werden. Zahlreiche persönliche Faktoren bezüglich Geber und Nehmer von informellen Zahlungen sind zu berücksichtigen sowie strukturell vorgegebene Einflüsse der jeweiligen Region. Im alltäglichen Kontakt mit den Behörden fließen informelle Zahlungen, um widersprüchliche Bestimmungen zu umgehen und Dienstleistungen innerhalb nützlicher Frist zu erhalten. Korruption stellt eine zusätzliche Einnahmequelle von Staatsbeamten dar. Das Justizsystem und das Gesundheitswesen werden in der Bevölkerung als besonders korrupt wahrgenommen. Im Justizsystem ist zwischen stark politisierten Fällen, einschließlich solchen, die Geschäftsinteressen des Staates betreffen, und alltäglichen Rechtsgeschäften zu unterscheiden. Nicht alle Rechtsinstitutionen sind gleich anfällig für Korruption. Im Gesundheitswesen gehören informelle Zahlungen für offiziell kostenlose Dienstleistungen zum Alltag. Bezahlt wird für den Zugang zu Behandlungen oder für Behandlungen besserer Qualität. Es handelt sich generell um relativ kleine Beträge. Seit 2008 laufende Anti-Korruptionsmaßnahmen hatten bisher keinen Einfluss auf den endemischen Charakter der Korruption (SEM 15.7.2016).Korruption ist sowohl im öffentlichen Leben als auch in der Geschäftswelt weit verbreitet. Aufgrund der zunehmend mangelhaften Übernahme von Verantwortung in der Regierung können Bürokraten mit Straffreiheit rechnen. Analysten bezeichnen das politische System als Kleptokratie, in der die regierende Elite das öffentliche Vermögen plündert, um sich selbst zu bereichern (FH 1.2018).Das Gesetz sieht Strafen für behördliche Korruption vor, die Regierung bestätigt aber, dass das Gesetz nicht effektiv umgesetzt wird, und viele Beamte in korrupte Praktiken involviert sind. Korruption ist sowohl in der Exekutive als auch in der Legislative und Judikative und auf allen hierarchischen Ebenen weit verbreitet (USDOS 20.4.2018, vgl. EASO 3.2017). Zu den Formen der Korruption zählen die Bestechung von Beamten, missbräuchliche Verwendung von Finanzmitteln, Diebstahl von öffentlichem Eigentum, Schmiergeldzahlungen im Beschaffungswesen, Erpressung, und die missbräuchliche Verwendung der offiziellen Position, um an persönliche Begünstigungen zu kommen. Behördliche Korruption ist zudem auch in anderen Bereichen weiterhin verbreitet: im Bildungswesen, beim Militärdienst, im Gesundheitswesen, im Handel, beim Wohnungswesen, bei Pensionen und Sozialhilfe, im Gesetzesvollzug und im Justizwesen (US DOS 20.4.2018).Korruptionsbekämpfung gilt seit 2008 als prioritäres Ziel der Zentralregierung. Bis 2012 wurde die dafür notwendige Gesetzesgrundlage geschaffen. Beispielsweise wurden die Sanktionen festgelegt. Aufsichtsbehörden erhielten mehr Befugnisse, darunter die Finanzkontrolle, die Generalstaatsanwaltschaft und der Geheimdienst (FSB). Es wurden vermehrt Überprüfungen eingeleitet. In der Folge stieg die Anzahl der Strafverfahren. Zu Beginn richteten sie sich hauptsächlich gegen untere Chargen, seit 2013 jedoch auch gegen hochrangige Beamte und Politiker, wie einzelne Gouverneure, regionale Minister und stellvertretende föderale Minister und einen früheren Verteidigungsminister. Positiv bewertete die russische Zivilgesellschaft die 2009 geschaffenen Gesetze, welche die staatlichen Behörden und die Justiz verpflichteten, über ihre Aktivitäten zu informieren. Im Zusammenhang mit der Korruptions-Bekämpfung entstanden zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen, die ab 2011 einen gewissen Einfluss auf die Arbeit der Behörden ausüben konnten und erreichten, dass das Handeln von Dienststellen und Gerichten teils transparenter wurde. In einzelnen Bereichen der Verwaltung wurde die Korruption reduziert, oft abhängig von einzelnen integren und innovativen Führungsfiguren. Beobachter sind sich jedoch einig, dass sich die Situation nicht substantiell verbessert hat. Am endemischen Charakter der Korruption in der Verwaltung hat sich bisher nichts geändert. Das gilt auch für das Justizsystem und für die Polizei, die 2011 reformiert wurde. Die Gründe für den Misserfolg sind vielschichtig. Auf höchster Ebene scheint die russische Führung kein echtes Interesse an der Korruptions-Bekämpfung zu haben, da sie selber vom korrupten System profitiert. Externe Beobachter kritisieren, der Kreml nutze Anti-Korruptions-Maßnahmen, um Gegner zu schwächen und die Elite zu kontrollieren. Aufsehenerregende Fälle dienten dazu, die Popularität des Präsidenten in der Bevölkerung zu stärken. Im Verwaltungsapparat sind die konkreten Regeln zur Korruptionsbekämpfung unterentwickelt, es fehlen zum Beispiel Mechanismen zur Integritätsprüfung der Mitarbeiter/innen. Institutionen zur Korruptionsbekämpfung sind laut BTI zwar oft mit kompetenten Personen besetzt, es fehlen ihnen jedoch die Kompetenz und die Ressourcen, um effektiv zu handeln. Laut Elena Panfilova, ehemalige Direktorin von Transparency International Russland, herrscht unter russischen Beamten und dem Justizpersonal kein Verständnis für die Problematik von Interessenskonflikten, vielmehr scheinen verwandtschaftliche und freundschaftliche Gefälligkeiten wichtiger als die berufliche Integrität. Durch korrupte Praktiken sind Abhängigkeiten zwischen Mitarbeiter/innen, zwischen Personen in verschiedenen Hierarchiestufen und zwischen Institutionen entstanden. Solche "verfilzten Strukturen" blieben völlig unkontrolliert und weil jeder jeden deckt, ist eine systematische Aufarbeitung kaum möglich. In der Verwaltung werden deshalb im Vergleich zur Anzahl der Staatsangestellten relativ wenige Strafverfahren wegen Korruption eingeleitet, auch weil die Gerichte selber korruptionsanfällig sind. Zu Schuldsprüchen kommt es selten, wenn doch, ist das Strafmaß vielfach gering oder wird insbesondere bei hohen Geldbußen nicht vollstreckt. Auf weitere Institutionen, die zur Korruptionsbekämpfung notwendig sind – unabhängige Gerichte, freie Medien und die Zivilgesellschaft – wird vermehrt Druck ausgeübt. Auch im Nordkaukasus beschränken sich Anti-Korruptionskampagnen vor allem auf einzelne aufsehenerregende Festnahmen von Beamten. Es ist davon auszugehen, dass Ramzan Kadyrow Korruptionsbekämpfung dazu nutzt, um gegen unliebsame Personen vorzugehen. Die tschetschenische Staatsanwaltschaft bestätigt 2014, dass es in Anbetracht des Ausmaßes des Problems zu vergleichsweise wenigen Strafverfahren kommt. Und diese endeten oft ohne Schuldspruch. Häufig betreffen sie Alltagskorruption, das heißt, die unteren Chargen der Verwaltung. Laut Mitarbeitern der Strafverfolgungsbehörden, befragt durch ICG, sind die Polizisten, die in Korruptionsfällen ermitteln, selber korrupt. Um gegen Korruption innerhalb der Polizei vorzugehen, wurden die Löhne erhöht. Die erforderliche Summe, um eine Stelle bei der Polizei zu erhalten, blieb jedoch derart hoch, dass die Abhängigkeit von informellen Zahlungen weiterhin bestand. Die Lohnerhöhungen brachten deshalb keine substantiellen Verbesserungen. Eine Kontrolle durch die Zivilgesellschaft ist in Tschetschenien noch weniger gegeben als im übrigen Russland, da Nichtregierungsorganisationen seit Jahren stark unter Druck stehen und die Bevölkerung tendenziell versucht, jeglichen Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden zu vermeiden (SEM 15.7.2016).Der Kampf der Justiz gegen Korruption steht mitunter im Verdacht einer Instrumentalisierung aus wirtschaftlichen bzw. politischen Gründen (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). Eines der zentralen Themen der Modernisierungsagenda ist die Bekämpfung der Korruption und des Rechtsnihilismus. Im Zeichen des Rechtsstaats durchgeführte Reformen, wie die Einsetzung eines Richterrats, um die Selbstverwaltung der Richter zu fördern, die Verabschiedung neuer Prozessordnungen und die deutliche Erhöhung der Gehälter hatten jedoch wenig Wirkung auf die Abhängigkeit der Justiz von Weisungen der Exekutive und die dort herrschende Korruption. Im Februar 2012 erfolgte der Beitritt Russlands zur OECD-Konvention zur Korruptionsbekämpfung (GIZ 7.2018a). Korruption ist vor allem in Tschetschenien nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Laut einem rezenten Bericht der International Crisis Group gibt es glaubwürdige Berichte, wonach öffentliche Bedienstete einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrovs Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen müssen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrovs und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete der „Kommersant“ den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 12.2017). Die auf Clans basierte Korruption hält die regionalen Regierungen zusammen und die Zuschüsse haben den Zweck, die Loyalität der lokalen Elite zu erkaufen. Putins System der zentralisierten Kontrolle bevorzugt Loyalität und lässt Bestechung und Gesetzlosigkeit gedeihen (IAR 31.3.2014). Die Situation in Tschetschenien zeichnet sich dadurch aus, dass korrupte Praktiken erstens stärker verbreitet sind und zweitens offener ablaufen als im restlichen Russland. In der Folge wird der Rechtsstaat unterlaufen und der Zugang zum Gesundheitswesen – außer der Notfallversorgung – hängt zu einem großen Teil von den finanziellen Mitteln der Patienten und ihres sozialen Umfeldes ab (SEM 15.7.2016).Der Lebensstandard in der Republik Dagestan ist einer der niedrigsten in der gesamten Russischen Föderation und das Ausmaß der Korruption sogar für die Region Nordkaukasus beispiellos (IOM 6.2014).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 6.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 6.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 6.8.2018

- IAR – International Affairs Review (31.3.2014): The Post-Sochi North Caucasus Remains Mired in Corruption, http://www.iar-gwu.org/content/post-sochi-north-caucasus-remains-mired-corruption , Zugriff 6.8.2018

- IOM – International Organisation of Migration (6.2014): Länderinformationsblatt Russische Föderation, https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698704/698619/17129252/17046926/17255781/Russische_F öderation_-_Country_Fact_Sheet_2014,_deutsch.pdf?nodeid=17256004&vernum=-2, Zugriff 6.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- SEM – Staatssekretariat für Migration (15.7.2016): Focus Russland. Korruption im Alltag, insbesondere in Tschetschenien, https://www.sem.admin.ch/dam/data/sem/internationales/herkunftslaender/europa-gus/rus/RUS-korruption-d.pdf , Zugriff 6.8.2018

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 6.8.2018

7. NGOs und Menschenrechtsaktivisten

Inländische und ausländische NGOs geraten zunehmend unter Druck. Auf Basis des sog. NGO-Gesetzes aus 2012 werden russische NGOs, die politisch aktiv sind und aus dem Ausland Finanzmittel erhalten, in ein vom Justizministerium geführtes Register ausländischer Agenten eingetragen. Die davon betroffenen NGOs haben verstärkte Berichtspflichten gegenüber dem Justizministerium und müssen alle Publikationen mit der Kennzeichnung „ausländischer Agent“ markieren. Organisationen, die sich gegen eine Eintragung wehren, haben mit hohen Geldstrafen zu rechnen bzw. können aufgelöst werden (ÖB Moskau 12.2017, vgl. GIZ 7.2018a, AA 21.5.2018, FH 1.2018). 2016 wurde die NGO Agora, eine Vereinigung von Menschenrechtsanwälten, als erste Organisation aufgrund von Nichtbefolgung des NGO-Gesetzes aufgelöst. Von einer strafrechtlichen Verfolgung der Leiterin einer NGO für die Belange von Frauen in Südrussland wurde im Juli 2017 abgesehen. Bereits im März 2015 wurde durch eine gesetzliche Änderung die Möglichkeit geschaffen, Organisationen aus dem Register zu streichen, wenn sie nachweisen können, keine ausländischen Finanzmittel mehr zu erhalten. Nach langen Protesten wurde das NGO-Gesetz im Mai 2016 erneut von der Duma überarbeitet, um den Begriff „politische Aktivität“ genauer zu definieren. Hiesigen Experten zufolge ist die Definition jedoch nach wie vor unzulänglich. Weiters wurden im Zuge der Gesetzesanpassung wohltätige Organisationen vom NGO-Gesetz ausgenommen. Im Dezember 2016 erklärte Präsident Putin anlässlich der Veröffentlichung der Liste des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, dass die Anwendung des NGO-Gesetzes einer Prüfung unterzogen werden solle (ÖB Moskau 12.2017). In der Folge wurden zahlreiche Organisationen aus dem Register der ausländischen Agenten gestrichen. Der präsidiale Menschenrechtsrat verlangt die Streichung weiterer Organisationen. Gegen Jahresende 2017 waren beim Justizministerium 85 NGOs als ausländische Agenten registriert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AI 22.2.2018). Der Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Zeid Ra’ad Al Hussein, rief im Juni 2016 die russischen Behörden vor dem Menschenrechtsrat in Genf dazu auf, das NGO-Gesetz abzuändern (ÖB Moskau 12.2017, vgl. HRW 18.1.2018). Auch die Venedig-Kommission des Europarats rief im Juni 2016 zu Abänderungen des NGO-Gesetzes sowie des Gesetzes über unerwünschte ausländische Organisationen auf. Um der ausländischen Finanzierung russischer NGOs entgegenzuwirken, werden seit einigen Jahren sogenannte präsidentielle Subventionen vergeben. 2017 wurden auf diesem Weg rund 2,25 Mrd. Rubel (ca. 31,5 Mio. Euro) an Organisationen verteilt, größtenteils an jene mit patriotischer bzw. sozialer Ausrichtung, in einigen Fällen erhielten auch als ausländische Agenten deklarierte Einrichtungen staatliche Zuwendungen (ÖB Moskau 12.2017).Im Mai 2015 wurde ein Gesetz angenommen, um die Tätigkeit von ausländischen oder internationalen Nichtregierungsorganisationen, die eine Bedrohung für die verfassungsmäßigen Grundlagen der RF, für die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die Sicherheit des Staates darstellen, auf dem Territorium der Russischen Föderation als unerwünscht zu erklären. Die Klassifizierung als unerwünschte Organisation zieht ein Verbot der Gründung bzw. die Liquidierung bereits bestehender Strukturen der ausländischen NGO in Russland nach sich, sowie ein Verbot der Verteilung von Informationsmaterialien bzw. der Durchführung von Projekten. Weiters ist es russischen Banken verboten, Finanzoperationen durchzuführen, wenn ein Kunde als unerwünschte NGO eingestuft wurde. Die Verbote betreffen nicht nur die NGO selbst, sondern auch Personen, die sich an ihrer Tätigkeit beteiligen. Hiesige Menschenrechtler gehen daher davon aus, dass das Gesetz indirekt auch gegen die russische Zivilgesellschaft gerichtet ist. Das Gesetz sieht Geldstrafen sowie bei wiederholter Verletzung auch Freiheitsstrafen von mehreren Jahren vor. Zum Jahresende 2017 waren ein knappes Dutzend ausländische Einrichtungen vom Justizministerium als unerwünscht gelistet (ÖB Moskau 12.2017). Dieses Gesetz schränkt auch die Arbeitsfähigkeit von russischen Nichtregierungsorganisationen insbesondere dadurch ein, dass sie von den betroffenen Stiftungen aus den USA keine Mittel mehr annehmen können. Verstöße dagegen können mit bis zu sechs Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden, solche Fälle kamen jedoch bisher nicht vor (AA 21.5.2018). Die Bezeichnung gibt den Behörden die Möglichkeit, eine Bandbreite an Sanktionen gegen diese Gruppierungen zu verhängen (FH 1.2018).Menschenrechtler beklagen staatlichen Druck auf zivilgesellschaftliche Akteure. Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung sind autoritäre, die Grundrechte einschränkende Tendenzen zu beobachten. Jedoch entstehen an vielen Orten neue Formen zivilgesellschaftlichen Agierens: Autofahrer protestieren gegen die Willkür der Verkehrspolizei, „Strategie 31“ setzt sich für die Versammlungsfreiheit ein, Umweltschützer verhindern Atommülltransporte, die Künstlergruppe Wojna setzt auf spektakuläre Protestaktionen. Die Verbindungen zwischen diesen „Initiativen von unten“ und den etablierten russischen NGOs sind aber noch gering (GIZ 7.2018a). Aktivisten riskieren Opfer von Gewalt oder schikaniert zu werden, auch im Nordkaukasus (FH 1.2018, vgl. AI 22.2.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 7.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 7.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 7.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 7.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

8. Ombudsmann

Nachfolgerin der Ombudsfrau (Menschenrechtsbeauftragte) Ella Pamfilowa ist Tatjana N. Moskalkowa. Sie war hochrangige Polizeibeamtin und seit 2007 Duma Abgeordnete. Da sie keine Erfahrung als Menschenrechtsaktivistin hat, wurde sie von mehreren Seiten kritisiert (NY Times 22.4.2016, vgl. Standard.at 3.11.2017). Sie versucht die Aufklärung der Homosexuellenverfolgung in Tschetschenien voranzutreiben (Standard.at 3.11.2017). Russland hat in 83 von 85 Regionen regionale Ombudspersonen. Ihre Effektivität variiert erheblich, und lokale Behörden unterminieren manchmal die Unabhängigkeit (US DOS 20.4.2018).Moskalkowa (seit 2016) tritt nicht mit Kritik an der Lage bei klassischen Bürgerrechten in Erscheinung, sondern setzt ihren Schwerpunkt auf die „Rechte der dritten Generation“, d.h. soziale Rechte (u.a. Lohnzahlung, Mietsachen) (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- NY Times (22.4.2016): Russia’s New Human Rights Ombudsman Is Former Police General, https://www.nytimes.com/2016/04/23/world/europe/russias-new-human-rights-ombudsman-is-former-police-general.html , Zugriff 3.8.2018

- Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren , Zugriff 3.8.2018

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 2.8.2018

9. Allgemeine Menschenrechtslage

Russland garantiert in der Verfassung von 1993 alle Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Präsident und Regierung bekennen sich zwar immer wieder zur Einhaltung von Menschenrechten, es mangelt aber an der praktischen Umsetzung. Trotz vermehrter Reformbemühungen, insbesondere im Strafvollzugsbereich, hat sich die Menschenrechtssituation im Land noch nicht wirklich verbessert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kann die im fünfstelligen Bereich liegenden ausständigen Verfahren gegen Russland kaum bewältigen; Russland sperrt sich gegen eine Verstärkung des Gerichtshofs (GIZ 7.2018a). Die Verfassung der Russischen Föderation vom Dezember 1993 postuliert, dass die Russische Föderation ein „demokratischer, föderativer Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform“ ist. Im Grundrechtsteil der Verfassung ist die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht festgelegt. Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache, Herkunft und Vermögenslage dürfen nicht zu diskriminierender Ungleichbehandlung führen (Art. 19 Abs. 2). Die Einbindung des internationalen Rechts ist in Art. 15 Abs. 4 der russischen Verfassung aufgeführt: Danach „sind die allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und die internationalen Verträge der Russischen Föderation Bestandteil ihres Rechtssystems." Russland ist an folgende VN-Übereinkommen gebunden:

- Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (1969)

- Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte (1973) und erstes Zusatzprotokoll (1991)

- Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1973)

- Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (1981) und Zusatzprotokoll (2004)

- Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe (1987)

- Kinderrechtskonvention (1990), deren erstes Zusatzprotokoll gezeichnet (2001)

- Behindertenrechtskonvention (ratifiziert am 25.09.2012) (AA 21.5.2018).Der Europarat äußerte sich mehrmals kritisch zur Menschenrechtslage in der Russischen Föderation. Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) waren 2016 knapp 10% der anhängigen Fälle Russland zuzurechnen (77.821 Einzelfälle). Der EGMR hat 2016 228 Urteile in Klagen gegen Russland gesprochen. Damit führte Russland die Liste der verhängten Urteile mit großem Abstand an (an zweiter Stelle Türkei mit 88 Urteilen). Die EGMR-Entscheidungen fielen fast ausschließlich zugunsten der Kläger aus (222 von 228 Fällen) und konstatierten mehr oder wenige gravierende Menschenrechtsverletzungen. Zwei Drittel der Fälle betreffen eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit. [Zur mangelhaften Anwendung von EGMR-Urteilen durch Russland vgl. Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen] (AA 21.5.2018). Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit wurden 2017 weiter eingeschränkt. Menschenrechtsverteidiger und unabhängige NGOs sahen sich nach wie vor mit Schikanen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert (AI 22.2.2018). Auch Journalisten und Aktivisten riskieren Opfer von Gewalt zu werden (FH 1.2018). Staatliche Repressalien, aber auch Selbstzensur, führten zur Einschränkung der kulturellen Rechte. Angehörige religiöser Minderheiten mussten mit Schikanen und Verfolgung rechnen. Das Recht auf ein faires Verfahren wurde häufig verletzt. Folter und andere Misshandlungen waren nach wie vor weit verbreitet. Die Arbeit unabhängiger Organe zur Überprüfung von Haftanstalten wurde weiter erschwert. Im Nordkaukasus kam es auch 2017 zu schweren Menschenrechtsverletzungen (AI 22.2.2018).Die allgemeine Menschenrechtslage in Russland ist weiterhin durch nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte sowie einer unabhängigen Zivilgesellschaft gekennzeichnet. Der Freiraum für die russische Zivilgesellschaft ist in den letzten Jahren schrittweise eingeschränkt worden. Sowohl im Bereich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit als auch in der Pressefreiheit wurden restriktive Gesetze verabschiedet, die einen negativen Einfluss auf die Entwicklung einer freien und unabhängigen Zivilgesellschaft ausüben. Inländische wie ausländische NGOs werden zunehmend unter Druck gesetzt. Rechte von Minderheiten werden nach wie vor nicht in vollem Umfang garantiert. Journalisten und Menschenrechtsverteidiger werden durch administrative Hürden in ihrer Arbeit eingeschränkt und erfahren in manchen Fällen sogar reale Bedrohungen für Leib und Leben (ÖB Moskau 12.2017, vgl. FH 1.2018, AA 21.5.2018). Im Zuge der illegalen Annexion der Krim im März 2014 und der Krise in der Ostukraine wurde die Gesellschaft v.a. durch staatliche Propaganda nicht nur gegen den Westen mobilisiert, sondern auch gegen die sog. „fünfte Kolonne“ innerhalb Russlands. Der Menschenrechtsdialog der EU mit Russland ist derzeit aufgrund prozeduraler Unstimmigkeiten ausgesetzt. Laut einer Umfrage zum Stand der Menschenrechte in Russland durch das Meinungsforschungsinstitut FOM glauben 42% der Befragten nicht, dass die Menschenrechte in Russland eingehalten werden, während 36% der Meinung sind, dass sie sehr wohl eingehalten werden. Die Umfrage ergab, dass die russische Bevölkerung v.a. auf folgende Rechte Wert legt: Recht auf freie medizinische Versorgung (74%), Recht auf Arbeit und gerechte Bezahlung (54%), Recht auf kostenlose Ausbildung (53%), Recht auf Sozialleistungen (43%), Recht auf Eigentum (31%), Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (31%), Recht auf eine gesunde Umwelt (19%), Recht auf Privatsphäre (16%), Rede- und Meinungsfreiheit (16%). Der Jahresbericht der föderalen Menschenrechtsbeauftragten Tatjana Moskalkowa für das Jahr 2017 bestätigt die Tendenz der russischen Bevölkerung zur Priorisierung der sozialen vor den politischen Rechten. Unter Druck steht auch die Freiheit der Kunst, wie etwa die jüngsten Kontroversen um zeitgenössisch inszenierte Produktionen von Film, Ballett und Theater zeigen (ÖB Moskau 12.2017).Menschenrechtsorganisationen sehen übereinstimmend bestimmte Teile des Nordkaukasus als den regionalen Schwerpunkt der Menschenrechtsverletzungen in Russland. Hintergrund sind die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und islamistischen Extremisten in der Republik Dagestan, daneben auch in Tschetschenien, Inguschetien und Kabardino-Balkarien. Der westliche Nordkaukasus ist hiervon praktisch nicht mehr betroffen. (AA 21.5.2018). Auch 2017 wurden aus dem Nordkaukasus schwere Menschenrechtsverletzungen gemeldet, wie Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und andere Misshandlungen von Häftlingen sowie außergerichtliche Hinrichtungen (AI 22.2.2018). Die Menschenrechtslage im Nordkaukasus wird von internationalen Experten weiterhin genau beobachtet. Im Februar 2016 führte das Komitee gegen Folter des Europarats eine Mission in die Republiken Dagestan und Kabardino-Balkarien durch. Auch Vertreter des russischen präsidentiellen Menschenrechtrats bereisten im Juni 2016 den Nordkaukasus und trafen sich mit den einzelnen Republiksoberhäuptern, wobei ein Treffen mit Ramzan Kadyrow abgesagt wurde, nachdem die tschetschenischen Behörden gegen die Teilnahme des Leiters des Komitees gegen Folter Igor Kaljapin protestiert hatten (ÖB Moskau 12.2017). Der konsultative „Rat zur Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Menschenrechte“ beim russischen Präsidenten unter dem Vorsitz von M. Fedotow übt auch öffentlich Kritik an Menschenrechtsproblemen und setzt sich für Einzelfälle ein. Der Einfluss des Rats ist allerdings begrenzt (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 8.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 8.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 8.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

9.1. Tschetschenien

NGOs beklagen weiterhin schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, wie Folter, das Verschwindenlassen von Personen, Geiselnahmen, das rechtswidrige Festhalten von Gefangenen und die Fälschung von Straftatbeständen. Entsprechende Vorwürfe werden kaum untersucht, die Verantwortlichen genießen zumeist Straflosigkeit. Besonders gefährdet sind Menschenrechtsaktivisten bzw. Journalisten. Die unabhängige Novaya Gazeta berichtete im Sommer 2017 über die angebliche außergerichtliche Tötung von über zwei Dutzend Personen zu Beginn des Jahres im Zuge von Massenfestnahmen nach dem Tod eines Polizisten. Seitens Amnesty International wurde eine umfassende Untersuchung der Vorwürfe durch die russischen Behörden gefordert. Im Herbst 2017 besuchte das Komitee gegen Folter des Europarates neuerlich Tschetschenien und konsultierte dabei auch die russische Ombudsfrau für Menschenrechte. Ihre nachfolgende Aussage gegenüber den Medien, dass das Komitee keine Bestätigung außergerichtlicher Tötungen oder Folter gefunden habe, wurde vom Komitee unter Hinweis auf die Vertraulichkeit der mit den russischen Behörden geführten Gespräche zurückgewiesen (ÖB Moskau 12.2017). Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist unzureichend. Recherchen oder Befragungen von Opfern vor Ort durch NGOs sind nicht möglich; Regimeopfer müssen mitsamt ihren Familien aus Tschetschenien herausgebracht werden. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht sowie die Diskriminierung von Frauen haben in den letzten Jahren zugenommen. Ende 2015 wurden nach Angaben von Memorial mehrere hundert Menschen aufgrund oberflächlicher „Verdachtsmerkmale“ wie zu kurzer Bärte tagelang in Behördengewahrsam genommen, ohne dass den Angehörigen hierzu Auskunft erteilt wurde (AA 21.5.2018). 2017 kam es zur gezielten Verfolgung von Homosexuellen durch staatliche Sicherheitskräfte (AA 21.5.2018, vgl. HRW 18.1.2018), wo die Betroffenen gefoltert und einige sogar getötet wurden [vgl. Kapitel 19.4. Homosexuelle] (HRW 18.1.2018).Gewaltsame Angriffe, die in den vergangenen Jahren auf Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien verübt worden waren, blieben nach wie vor straffrei. Im Januar 2017 nutzte der Sprecher des tschetschenischen Parlaments, Magomed Daudow, seinen Instagram-Account, um unverhohlen eine Drohung gegen Grigori Schwedow, den Chefredakteur des unabhängigen Nachrichtenportals Kaukasischer Knoten, auszusprechen. Im April erhielten Journalisten von Novaya Gazeta Drohungen aus Tschetschenien, nachdem sie über die dortige Kampagne gegen Schwule berichtet hatten. Auch Mitarbeiter des Radiosenders Echo Moskwy, die sich mit den Kollegen von Novaya Gazeta solidarisch erklärten, wurden bedroht. Die Tageszeitung Novaya Gazeta berichtete über die rechtswidrige Inhaftierung zahlreicher Personen seit Dezember 2016 und die heimliche Hinrichtung von mindestens 27 Gefangenen durch Sicherheitskräfte am 26. Januar 2017 in Tschetschenien (AI 22.2.2018).In den vergangenen Jahren häufen sich Berichte von Personen, die nicht aufgrund irgendwelcher politischer Aktivitäten, sondern aufgrund einfacher Kritik an der sozio-ökonomischen Lage in der Republik unter Druck geraten. So musste ein Mann, der sich im April 2016 in einem Videoaufruf an Präsident Putin über die Misswirtschaft und Korruption lokaler Beamter beschwerte, nach Dagestan flüchten, nachdem sein Haus von Unbekannten in Brand gesteckt worden war. Einen Monat später entschuldigte sich der Mann in einem regionalen Fernsehsender. Im Mai 2016 wandte sich Kadyrow in einem TV-Beitrag mit einer deutlichen Warnung vor Kritik an die in Europa lebende tschetschenische Diaspora: Diese werde für jedes ihrer Worte ihm gegenüber verantwortlich sein, man wisse, wer sie seien und wo sie leben, sie alle seien in seinen Händen, so Kadyrow. Gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax behauptete Kadyrow am 21. November 2017, dass der Terrorismus in Tschetschenien komplett besiegt sei, es gebe aber Versuche zur Rekrutierung junger Menschen, für welche er die subversive Arbeit westlicher Geheimdienste im Internet verantwortlich machte (ÖB Moskau 12.2017).Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen, darunter Memorial und Human Rights Watch, prangern die seitens der regionalen Behörden praktizierte Sippenhaft von Familienangehörigen in Tschetschenien an. Im Fall des Menschenrechtsaktivisten und Leiter des Memorial-Büros in Tschetschenien Ojub Titijew wurde seitens Memorial bekannt, dass Familienangehörige Tschetschenien verlassen mussten (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 8.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 8.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

9.2. Dagestan

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. Mit der Bekämpfung des islamistischen Untergrunds gehen zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch lokale und föderale Sicherheitsbehörden einher, darunter Entführungen und spurloses Verschwinden. Von dem Vorgehen der Sicherheitsbehörden wegen Verdachts auf Extremismus sind nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch NGOs im sozialen/humanitären Bereich betroffen. Die Menschenrechtslage gilt in Dagestan jedoch grundsätzlich als besser als im benachbarten Tschetschenien. Im Gegensatz zu Tschetschenien können NGOs in Dagestan tätig werden, sich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen treffen, vor Ort recherchieren und sogar Verfahren gegen Mitglieder der Sicherheitskräfte wegen Foltervorwürfen anstrengen. Die NGO „Komitee zur Verhinderung von Folter“ arbeitet mit den Sicherheitsbehörden in Dagestan i.S. Strafvollzug zusammen (AA 21.5.2018).Den russischen Sicherheitskräften werden schwere Menschenrechtsverletzungen bei der Durchführung der Anti-Terror-Operationen in Dagestan vorgeworfen. Diese reichen von der internen Vertreibung von Personen, der Zerstörung von Häusern von Zivilisten, über exzessive Gewaltanwendung bis hin zu Folter und dem Verschwindenlassen von Personen. Das teils brutale Vorgehen der Sicherheitsdienste gekoppelt mit der noch immer instabilen sozialwirtschaftlichen Lage in Dagestan schafft wiederum weiteren Nährboden für die Radikalisierung innerhalb der dortigen Bevölkerung. So werden von den Sicherheitskräften mitunter auch Imame verhaftet, die dem Salafismus anhängen sollen. Aus der Perspektive der Sicherheitsdienste sollen ihre Moscheen als Rekrutierungsstätten für IS-Anhänger dienen, für einen Teil der muslimischen Bevölkerung stellen diese Maßnahmen jedoch ungebührliche Schikanen dar (ÖB Moskau 12.2017). Während der Vorjahresbericht von Human Rights Watch in Bezug auf Salafisten festhielt, dass die Polizei Salafisten auf spezielle Beobachtungslisten setzte, sie wiederholt einsperrte und sie ohne speziellen Grund befragte (HRW 12.1.2017), wird im aktuellen HRW-Bericht erwähnt, dass die Behörden verlautbart haben, dass keine Salafisten mehr auf polizeiliche Beobachtungslisten gesetzt werden. Die Verfolgung von salafistischen Muslimen, einschließlich willkürlicher Verhaftungen und Einschüchterungen, dauern jedoch an (HRW 18.1.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/334746/476500_de.html#_blank , Zugriff 8.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 8.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

10. Religionsfreiheit

Art. 28 der Verfassung garantiert Gewissens- und Glaubensfreiheit. Christentum, Islam, Buddhismus und Judentum haben dabei eine herausgehobene Stellung. Art. 14 der Verfassung schreibt die Trennung von Staat und Kirche fest. Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) erhebt Anspruch auf einen Vorrang unter den Religionsgemeinschaften und auf „Symphonie“ mit der Staatsführung. Sie propagiert ihren Wertekanon als Basis einer neuen „nationalen Idee“. Faktisch wird sie vom Staat bevorzugt behandelt. Der Islam ist eine der traditionellen Hauptreligionen Russlands. In der Russischen Föderation leben rund 20 Millionen Muslime. Der Islam in Russland ist grundsätzlich von Toleranz gegenüber anderen Religionen geprägt. Radikalere, aus dem Nahen und Mittleren Osten beeinflusste Gruppen stehen insbesondere im Nordkaukasus unter scharfer Beobachtung der Behörden (AA 21.5.2018). Auch andere Religionsgemeinschaften können in Russland legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen. Seit Ende der Achtziger Jahre hat der Anteil der Gläubigen im Zuge einer „religiösen Renaissance“ bedeutend zugenommen. Allerdings bezeichnen sich laut Meinungsumfragen rund 50% der Bevölkerung als ungläubig. Zwar gibt es in Russland einen hohen Grad der Wertschätzung von Kirche und Religiosität, dies bedeutet aber nicht, dass die Menschen ihr Leben nach kirchlichen Vorschriften führen. Offizielle Statistiken zur Zahl der Gläubigen verschiedener Konfessionen gibt es nicht, und die Zahlen in den meisten Quellen unterscheiden sich erheblich. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängigkeit der Russischen Föderation ist sie zu einer äußerst gewichtigen gesellschaftlichen Einrichtung geworden. Die Verluste an Gläubigen und Einrichtungen, die sie in der Sowjetzeit erlitt, konnte sie zu einem großen Teil wieder ausgleichen. Die ROK hat ein besonderes Verhältnis zum russischen Staat, z.B. ist der Patriarch bei wichtigen staatlichen Anlässen stets anwesend. Die ROK versteht sich als multinationale Kirche, die über ein „kanonisches Territorium“ verfügt. Es erstreckt sich über die GUS-Staaten mit der Ausnahme von Armenien, wo es eine eigene orthodoxe Kirche gibt. Über die Zahl der Angehörigen der ROK gibt es nur Schätzungen, die zwischen 50 und 135 Millionen Gläubigen schwanken. Wer heute in Russland seine Zugehörigkeit zur orthodoxen Kirche herausstellt, macht damit deutlich, dass er zur russischen Tradition steht. Das Wiedererwachen des religiösen Lebens in Russland gibt regelmäßig Anlass zu Diskussionen um die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat. Bei den traditionell religiös orientierten ethnischen Minderheiten Russlands findet man Anhänger des Islam und des Buddhismus, des Schamanismus und Judaismus, des protestantischen und katholischen Glaubens. Der Islam ist die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in Russland. Die Muslime sind in der Regel Baschkiren, Tataren, Tschuwaschen, Tschetschenen und Angehörige anderer Kaukasusvölker. Sie werden durch die Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Europäischen Teils Russlands und Sibiriens sowie die Geistliche Verwaltung der Muslime (Muftirat) des Nordkaukasus vertreten. Die Zahl der russischen Muslime wird offiziell mit 14,5 Millionen angegeben. Die Vertreter der islamischen Gemeinde sprechen von mehr als 20 Millionen Mitgliedern. Alle anderen Religionen, wie Buddhismus (ca. 600.000 Gläubige) - zu dem sich Burjaten, Kalmyken, Tuwa und andere Bevölkerungsgruppen in den Gebieten Irkutsk und Tschita bekennen - und Judentum (ca. 200.000 Gläubige), haben nur geringe Bedeutung. Von den christlichen Kirchen sind die katholische Kirche, die evangelisch-lutherische Kirche sowie eine Reihe von Freikirchen (vor allem Baptisten) in Russland vertreten. Sie sind im europäischen Russland und in Sibirien präsent (GIZ 7.2018c, vgl. SWP 4.2013). Bestimmte religiöse Gruppen wie die Zeugen Jehovas, Scientology oder Falun Gong sind aufgrund ihres Glaubens zur Zielscheibe der russischen Behörden geworden. Auch hier stützt man sich vor allem auf das Extremismusgesetz [das sogenannte Yarovaya-Gesetz] (ÖB Moskau 12.2017). Im Zuge dieser Extremismusgesetzgebung wurden unter anderem auch private religiöse Reden kriminalisierten (USCIRF 4.2018) und es wird benutzt, um religiöse Gruppen zu unterdrücken und wegen Extremismus zu bekämpfen (FH 1.2018). Die NGO Sova sieht als Hauptgründe der exzessiven Implementierung des Gesetzes einerseits die schlechte Schulung von Polizeibeamten, andererseits den Missbrauch der Rechtsvorschrift zum Vorgehen gegen oppositionelle bzw. unabhängige Aktivisten (ÖB Moskau 12.2017). Seit Juli 2016 wurden über 100 religiöse Aktivisten mit Bußgeldern belegt, weil sie entweder ohne Genehmigung gepredigt hatten, oder religiöse Literatur ohne Anführen des Namen des Vertreibers verteilten (HRW 18.1.2018). Besonders Muslime, die in Verdacht stehen, extremistisch zu sein, sind von strengen Strafen betroffen (USCIRF 4.2018), aber auch moderate muslimische Organisationen sehen sich stärkeren Kontrollen ausgesetzt. Im Jahr 2015 wurde in der Staatsduma ein Gesetz angenommen, der die Kontrolle des Justizministeriums über die Finanzflüsse religiöser Organisationen erhöhen soll. Gruppen, die aus dem Ausland Gelder oder sonstige Vermögenswerte erhalten, werden in Zukunft den Behörden mehr Informationen vorlegen müssen. Im Zuge der Verschärfung der anti-extremistischen Gesetzgebung im Juni 2016 wurden auch die Auflagen für Missionstätigkeiten außerhalb religiöser Institutionen präzisiert (ÖB Moskau 12.2017).Am 20.4.2017 billigte das Oberste Gericht Russlands einen Antrag des Justizministeriums, in dem die russische Zentrale der Zeugen Jehovas als extremistische Gruppe eingestuft wurde, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit bedrohe. Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände des Landes betroffen. Ihr Besitz wird beschlagnahmt. Die Zeugen Jehovas können somit für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden (AA 21.5.2018, vgl. AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 21.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 21.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 21.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 21.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2013): Muslime in der Russischen Föderation, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2013A24_hlb.pdf , Zugriff 21.8.2018

- USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom(4.2018): 2018 Annual Report., Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1435641/1226_1529394241_tier1-russia.pdf , Zugriff 21.8.2018

10.1. Tschetschenien

Die Bevölkerung gehört der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an, wobei traditionell eine mystische Form des Islam, der Sufismus, vorherrschend ist (BAMF 10.2013). Beim Sufismus handelt es sich um eine weit verbreitete und zudem äußerst facettenreiche Glaubenspraxis innerhalb des Islams. Heutzutage sind Sufis sowohl innerhalb des Schiitentums als auch unter Sunniten verbreitet (ÖIF 2013). In Tschetschenien setzt Ramzan Kadyrow seine eigenen Ansichten bezüglich des Islams durch. Frauen müssen sich islamisch kleiden und können in polygame Ehen gezwungen werden. Anhänger eines „nicht traditionellen“ Islams, oder Personen mit Verbindungen zu Aufständischen können Opfer von Verschwindenlassen durch die Sicherheitskräfte werden (USCIRF 4.2018). Kadyrow nutzt den traditionellen Sufismus politisch und als Instrument seines Antiterrorkampfes, um mit dem „guten“ sufistischen Islam dem von weiten Teilen der heute in der Republik aktiven Kämpfern propagierten „schlechten“ fundamentalistischen Islam, dem oft auch Wahhabismus genannten Salafismus, entgegenzuwirken. Diese Strategie hatte bereits sein Vater unter Maschadow – relativ erfolglos – anzuwenden versucht. Diese politische Instrumentalisierung der Religion führt aus mehreren Gründen zu heftiger Kritik: Durch die kadyrowsche Islamisierung werden zunehmend Menschenrechte, insbesondere Frauenrechte, beschnitten. Innerhalb der tschetschenischen Bevölkerung empfinden viele die von Kadyrow angeordneten Verhaltensnormen als nicht gerechtfertigten (und schon gar nicht durch tschetschenische Tradition zu rechtfertigenden) Eingriff in ihr Privatleben. Einige der aufgrund der (Re-)Islamisierung erfolgten Erlässe und Aussagen des Republikoberhauptes, wie etwa die Kopftuchpflicht für Frauen in öffentlichen Gebäuden oder seine Befürwortung der Polygamie, widersprechen zudem russischem Recht. Beobachter der Lage sind sich gemeinhin einig, dass all dies von föderaler Seite geduldet wird, weil und solange es Kadyrow gelingt, die relativ stabile Sicherheitslage zu erhalten (BAA Staatendokumentation 19.5.2011).Mutmaßliche Dschihadisten werden in Tschetschenien inhaftiert, und es kann zu Folterungen und außergerichtlichen Tötungen kommen (HRW 18.1.2018).

Quellen:

- BAA Staatendokumentation (19.5.2011): Analyse zu Russland: Religion in der Republik Tschetschenien: Sufismus

- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013): Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 21.8.2018

- ÖIF Monographien (2013): Glaubensrichtungen im Islam, S. 111-113

- USCIRF – United States Commission on International Religious Freedom(4.2018): 2018 Annual Report., Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1435641/1226_1529394241_tier1-russia.pdf , Zugriff 21.8.2018

10.2. Dagestan

Die meisten Muslime Dagestans gehören dem Sufismus an, einer gemäßigt-mystischen Richtung im Islam. Sie hören auf Scheichs, religiöse Führer, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Die Scheichs treten auch als Fürsprecher der Gläubigen vor Politikern auf. Der Sufismus ist seit vielen Jahrhunderten in Dagestan zuhause. Die zweitgrößte Gruppe der Muslime in Dagestan sind die Salafisten. Diese ultrakonservative Strömung breitet sich seit den 1990er-Jahren in der Region aus. Zunächst wurden sie als Wahabiten bezeichnet. In Dagestan gibt es Schätzungen zufolge zehntausende Salafisten und sie haben ihre eigenen Moscheen. Die Salafisten wollen ein Kalifat errichten, einen Gottesstaat. Die Sufis hingegen haben sich mit dem russischen Staat arrangiert. Die Radikalen unter den Salafisten wollen das Kalifat mit Gewalt durchsetzen und kämpfen dafür. In Dagestan gibt es einen bewaffneten islamistischen Untergrund. Seit Jahren verüben die Terroristen Anschläge gegen russische Sicherheitskräfte, es gab Hunderte Todesopfer. Sie ermordeten auch mehrere geistliche Führer der Sufis, die sich offen gegen die Ideologie der Salafisten aussprachen. Viele Salafisten in Dagestan fühlen sich zu Unrecht von den Behörden verdächtigt. Sie werden immer wieder von der Polizei festgehalten, müssen stundenlang Fragen beantworten, Speichel- und Blutproben abgeben. Salafisten werden oft mit den Terror-Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates gleichgesetzt (Deutschlandfunk 28.6.2017). In Republiken wie Inguschetien und Dagestan wurde versucht, einen Dialog zwischen Regierung und offizieller Geistlichkeit auf der einen Seite und islamistischer Opposition auf der Gegenseite zu führen. Derzeit befindet sich die Regierung in Dagestan aber wieder in Konfrontation mit salafistischen Gemeinden. Der „Krieg gegen Wahhabiten“, der dort schon 1999 ausgerufen worden war, hat allerdings dazu geführt, dass immer mehr junge Leute sich zu einem puristischen, streng konservativen Islam bekennen. Im Jahr 2011 ordneten sich bei Umfragen 20% der jungen Dagestaner einem moderaten Salafismus zu (SWP 4.2017). Während in der Vergangenheit sehr viele junge Männer auf eine „Wahabiten-Liste“ gesetzt wurden (SWP 4.2017), haben die Behörden im Juni 2017 verlautbart, dass keine Anhänger vom „nicht-traditionellen Islam“ auf Polizeilisten gesetzt werden. Trotzdem geht die Verfolgung von salafistischen Muslimen weiter (HRW 18.1.2018).

Quellen:

- Deutschlandfunk (28.6.2017): Salafisten contra Sufis, https://www.deutschlandfunk.de/die-religioese-landschaft-dagestans-salafisten-contra-sufis.886.de.html?dram:article_id=389688 , Zugriff 27.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 27.8.2018

- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf , Zugriff 27.8.2018

11. Ethnische Minderheiten

Russland ist ein multinationaler Staat, in dem Vertreter von mehr als hundert Völkern leben. Die Russen stellen mit 79,8% die Mehrheit der Bevölkerung. Größere Minderheiten sind die Tataren (4,0%), die Ukrainer (2,2%), die Armenier (1,9%), die Tschuwaschen (1,5%), die Baschkiren (1,4%), die Tschetschenen (0,9%), die Deutschen (0,8%), die Weißrussen und Mordwinen (je 0,6%), Burjaten (0,3%) und andere. Vielfach ist die Verflechtung zwischen den nichtrussischen und russischen Bevölkerungsteilen durch gemischte Ehen und interethnische Kommunikation recht hoch, ebenso der Russifizierungsgrad der nichtrussischen Bevölkerungsteile. Nur wenige nationale Gebietseinheiten, wie Tschetschenien, Dagestan, Tschuwaschien und Tuwa, sind stärker vom namensgebenden Ethnos geprägt. Russisch ist die einzige überall geltende Amtssprache. Parallel dazu wird in den einzelnen autonomen Republiken die jeweilige Volkssprache als zweite Amtssprache verwendet (GIZ 7.2018c).Die Verfassung garantiert gleiche Rechte und Freiheiten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität, Sprache und Herkunft. Entsprechend bemüht sich die Zentralregierung zumindest in programmatischen Äußerungen um eine ausgleichende Nationalitäten- und Minderheitenpolitik, inklusive der Förderung von Minderheitensprachen im Bildungssystem. Fremdenfeindliche und rassistische Ressentiments sind in der Bevölkerung und in den Behörden weit verbreitet. Sie richten sich insbesondere gegen Kaukasier und Zentralasiaten. Die Menschenrechtsorganisation Sova verzeichnete für Januar – Oktober 2016 fünf Tote und 47 Verletzte aufgrund rassistisch motivierter Gewalttaten (AA 21.5.2018).Im Nordkaukasus ist die ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt beeindruckend groß. Deshalb, sowie hinsichtlich der räumlichen Gliederung und der politischen, kulturellen und religiösen Geschichte seiner Volksgruppen stellt der Nordkaukasus die ethnisch am stärksten differenzierte Region der Russischen Föderation dar. Gerne wird sie als „ethnischer Flickenteppich“ bezeichnet (Rüdisser 11.2012).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 24.8.2018

- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds

12. Relevante Bevölkerungsgruppen

12.1. Frauen

Artikel 19 der russischen Verfassung garantiert die Gleichstellung von Mann und Frau. Zudem hat die Russische Föderation mehrere internationale und regionale Konventionen ratifiziert, die diese Gleichstellung festschreiben, darunter die Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und ihr Zusatzprotokoll. Grundsätzlich gibt es in der Russischen Föderation keine systematische Diskriminierung von Frauen. Im Rahmen der 62. Sitzung der CEDAW von Oktober-November 2015 wurde der rezente Staatenreport der Russischen Föderation diskutiert. In seinen Schlussbemerkungen begrüßte das Komitee die Fortschritte im russischen Rechtssystem zum Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen, insbesondere in den Bereichen Arbeitsrecht und Schutz für Schwangere. Folgende Empfehlungen wurden an die russische Regierung gerichtet: Verabschiedung eines umfassenden Anti-Diskriminierungsgesetzes, Verbesserungen beim Zugang von Frauen zu rechtlichen Beschwerdemechanismen, die Ausarbeitung eines nationalen Aktionsplans gegen Menschenschmuggel, die Stärkung der Teilnahme von Frauen am politischen und öffentlichen Leben (z.B. durch Einführung von Quotenregelungen für Frauen in der Staatsduma, dem Föderationsrat, den Ministerien oder dem diplomatischen Dienst), die Einführung eines alters- und genderspezifischen Sexualkundeunterrichts in Grund- und Mittelschulen, die Bekämpfung von Diskriminierung am Arbeitsplatz (z.B. durch Überarbeitung der Liste von Berufsverboten für Frauen in rund 450 Berufen) und die Verbesserung des Zugangs zu qualitativer Gesundheitsversorgung für Frauen in ländlichen Gebieten (ÖB Moskau 12.2017). Ein ernstes Problem, das von Politik und Gesellschaft weitgehend ausgeblendet wird, stellt die häusliche Gewalt dar (ÖB Moskau 12.2017, vgl. FH 1.2018). Ein Großteil der Unterstützung und Betreuung von Opfern häuslicher Gewalt wird durch gesellschaftliche Organisationen und Privatinitiativen übernommen. Im Nationalen Netzwerk gegen Gewalt sind über 150 regionale und lokale NGOs aktiv. Laut dem Nationalen Zentrum zur Vorbeugung von Gewalt ANNA wird jede dritte russische Frau im Laufe ihres Lebens Opfer von physischen Übergriffen von Seiten eines Mannes (ÖB Moskau 12.2017). Jährlich sterben in Russland ca. 14.000 Frauen aufgrund von Gewaltanwendung von Seiten ihrer Ehemänner oder Lebenspartner (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018), fast zwei Drittel aller Morde sind auf häusliche Motive zurückzuführen (ÖB Moskau 12.2017). Das Innenministerium spricht von 10.000 solchen Fällen im Jahr 2016. Die Polizei bleibt oft passiv und geht z.B. Anzeigen nicht mit genügendem Nachdruck oder zuweilen gar nicht nach (AA 21.5.2018). Laut Statistiken der Organisation ANNA wenden sich 60% der Frauen, die die nationale Hotline für Opfer von häuslicher Gewalt anrufen, nicht an die Polizei. 76% jener Frauen, die bei der Polizei um Unterstützung suchen, sind damit unzufrieden. Trotz der weiten Verbreitung des Problems gibt es grobe Mängel bei der Bewusstseinsbildung darüber, auch innerhalb der politischen Elite. Auch das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zeigte sich bei der letzten Diskussion zur Russischen Föderation im Herbst 2015 besorgt über die weite Verbreitung von Gewalt gegen Frauen sowie die unverlässlichen offiziellen Daten dazu. Ein vom Arbeits- und Sozialministerium gemeinsam mit Frauenrechtsorganisationen ausgearbeiteter Gesetzesentwurf zur Vorbeugung häuslicher Gewalt, der insbesondere der Polizei mehr Verpflichtungen zum Kampf gegen häusliche Gewalt auferlegt und einen besseren Opferschutz vorschreibt, wurde von der Duma Ende 2016 abgelehnt (ÖB Moskau 12.2017). Mit einer Gesetzesnovelle wurde häusliche Gewalt im Juli 2016 unter Strafe gestellt. Allerdings wurden diese Änderungen von der Vorsitzenden des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder kritisiert. Sie seien übertrieben und richteten sich gegen die familiären Werte. Die orthodoxe Kirche erklärte, dass körperliche Züchtigung ein gottgegebenes Recht sei, sofern sie im vernünftigen Maße und mit Liebe durchgeführt werde (AA 21.5.2018). Im Februar 2017 unterzeichnete Präsident Putin ein Gesetz, das Gewalttätigkeiten entkriminalisierte, die nur Schmerzen und keine bleibenden physischen Schäden verursachen (FH 1.2018, vgl. HRW 18.1.2018, AI 22.2.2018), oder die nicht öfter als einmal im Jahr vorkommen (HRW 18.1.2018). Die Neuregelung führte dazu, dass in einigen Regionen die Zahl gewaltsamer Übergriffe gegen Frauen zunahm (AI 22.2.2018).Frauen stellen in Russland traditionell die Mehrheit der Bevölkerung. Der weibliche Bevölkerungsanteil beträgt seit den 1920er Jahren zwischen 53% und 55% der Gesamtbevölkerung. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist in der Verfassung garantiert. Durch die Transformationsprozesse und den Übergang zur Marktwirtschaft sind die Frauen in besonderer Weise betroffen. Davon zeugt der erhebliche Rückgang der Geburtenrate. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen von Frauen betreffen auch den Arbeitsmarkt, denn das Risiko von Ausfallzeiten durch Schwangerschaft, Erziehungsurlaub und Pflege von Angehörigen führt oft dazu, dass Frauen trotz besserer Ausbildung seltener als Männer eingestellt werden. Das im Durchschnitt deutlich geringere Einkommen von Frauen bedeutet niedrigere Pensionen für ältere Frauen, die damit ein hohes Risiko der Altersarmut tragen. Die politische Sphäre in Russland ist von Männern dominiert (GIZ 7.2018c). Frauen sind in Politik und Regierung unterrepräsentiert. Sie halten weniger als ein Fünftel der Sitze in der Duma und im Föderationsrat. Nur drei von 32 Kabinettsmitgliedern sind Frauen (FH 1.2018).Vergewaltigung ist illegal und das Gesetz sieht dieselbe Strafe für einen Täter vor, egal ob er aus der Familie stammt oder nicht. Das Strafmaß für Vergewaltigung sind drei bis sechs Jahre Haft für einen Einzeltäter mit zusätzlicher Haft bei erschwerenden Umständen. Während medizinische Angestellte Opfer von Übergriffen unterstützen und helfen, Fälle von Körperverletzung oder Vergewaltigung zu identifizieren, sind Ärzte oft nachlässig als Zeugen vor Gericht aufzutreten. Laut NGOs würden Exekutivbeamte und Staatsanwälte Vergewaltigung durch Ehemänner bzw. durch Bekannte keine Priorität einräumen (US DOS 20.4.2018). NGOs berichten außerdem, dass lokale Polizisten sich weigern würden, auf Anrufe in Bezug auf Vergewaltigung und häusliche Gewalt zu reagieren, solange das Opfer nicht unter Lebensbedrohung steht (US DOS 20.4.2018, vgl. EASO 3.2017).In einem Bericht der kanadischen COI-Abteilung findet sich der Hinweis, dass Amnesty International und ANNA [National Centre for the Prevention of Violence] 2013 von 23 Unterkünften für Opfer von häuslicher Gewalt in Russland berichten. RFE/RL berichtet sogar über 40 solcher Unterkünfte. Diese 23 Unterkünfte sind kleine Abteilungen der über 3.000 kleinen, staatlich unterstützten Sozialzentren in ganz Russland. Einige dieser Sozialzentren bieten Unterstützung in Notsituationen für Opfer von häuslicher Gewalt, wie z.B. temporäre Unterkunft. Frauen können dort bis zu sechs Monate bleiben, aber nicht alle Unterkünfte erlauben Kinder über 14 Jahre. Eine Registrierung in der Region scheint notwendig. Es gibt in vielen Regionen in ganz Russland ca. 140 staatliche Unterkünfte, einige nehmen Opfer von häuslicher Gewalt auf, auch wenn nur ein geringer Anteil des Personals dafür ausgebildet ist. Diese Unterkünfte dürften höchstens jeweils zwölf Betten haben. Dies sind Kurzzeitunterkünfte für ein bis sechs Monate. Diese staatlichen Unterkünfte sind für Frauen, die eine Krise erleben oder sich in einer schwierigen Lebenslage befinden. Frauen können für einige Zeit dorthin, damit ihnen geholfen wird, z.B. um gewalttätigen Beziehungen oder Obdachlosigkeit zu entkommen. Normalerweise ist das Ziel der Sozialarbeiter aber die Familie wieder zu vereinen. Keine dieser Unterkünfte ist speziell für Opfer von häuslicher Gewalt, aber manche erkennen häusliche Gewalt als Krisensituation an, andere nicht. In Moskau gibt es eine Unterkunft für Opfer von häuslicher Gewalt – laut Amnesty International – mit Platz für ca. zwölf Frauen. Reuters gibt an, dass es dreißig Betten gibt. Die Moskauer Unterkunft heißt „Nadeschda“ und unterstützte im Jahr 2012 500 Personen, unter anderem mit Psychotherapie. Hier dürfen Frauen bis zu zwei Monate bleiben. Eine Registrierung in Moskau ist notwendig. Es gibt auch eine öffentliche Unterkunft in Khimki, einem Vorort von Moskau. Auch hier ist eine Registrierung in Khimki notwendig. St. Petersburg hat ein regionales und sechs kommunale Unterkünfte mit insgesamt 85 Betten. Häusliche Gewalt ist hier als schwierige Lebenssituation anerkannt, jedoch ist es möglich, dass einige Mitarbeiter auf Aussöhnung fokussieren und/oder die Frauen für die Gewalt verantwortlich machen. Laut ANNA gibt es drei Unterkünfte für Opfer von häuslicher Gewalt in St. Petersburg. Andere kommunale oder staatliche Unterkünfte für Frauen in Krisen befinden sich in Murmansk (7 Betten), Petrozavodsk (7 Betten); Syvtyvkar, in Komi (9 Betten) und Sorgvala (5 Betten). Es ist aber unklar, wie diese Unterkünfte häusliche Gewalt einstufen. Zusätzlich zu den Unterkünften in Moskau, St. Petersburg und Khimki gibt es Unterkünfte für häusliche Gewalt in Izhevsk, Yekaterinburg, Tomsk, Tyumen, Perm, Petrozavodsk, Murmansk, Saratov, Tula, Krasnodar, Arkhangelsk, Vologda, Chelyabinsk, Vladivostok, Khabarovsk, und zwei Unterkünfte in Barnaul (IRB 15.11.2013) [es konnten keine aktuelleren Informationen gefunden werden].

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html , Zugriff 27.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf , Zugriff 27.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 27.8.2018

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 27.8.2018

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 27.8.2018

- IRB – Immigration and Refugee Board of Canada (15.11.2013): Russia: Domestic violence; recourse and protection available to victims of domestic violence; support services and availability of shelters (2010-2013), http://www.refworld.org/docid/52a83c964.html , Zugriff 27.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 27.8.2018

12.2. Frauen im Nordkaukasus insbesondere in Tschetschenien

Die Situation von Frauen im Nordkaukasus unterscheidet sich zum Teil von der in anderen Regionen Russlands. Fälle von Ehrenmorden, häuslicher Gewalt, Entführungen und Zwangsverheiratungen sind laut NGOs nach wie vor ein Problem in Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018) aber auch in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan. Verlässliche Statistiken dazu gibt es kaum. Die Gewalt gegen Frauen bleibt in der Region ein Thema, dem von Seiten der Regional- und Zentralbehörden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Erschwert wird die Situation durch die Ko-Existenz dreier Rechtssysteme in der Region – dem russischen Recht, Gewohnheitsrecht („Adat“) und der Scharia. Gerichtsentscheidungen werden häufig nicht umgesetzt, lokale Behörden richten sich mehr nach „Traditionen“ als nach den russischen Rechtsvorschriften. Insbesondere der Fokus auf traditionelle Werte und Moralvorstellungen, die in der Republik Tschetschenien unter Ramzan Kadyrow propagiert werden, schränkt die Rolle der Frau in der Gesellschaft ein. Das Komitee zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau sprach im Rahmen seiner Empfehlungen an die Russische Föderation in diesem Zusammenhang von einer „Kultur des Schweigens und der Straflosigkeit“ (ÖB Moskau 12.2017). Die Heirat einer 17-Jährigen Tschetschenin mit einem 47-jährigen örtlichen Polizeichef im Frühjahr 2015 gilt als Beispiel für die verbreitete Praxis von Zwangsehen. Außerdem weist sie auf eine Form der Polygamie hin, die zwar offiziell nicht zulässig, aber durch die Parallelität von staatlich anerkannter und inoffizieller islamischer Ehe faktisch möglich ist (AA 21.5.2018).Unter sowjetischer Herrschaft waren tschetschenische Frauen durch die russische Gesetzgebung geschützt. Polygamie, Brautentführungen und Ehrenmorde wurden bestraft. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich der Schutz durch russisches Recht für Frauen allmählich auf, und gleichzeitig kam es zu einem stärkeren Einfluss von Adat und Scharia. Unter Kadyrow ist die tschetschenische Gesellschaft traditioneller geworden. Die Behandlung von Frauen, wie sie heute existiert, soll aber nie eine Tradition in Tschetschenien gewesen sein. Frauen sind sowohl unter islamischem Recht als auch im Adat hoch geschätzt. Allerdings ist die Realität in Tschetschenien, dass Gewalt gegen Frauen weit verbreitet und die Situation im Allgemeinen für Frauen schwierig ist. Auch die Religion ist ein Rückschlag für die Frauen und stellt sie in eine den Männern untergeordnete Position. Diese Entwicklungen erfolgten in den letzten Jahren. Es ist nicht klar, ob Scharia oder Adat wichtiger für die tschetschenische Gesellschaft sind. Jedoch könne nur das Russische Recht Frauen effektiv schützen. Es wird auch berichtet, dass die Scharia immer wichtiger wird, und auch Kadyrow selbst – obwohl er sowohl Adat, als auch Scharia betont – sich in letzter Zeit eher auf die Scharia bezieht. Adat dürfte aber besonders bei Hochzeitstraditionen eine dominante Rolle spielen (EASO 9.2014). Gleichberechtigung ist in den islamisch geprägten Republiken ein kaum diskutiertes Thema. Frauenrechtsorganisationen engagieren sich, um dies zu ändern. Doch es fehlt die Unterstützung durch Behörden. Die traditionellen kaukasischen Werte und Normen würden dennoch dazu führen, dass Frauenrechte im Nordkaukasus öfter verletzt würden als in anderen Regionen Russlands. Für Dagestan, Tschetschenien und Inguschetien sind starke Traditionen durchaus charakteristisch. Weitaus weniger ausgeprägt sind sie in Nordossetien, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien. Andererseits übt auch die Religion ihren Einfluss aus, denn die Rechte der Frau im Islam sind anders definiert als die Frauenrechte in der russischen Verfassung. Frauen in Tschetschenien wird beispielsweise vorgeschrieben, wie sie sich zu kleiden haben. Seit 2008 dürfen sie Ämter und Bildungseinrichtungen nur betreten, wenn sie einen langen Rock tragen und Arme und Haar bedeckt sind. Nichtregierungsorganisationen versuchen die Lage zu verbessern. 2015 sollen in Tschetschenien sechs oder sieben Frauenrechtsorganisationen tätig gewesen sein – so viele wie noch nie. Sie helfen dabei, Probleme zu lösen, oftmals ohne öffentliche Aufmerksamkeit, da sie nicht offen vorgehen können. Wie Umfragen zeigen, wollen tschetschenische Frauen einerseits mehr über ihre Rechte erfahren, andererseits würden sie sich aber niemals öffentlich positionieren (RBTH 22.6.2015).Vergewaltigung:

Vergewaltigung ist laut Artikel 131 des russischen Strafgesetzbuches ein Straftatbestand. Das Ausmaß von Vergewaltigungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region ist unklar, da es im Allgemeinen so gut wie keine Anzeigen gibt. Vergewaltigung in der Ehe wird nicht einmal als Vergewaltigung angesehen. Vergewaltigung ist in Tschetschenien und im gesamten Nordkaukasus weit verbreitet. Vergewaltigungen würden auch in Polizeistationen passieren. Vergewaltigung ist ein Tabuthema in Tschetschenien. Einer vergewaltigten Frau haftet ein Stigma an, und sie wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wenn die Vergewaltigung publik wird. Auch die Familie würde isoliert und stigmatisiert werden, und es ist nicht unüblich, dass die Familie eine vergewaltigte Frau wegschickt. Die vorherrschende Einstellung ist, dass eine Frau selbst schuld an einer Vergewaltigung sei. Bei Vergewaltigung von Minderjährigen gestaltet sich die Situation etwas anders. Hier wird die Minderjährige eher nicht als schuldig an der Vergewaltigung gesehen, wie es einer erwachsenen Frau passieren würde. Insofern ist die Schande für die Familie auch nicht so groß (EASO 9.2014).Muslimische Hochzeit:

Es ist in Tschetschenien üblich, auf muslimische Art – durch einen Imam – die Ehe zu schließen. Solch eine Hochzeit ist jedoch nach russischem Recht nicht legal, da sie weder vor einem Staatsbeamten geschlossen, noch registriert ist (EASO 9.2014). Nach russischem Recht wird sie erst nach der Registrierung bei der Behörde ZAGS legal, die nicht nur Eheschließungen registriert, sondern auch Geburten, Todesfälle, Adoptionen usw. (EASO 9.2014). Da die Registrierung mühsam ist und auch eine Scheidung verkompliziert, sind viele Ehen im Nordkaukasus nicht registriert. Eine Registrierung wird oft nur aus praktischen Gründen vorgenommen, beispielsweise in Verbindung mit dem ersten Kind. Der Imam kann eine muslimische Hochzeit auch ohne Anwesenheit des Bräutigams schließen, jedoch ist laut Scharia die Anwesenheit der Frau nötig (EASO 9.2014).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- EASO – European Asylum Support Office (9.2014): Bericht zu Frauen, Ehe, Scheidung und Sorgerecht in Tschetschenien (Islamisierung; häusliche Gewalt; Vergewaltigung; Brautenführung; Waisenhäuser), http://www.ecoi.net/file_upload/1830_1421055069_bz0414843den-pdf-web.pdf , Zugriff 27.8.2018

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- RBTH – Russia beyond the headlines (22.6.2015): Frauenrechte im Kaukasus: Zwangsverheiratung und Ehrenmord, https://de.rbth.com/gesellschaft/2015/06/22/frauenrechte_im_kaukasus_zwangsverheiratung_und_ehrenmord_34063 , Zugriff 27.8.2018

12.3. Scheidung und Obsorge

Fragen der Obsorge für minderjährige Kinder sind in der Russischen Föderation grundsätzlich im Familienkodex 1995 geregelt. Gemäß Art 61 haben die Eltern eines Kindes die gleichen Rechte und Pflichten in Bezug auf ihre Kinder. Die elterlichen Rechte erlöschen mit der Volljährigkeit des Kindes, also mit der Vollendung des 18. Lebensjahres. Gemäß Art 18 sind grundsätzlich die russischen Personenstandsbehörden (ZAGS) zur Durchführung von Scheidungsverfahren zuständig, in den Fällen der Art 21 bis 23 die Gerichte. Gemäß Art 21 hat eine Scheidung gerichtlich zu erfolgen, falls gemeinsame minderjährige Kinder vorhanden sind, es sei denn, der andere Ehepartner ist verschollen, geschäftsunfähig oder zu einer drei Jahre übersteigenden Freiheitsstrafe verurteilt worden. Gemäß Art. 24 Z 1 können die Ehegatten dem Gericht im Scheidungsverfahren eine Vereinbarung vorlegen, in der sie unter anderem regeln, bei welchem Elternteil die Kinder leben werden und wie hoch die Alimentationszahlungen für die Kinder sein sollen. Fehlt eine solche Vereinbarung der Eltern oder verletzt sie die Interessen der Kinder oder eines Elternteils, so ist das Gericht verpflichtet, diese Fragen zu entscheiden. Gemäß Art 66 Z 1 hat ein Elternteil, der nicht beim Kind lebt, das Recht auf Kontakt mit diesem, auf Teilnahme an der Erziehung und bei Entscheidung von Ausbildungsfragen. Gemäß Z 3 sind bei Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung die Maßnahmen des Kodex über Verwaltungsübertretungen zu setzen. Bei böswilliger Nichterfüllung der Gerichtsentscheidung kann das Gericht auf Antrag des nicht beim Kind lebenden Elternteils die Entscheidung fällen, diesem das Kind zuzusprechen, falls das im Interesse des Kindes liegt. Dabei ist dessen Meinung zu beachten. Art. 57 bestimmt generell, dass ein Kind das Recht hat, seine Meinung zu beliebigen familienrechtlichen Fragen, die seine Interessen berühren, auszudrücken und im Zuge von Gerichts- oder Verwaltungsverfahren angehört zu werden. Die Berücksichtigung der Meinung des Kindes ist verpflichtend, wenn es älter als zehn Jahre ist, es sei denn, sie widerspräche seinen Interessen. Die Nichterfüllung einer Gerichtsentscheidung über die Ausübung elterlicher Rechte (z.B. Besuchsrechte) kann eine Verwaltungsübertretung gemäß Art. 5.35 des Kodex über Verwaltungsübertretungen darstellen und Geldstrafen von 2.000.- bis 3.000.- Rubel nach sich ziehen, im Wiederholungsfall 4.000.- bis 5.000.- Rubel oder bis zu 5 Tage Verwaltungshaft. Theoretisch möglich ist auch die Durchsetzung der elterlichen Rechte mit Hilfe eines Gerichtsvollziehers. Prinzipiell wird der Gerichtsvollzieher in der Praxis zunächst das Gespräch mit beiden Elternteilen suchen, um die Gründe der Nichterfüllung des Gerichtsurteils zu ergründen. Gelingt es im Rahmen des Gesprächs nicht, die Erfüllung der Gerichtsentscheidung herbeizuführen, müsste der Gerichtsvollzieher diese theoretisch zwangsweise durchsetzen. Dies geschieht in der Praxis aber äußerst selten, weil offensichtlich ist, dass sich eine Zwangsabnahme des Kindes äußerst negativ auf dessen psychischen Zustand auswirken würde und somit nicht im Interesse des Kindes läge (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).Die Praxis in der Russischen Föderation sieht so aus, dass bei Scheidungen minderjährige Kinder zu 99% bei der Mutter bleiben (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).Obsorge in der Republik Tschetschenien

Da die Republik Tschetschenien Teil der Russischen Föderation ist, gelten die russischen Gesetze auch dort und sind anzuwenden. In der Praxis spielen neben dem positiven Recht traditionell aber auch das islamische Recht und das Adat (arab. „Gewohnheiten, Bräuche“, also das ungeschriebene Recht (Gewohnheitsrecht) eine Rolle. Ein Artikel vom 04.08.2017 mit dem Titel: „Kampf gegen Scheidungen in Tschetschenien: was die Statistik sagt“, besagt, dass im Sommer 2017 eine Kampagne zur Stärkung der Familie begonnen hat. In Tschetschenien sei es traditionell üblich, dass die Kinder nach einer Scheidung in der Familie des Vaters blieben. Nach den islamischen Traditionen müsse ein Kind in den ersten Lebensjahren von einer islamischen Mutter erzogen werden, aber diese Tradition werde in Tschetschenien derzeit nicht befolgt. Laut Statistik für 2016 gab es beispielsweise in Tschetschenien:

a) 0,9 Scheidungen pro 1.000 EW (Russland: 4,1), womit Tschetschenien in der RF an 84. und vorletzter Stelle unter den 85 russischen Föderationssubjekten lag;

b) 149 Scheidungen pro 1.000 Eheschließungen (Russland: 617), damit an 85. und letzter Stelle in der RF. 2016 wurden in Tschetschenien 1.231 Scheidungen registriert (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).Ein Artikel vom 11.12.2013 zum Problemkreis „Tschetschenische Frauen – Scheidung – Kinder“ besagt, dass man tschetschenischen Frauen nach der Scheidung den Kontakt mit den Kindern verbietet. Oft bleiben in Tschetschenien die Kinder nach der Scheidung der Eltern beim Vater. Der Ex-Mann und seine Verwandten beschränken, ungeachtet ihrer gesetzlichen Rechte, den Umgang der Mutter mit dem Kind. (...) Nach missglückten Versuchen (Anm: der Vermittlung durch einen islamischen Theologen) reichte sie eine Klage bei Gericht ein, als dessen Folge der Vater die Kinder am Vorabend der 1. Tagsatzung aus Tschetschenien wegbrachte. (…) Gemäß dem Islam werden die Kinder nach der Scheidung der Eltern bis zu einem bestimmten Alter von der Mutter erzogen, falls sie nicht nochmals geheiratet hat: Buben bis sieben Jahre, Mädchen bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Erst danach werden die Kinder dem Vater übergeben. Der Apparat des Bevollmächtigten für Menschenrechtsfragen in Tschetschenien versuche Hilfestellungen in diversen Fragen zu geben, insbesondere in Familienfragen, wenn geschiedenen Frauen der Kontakt mit ihren Kindern verwehrt wird. Die Möglichkeiten zur Hilfeleistung seien aber begrenzt und würden sich darauf beschränken, einen Anwalt zu organisieren und eine Klage einzubringen. Außerdem gebe es bei der geistlichen Führung der Muslime der tschetschenischen Republik noch die „Kommission zur Regulierung familiärer Konflikte“, deren Mitarbeiter sich bemühen würden, Konflikte friedlich zu regeln und es nicht zu Gerichtsverfahren kommen zu lassen. Das Arbeitsspektrum umfasse die ganze Bandbreite familienrechtlicher Probleme, insb. Konfliktsituationen zwischen den Eltern, die mit den Kindern zusammenhängen. Seit der Gründung im März 2012 seien 3.164 Ansuchen um Hilfeleistung an die Kommission gerichtet worden, von denen zu 2.963 Anträgen eine Entscheidung ergangen sei (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).Ein Artikel vom 10.01.2012 über die Erziehung der Kinder nach der Scheidung besagt, wenn die Eltern des Kindes zusammen leben, werden die materiellen Aufwendungen vom Vater getragen und die Kinder von der Mutter erzogen. Falls sich die Eltern scheiden lassen und die Kinder das Alter von 7-8 Jahren noch nicht erreicht haben, wird es vorgezogen, die Kinder an Frauen zu geben, vorzugsweise an die Mutter. Damit die Mutter das Recht hat, die Kinder zu erziehen, muss sie a) islamischen Glaubens, b) vernünftig (im Sinne von nicht psychisch erkrankt), c) Vertrauen erweckend (nicht sündhaft im Sinne des Islam) und darf d)nicht verheiratet sein. Falls die Mutter stirbt oder geisteskrank wird, geht das Recht der Erziehung auf die Großmutter mütterlicherseits über, danach auf die Großmutter väterlicherseits, danach auf die Schwester, schließlich auf nahe männliche Verwandte. Falls das Kind das Alter von 7-8 Jahren erreicht hat und sich die Eltern scheiden lassen, lässt man das Kind bei dem Elternteil, den das Kind wählt. Dieses Wahlrecht steht Mädchen wie Buben gleichermaßen zu. Falls das Kind keinen Vater hat, wählt es zwischen der Mutter und dem Großvater väterlicherseits. Falls ein Sohn die Mutter wählt, bleibt er nachts bei der Mutter und tagsüber beim Vater. Falls der Sohn den Vater wählt, hat dieser nicht das Recht, jenem Besuche bei der Mutter zu verbieten. Falls die Mutter den Sohn besuchen will, hat der Vater nicht das Recht, ihr das zu verbieten. Falls die Tochter den Vater wählt, hat er das Recht, ihr Besuche bei der Mutter zu verbieten, nicht jedoch, der Mutter Besuche bei der Tochter. Falls die Tochter die Mutter wählt, bleibt sie Tag und Nacht bei ihr und der Vater hat das Recht, sie zu besuchen. Falls das Kind beide wählt, entscheidet das Los. Falls das Kind keinen Elternteil wählt, kommt es zur Mutter. Wenn ein Sohn volljährig wird, trägt er für sich selbst die Verantwortung. Wenn die Tochter volljährig und verheiratet ist, muss sie beim Ehemann leben. Falls sie nicht verheiratet ist und nie verheiratet war, wählt sie, bei wem sie leben möchte. Falls sie ohne Eltern leben möchte und man ihr das nicht gestattet, muss sie einen der Beiden wählen. Falls sie keine Eltern mehr hat, geht das Recht, sich um sie zu kümmern, auf den Bruder über, danach auf den Onkel väterlicherseits. Falls sie verheiratet war, soll sie mit den Eltern leben. Falls diese geschieden sind, wählt sie einen Elternteil, aber man verpflichtet sie nicht dazu. All das ist möglich, falls es keine Befürchtung gibt, dass sie sich unsittlich benehmen könnte. Falls eine solche Befürchtung besteht, haben der Vater, Großvater, Bruder oder Onkel das Recht, ihr zu verbieten, dass sie selbständig lebt (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).Ein Artikel vom 21.04.2016 besagt, dass im Nordkaukasus Kinder nach der Scheidung immer in der Familie des Vaters blieben – selbst nach dessen Tod - und ein Gerichtsurteil nichts bedeute. Nach Meinung russischer Beamter würden die örtlichen Gerichte auch die örtlichen Traditionen bei ihren Entscheidungen beachten. Sie würden zwar oft im Sinne der Mutter entscheiden, die Entscheidung würde von den Verwandten des Vaters aber ignoriert. Nach Erfahrung tschetschenischer Gerichtsvollzieher lebten die Kinder oft bei den Verwandten des Vaters, die das Kind dem behördlichen Zugriff entziehen würden, indem der Wohnort des (nicht gemeldeten) Kindes oft gewechselt würde. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass tschetschenische Gerichte offenbar nur selten mit Familienrechts- und Obsorgefragen befasst werden und außergerichtliche Lösungswege in der Praxis eine bedeutendere Rolle spielen. Selbst wenn Frauen vor Gericht Recht bekommen, ist eine Umsetzung des Urteils oft nicht möglich (KA der ÖB Moskau 12.7.2018).In Tschetschenien wurde im Juni 2017 ein Rat von Beamten und religiösen Autoritäten eingerichtet, die geschiedene Ehepaare wieder zusammenbringen soll. Personen, die zögerten zu kooperieren, einschließlich Frauen aus gewalttätigen Ehen, wurden angeblich unter Druck gesetzt (HRW 18.1.2018).

Quellen:

- KA der ÖB Moskau (12.7.2018): Information per Email

- HRW - Human Rights Watch (18.1.2018): World Report 2018 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422501.html , Zugriff 27.8.2018

13. Bewegungsfreiheit

In der Russischen Föderation herrscht Bewegungsfreiheit sowohl innerhalb des Landes, als auch bei Auslandsreisen, ebenso bei Emigration und Repatriierung (US DOS 20.4.2018). Somit steht Tschetschenen, genauso wie allen russischen Staatsbürgern [auch Inguschen, Dagestaner etc.] das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu. Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort [temporäre Registrierung] und ihren Wohnsitz [permanente Registrierung] melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (AA 21.5.2018). Einige regionale Behörden schränken die Registrierung von vor allem ethnischen Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien ein (FH 1.2018, vgl. US DOS 20.4.2018) [bez. Registrierung vgl. Kapitel 19.1 Meldewesen].Personen aus dem Nordkaukasus können grundsätzlich problemlos in andere Teile der Russischen Föderation reisen. Sie treffen allerdings immer noch auf anti-kaukasische Stimmungen (AA 21.5.2018, vgl. ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH 2017).Bei der Einreise werden die international üblichen Pass- und Zollkontrollen durchgeführt. Personen ohne reguläre Ausweisdokumente wird in aller Regel die Einreise verweigert. Russische Staatsangehörige können grundsätzlich nicht ohne Vorlage eines russischen Reisepasses oder anerkannten Passersatzdokuments wieder in die Russische Föderation einreisen. Russische Staatsangehörige, die kein gültiges Personaldokument vorweisen können, müssen eine administrative Strafe zahlen, erhalten ein vorläufiges Personaldokument und müssen bei dem für sie zuständigen Meldeamt die Ausstellung eines neuen Inlandspasses beantragen (AA 21.5.2018).Personen, die innerhalb des Landes reisen, müssen ihre Inlandspässe zeigen, wenn sie Tickets kaufen wollen für Reisen via Luft, Schienen, Wasser und Straßen. Dies gilt nicht für Pendler (US DOS 20.4.2018, vgl. FH 1.2018). Der Inlandspass ermöglicht auch die Abholung der Pension vom Postamt, die Arbeitsaufnahme und die Eröffnung eines Bankkontos (AA 21.5.2018, vgl. FH 1.2018).Nach Angaben des Leiters der Pass- und Visa-Abteilung im tschetschenischen Innenministerium haben alle 770.000 Bewohner Tschetscheniens, die noch die alten sowjetischen Inlandspässe hatten, neue russische Inlandspässe erhalten (AA 24.1.2017).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against “Extremism" in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf , Zugriff 30.8.2018

- FH – Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html , Zugriff 22.8.2018

- US DOS – United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices for 2017 – Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430116.html , Zugriff 22.8.2018

13.1. Meldewesen

Gegen Jahresmitte 2016 wurde der Föderale Migrationsdienst (FMS), der für die Registrierung verantwortlich war, aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert (ÖB Moskau 12.2016). Die neue Behörde, die die Aufgaben des FMS übernommen hat, ist die Hauptverwaltung für Migrationsfragen (General Administration for Migration Issues – GAMI) (US DOS 3.3.2017).Laut Gesetz müssen sich Bürger der Russischen Föderation an ihrem permanentem und temporärem Wohnort registrieren (EASO 8.2018). Die Registrierung ist nichts anderes als eine Benachrichtigung für die Behörde wo eine Person wohnt und funktioniert relativ problemlos (DIS 1.2015, vgl. EASO 8.2018). Die Registrierung des Wohnsitzes erfolgt entweder in einer lokalen Niederlassung des Innenministeriums (MVD), über das Onlineportal für öffentliche Dienstleistungen „Gosuslugi“ oder per Email (nur für die temporäre Registrierung). Man kann neben einer permanenten Registrierung auch eine temporäre Registrierung haben, z.B. in einem Hotel, in einer medizinischen Einrichtung, in einem Gefängnis, in einer Wohnung etc. Natürlich gibt es auch die Möglichkeit den Hauptwohnsitz zu ändern. Hierzu muss man die permanente Registrierung innerhalb von sieben Tagen ändern. Um sich zu registrieren braucht man einen Pass, einen Antrag für die Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man berechtigt ist, sich an einer bestimmten Adresse zu registrieren, wie z.B. einen Mietvertrag. Die permanente Registrierung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt. Die Beendigung einer permanenten Registrierung muss von der jeweiligen Person veranlasst werden. Dies muss aber nicht bei den Behörden an der alten Adresse geschehen, sondern kann von der neuen Adresse beantragt werden. Auch die Beendigung wird mittels eines Stempels im Inlandspass vermerkt (EASO 8.2018).Wenn eine Person vorübergehend an einer anderen Adresse als dem Hauptwohnsitz (permanente Registrierung) wohnt, muss eine temporäre Registrierung gemacht werden, wenn der Aufenthalt länger als 90 Tagen dauert. Die Registrierung einer temporären Adresse beeinflusst die permanente Registrierung nicht. Für die temporäre Registrierung braucht man einen Pass, einen Antrag für temporäre Registrierung und ein Dokument, das zeigt, dass man zur Registrierung berechtigt ist. Nach der Registrierung bekommt man ein Dokument, das die temporäre Registrierung bestätigt. Die temporäre Registrierung endet automatisch mit dem Datum, das man bei der Registrierung angegeben hat. Eine temporäre Registrierung in Hotels, auf Camping-Plätzen und in medizinischen Einrichtungen endet automatisch, wenn die Person die Einrichtung verlässt. Wenn eine Person früher als geplant den temporären Wohnsitz verlässt, sollten die Behörden darüber in Kenntnis gesetzt werden (EASO 8.2018).Eine Registrierung ist für einen legalen Aufenthalt in der Russischen Föderation unabdingbar. Diese ermöglicht außerdem den Zugang zu Sozialhilfe und staatlich geförderten Wohnungen, zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (BAA 12 .2011, vgl. US DOS 20.4.2018). Es kann für alle Bürger der Russischen Föderation zu Problemen beim Registrierungsprozess kommen. Es ist möglich, dass Migranten aus dem Kaukasus zusätzlich kontrolliert werden (ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH 2017). In der Regel ist die Registrierung für Tschetschenen aber kein Problem, auch wenn es möglicherweise zu Diskriminierung oder korrupten Verhalten seitens der Beamten kommen kann. Im Endeffekt bekommen sie die Registrierung (DIS 1.2015, vgl. EASO 8.2018).

Quellen:

- ADC Memorial, CrimeaSOS, SOVA Center for Information and Analysis, FIDH (International Federation for Human Rights) (2017): Racism, Discrimination and Fight Against “Extremism" in Contemporary Russia and its Controlled Territories. Alternative Report on the Implementation of the UN Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination by the Russian Federation, https://www.fidh.org/IMG/pdf/cerdengen.pdf , Zugriff 30.8.2018

- BAA Staatendokumentation (12.2011): Forschungsaufenthalt der Staatendokumentation. Bericht zum Forschungsaufenthalt Russische Föderation – Republik Tschetschenien

- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 29.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 30.8.2018

- ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

- US DOS – United States Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices for 2016 – Russia, http://www.ecoi.net/local_link/337201/479965_de.html , Zugriff 22.8.2017

13.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens

Die Bevölkerung Tschetscheniens schrumpft seit einigen Jahren, vor allem durch Abwanderung. Zwischen 2008 und 2015 haben laut offiziellen Zahlen 150.000 Tschetschenen die Republik verlassen. Sie ziehen sowohl in andere Regionen in der Russischen Föderation als auch ins Ausland. Als Gründe für die Abwanderung werden ökonomische, menschenrechtliche und gesundheitliche Gründe genannt. In Tschetschenien arbeiten viele Personen im informellen Sektor und gehen daher zum Arbeiten in andere Regionen, um Geld nach Hause schicken zu können. Tschetschenen leben überall in der Russischen Föderation. Laut der letzten Volkszählung von 2010 leben die meisten Tschetschenen außerhalb Tschetscheniens z.B. in Moskau (über 14.000 Personen), in Inguschetien (knapp 19.000 Personen) in der Rostow Region (über 11.000 Personen), in Stawropol Krai (knapp 12.000 Personen), in Dagestan (über 9.000 Personen), in der Wolgograd Region (knapp 10.000 Personen) und in der Astrachan Region (über 7.000 Personen). Die Zahlen sind aber nicht sehr verlässlich, da bei der Volkszählung ein großer Teil der Bevölkerung nicht ihre Nationalität angab. Beispielsweise soll die tschetschenische Bevölkerung in der Wolgograd Region um das doppelte höher sein, als die offiziellen Zahlen belegen. Viele Tschetschenen leben dort seit 30 Jahren und sind in unterschiedlichsten Bereichen tätig. In St. Petersburg beispielsweise sollen laut Volkszählung knapp 1.500 Tschetschenen leben, aber allein während des zweiten Tschetschenienkrieges (1999-2009) kamen 10.000 Tschetschenen, um in St. Petersburg zu leben und zu arbeiten, da es in Tschetschenien einen Mangel an Arbeitsplätzen gibt. Die soziale Zusammensetzung der tschetschenischen Bevölkerung dort ist unterschiedlich, aber die meisten sprechen ihre Landessprache und halten die nationalen Traditionen hoch. Unter den Tschetschenen in St. Petersburg gibt es Geschäftsmänner, Sicherheitsbeamte, Rechtsanwälte, McDonald‘s Franchisenehmer, aber auch Ärzte, Universitätsprofessoren und Maler. Viele arbeiten im Baugewerbe und im Ölgeschäft, zumeist in mittleren Betrieben, oder besitzen ein eigenes Geschäft oder eine Firma. Tschetschenen in St. Petersburg sehen sich selbst nicht unbedingt als eine engmaschige Diaspora. Sie werden eher durch kulturelle Aktivitäten, die beispielsweise durch die offizielle Vertretung der tschetschenischen Republik oder den sogenannten „Vaynakh-Kongress“ (eine Organisation, die oft auch als „tschetschenische Diaspora“ bezeichnet wird) veranstaltet wird, zusammengebracht. Auch in Moskau ist die Zahl der Tschetschenen um einiges höher, als die offiziellen Zahlen zeigen. Gründe hierfür sind, dass viele Tschetschenen nicht an Volkszählungen teilnehmen wollen, oder auch, dass viele Tschetschenen zwar in Moskau leben, aber in Tschetschenien ihren Hauptwohnsitz registriert haben [vgl. hierzu Kapitel 19. Bewegungsfreiheit, bzw. 19.1. Meldewesen] (EASO 8.2018). Außerdem ist es schwieriger eine Registrierung in Moskau oder beispielsweise in St. Petersburg zu erlangen, als in anderen Regionen. Dies gilt aber nicht nur für Tschetschenen (DIS 8.2012). Tschetschenen in Moskau arbeiten oft in der Automobil-, Hotel-, und Restaurantbranche. Viele besitzen auch Tankstellen, oder arbeiten im Baugewerbe und im Taxigeschäft (EASO 8.2018).Die Heterogenität und Dynamik des politischen und religiösen Machtgefüges in Tschetschenien prägen die oppositionellen Strömungen in Inland sowie die Diaspora im Ausland. Überdies wirken sozio-ökonomische Motive als bedeutende ausschlaggebende Faktoren für die Migration aus dem Nordkaukasus. Trotz der Rhetorik des tschetschenischen Oberhauptes gilt dessen Machtentfaltung außerhalb der Grenzen der Teilrepublik als beschränkt, und zwar nicht nur formell im Lichte der geltenden russischen Rechtsordnung, sondern auch faktisch durch die offenkundige Konkurrenz zu den föderalen Sicherheitskräften (ÖB Moskau 12.2017). Viele Personen innerhalb der Elite, einschließlich der meisten Leiter des Sicherheitsapparates misstrauen und verachten Kadyrow (Al Jazeera 28.11.2017). Allein daraus ist zu folgern, dass die umfangreiche tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands nicht unter der unmittelbaren Kontrolle von Kadyrow steht. Wie konkrete Einzelfälle aus der Vergangenheit zeigen, können kriminelle Akte gegen explizite Regimegegner im In- und Ausland allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen werden (ÖB Moskau 12.2017). In vielen Regionen gibt es offizielle Vertretungen der tschetschenischen Republik, die kulturelle und sprachliche Programme organisieren und auch die Rechte von einzelnen Personen schützen. Es wird berichtet, dass Kadyrow in Moskau jederzeit auf 1.000 bis 2.000 bewaffnete Männer zurückgreifen und weitere 20.000 relativ einfach hinzuziehen können soll (Telegraph 24.2.2016). Auch soll es einige hundert tschetschenische Sicherheitsbeamte in Moskau geben, die illegale Aktivitäten ausüben (New York Times 17.8.2017). In Moskau soll es außerdem einen bewaffneten Trupp von ca. 30 tschetschenischen Bodyguards geben. Gegen den Anführer dieses Trupps soll es Strafverfahren wegen eines bewaffneten Vorfalls, Kidnapping und Folter gegeben haben, es wurden jedoch alle Ermittlungen eingestellt, da er Beziehungen zur Regierung haben soll (EASO 8.2018). Es scheint, als hätten die föderalen Exekutivkräfte wenig Handhabe gegen Kadyrow bzw. seine Leute (EASO 8.2018).Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen (AA 21.5.2018). Es kann sein, dass die tschetschenischen Behörden nicht auf diese offiziellen Kanäle zurückgreifen, da diese häufig lang dauern und so ein Fall muss auch schlüssig begründet sein (DIS 1.2015). Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Bewaffnete Kräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind etwa auch in Moskau präsent (AA 21.5.2018). Was die sozio-ökonomischen Grundlagen für die tschetschenische Diaspora innerhalb Russlands betrifft, ist davon auszugehen, dass die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in der Russischen Föderation trotz der vergangenen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit auch entsprechende Chancen für russische Staatsangehörige aus der eher strukturschwachen Region des Nordkaukasus bieten. Parallel dazu zeigt sich die russische Regierung bemüht, auch die wirtschaftliche Entwicklung des Nordkaukasus selbst voranzutreiben, unter anderem auch durch Ankurbelung ausländischer Investitionstätigkeit (ÖB Moskau 12.2017).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- Al Jazeera (28.11.2017): Is Chechnya's Kadyrov really 'dreaming' of quitting? https://www.aljazeera.com/indepth/opinion/chechnya-kadyrov-dreaming-quitting-171128063011120.html , Zugriff 31.8.2018

- EASO – European Asylum Support Office (8.2018): Country of Origin Information Report Russian Federation. The situation for Chechens in Russia, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/Plib/Chechens_in_RF.pdf , Zugriff 30.8.2018

- DIS – Danish Immigration Office (8.2012): Chechens in the Russian Federation – residence registration, racially motivated violence and fabricated criminal cases, https://www.nyidanmark.dk/NR/rdonlyres/01750EB0-C5B1-425C-90A7-3CE3B580EEAA/0/chechens_in_the_russian_federation.pdf , Zugriff 30.8.2018

- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 31.8.2018

- New York Times (17.8.2017): Is Chechnya Taking Over Russia? https://www.nytimes.com/2017/08/17/opinion/chechnya-ramzan-kadyrov-russia.html?ref=opinion , Zugriff 31.8.2018

- ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

- Telegraph (24.2.2016): Ramzan Kadyrov: Putin's 'sniper' in Chechnya, http://s.telegraph.co.uk/graphics/projects/Putin-Ramzan-Kadyrov-Boris-Nemtsov-Chechnya-opposition-Kremlin/index.html , Zugriff 31.8.2018

14. Grundversorgung

2016 betrug die Zahl der Erwerbstätigen in Russland ca. 75,5 Millionen, somit ungefähr 64% der Gesamtbevölkerung. Der Frauenanteil an der erwerbstätigen Bevölkerung beträgt knapp 49%. Die Arbeitslosenrate liegt bei 5,3% (WKO 4.2017), diese ist jedoch abhängig von der jeweiligen Region (IOM 2017).Russland ist einer der größten Rohstoffproduzenten der Welt und verfügt mit einem Viertel der Weltgasreserven (25,2%), circa 6,3% der Weltölreserven und den zweitgrößten Kohlereserven (19%) über bedeutende Ressourcen. Die mangelnde Diversifizierung der russischen Wirtschaft führt zu einer überproportional hohen Abhängigkeit der Wirtschaftsentwicklung von den Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas. Rohstoffe stehen für ca. 80% der Exporte und finanzieren zu rund 50% den Staatshaushalt. Die Staatsverschuldung in Russland ist mit rund 10% des BIP weiterhin vergleichsweise moderat. Sowohl hohe Gold- und Währungsreserven als auch die beiden durch Rohstoffeinnahmen gespeisten staatlichen Reservefonds stellen eine Absicherung des Landes dar. Strukturdefizite, Finanzierungsprobleme und Handelseinschränkungen durch Sanktionen seitens der USA, Kanadas, Japans und der EU bremsten das Wirtschaftswachstum. Insbesondere die rückläufigen Investitionen und die Fokussierung staatlicher Finanzhilfen auf prioritäre Bereiche verstärken diesen Trend. Das komplizierte geopolitische Umfeld und die Neuausrichtung der Industrieförderung führen dazu, dass Projekte vorerst verschoben werden. Wirtschaftlich nähert sich Russland der VR China an. Im Index of Economic Freedom nimmt Russland 2018 den 107. Platz unter 180 Ländern ein. Das schlechte Investitionsklima schlägt sich in einer niedrigen Rate ausländischer Investitionen nieder. Bürokratie, Korruption und Rechtsunsicherheit bremsen die wirtschaftliche Entwicklung aus. Seit Anfang 2014 hat die Landeswährung mehr als ein Drittel ihres Wertes im Vergleich zum Euro verloren, was unter anderem an den westlichen Sanktionen wegen der Ukraine-Krise und dem fallenden Ölpreis liegt. Durch den Währungsverfall sind die Preise für Verbraucher erheblich gestiegen, die Inflationsrate betrug Ende 2015 ca. 15%. 2015 geriet die russische Wirtschaft in eine schwere Rezession. Nach dem BIP-Rückgang um 3% 2015 und dem weiteren BIP-Rückgang um 0,2% 2016 wurde für 2017 eine Zunahme des Bruttoinlandsprodukts um ca. 2% prognostiziert (GIZ 6.2018b).Nach zwei Jahren in der Rezession ist die russische Konjunktur auf einem Pfad der langsamen Erholung. Zwar stiegen das Durchschnittseinkommen (38.040 Rubel im August 2017) und die Durchschnittsrente (12.934 RUB im August 2017). Bedingt durch die hohe Inflationsrate und die Erhöhung der kommunalen Abgaben sanken jedoch die real verfügbaren Einkommen (6% im 2016) und die Armutsrate bleibt hoch. Die soziale Lage in Russland ist weiterhin angespannt. Mehr als 15% der russischen Bevölkerung leben unterhalb der absoluten Armutsgrenze. Das per Verordnung bestimmte monatliche Existenzminimum liegt mit 10.329 Rubel (2. Quartal 2017) weit unter dem Wert, der faktisch zum Überleben notwendig ist. Auffällig ist, dass der Mindestlohn mit 7.800 Rubel sogar die Grenze des Existenzminimums unterschreitet. Lediglich 7% der Bevölkerung verfügen über ein monatliches Einkommen von mehr als 60.000 Rubel. 39% des russischen BIP entstehen in der Schattenwirtschaft. Im 1. Quartal 2017 waren bis zu 63% der Bevölkerung armutsgefährdet. Dies kann nur teilweise durch die Systeme der sozialen Absicherung aufgefangen werden. Diese Verarmungsentwicklung ist vorwiegend durch extrem niedrige Löhne verursacht. Ungünstig ist die Arbeitsmarktstruktur. Der größte Teil der Beschäftigten arbeitet im öffentlichen Dienst oder in Unternehmen, die ganz oder teilweise dem Staat gehören. Nur 26% aller Beschäftigten arbeiten in privaten Unternehmen. Ein weiteres Spezifikum der russischen Lohnpolitik ist der durchschnittliche Lohnverlust von 15-20% für Arbeitnehmer ab dem 45. Lebensjahr. Sie gelten in den Augen von Arbeitgebern aufgrund fehlender Fortbildung als unqualifiziert und werden bei den Sonderzahlungen und Lohnanpassungen nicht berücksichtigt. Dieser Effekt wird durch eine hohe Arbeitslosenquote (21%) bei den über 50-Jährigen verstärkt. Folglich müssen Arbeitnehmer bis zum 44. Lebensjahr jede Chance zum Vermögensaufbau nutzen, um sich vor Altersarmut zu schützen. Auch bei Migranten wird beim Lohn gespart. Sie verdienen öfters nur den Mindestlohn (AA 21.5.2018). Die Lage der Rentner (29,5 % der russischen Bevölkerung) ist stabil, aber prekär (Rentenniveau: 30% des letzten Einkommens). In den ersten fünf Monaten 2017 waren die Altersrenten zwar um 7,6% höher als 2016, dies war aber die kumulierte Auswirkung von inflationsausgleichenden Indexierungen und einer einmaligen Sonderzahlung von 5.000 Rubel im Jänner 2017. Durch letztere stiegen die Renten einmalig um 37,3% und das Vermögen der Rentner um 33%. Die Stärke dieses Effekts zeigt letztlich vor allem, wie niedrig das Ausgangsniveau der Renten und Ersparnisse war. Gemessen am Existenzminimum ist das durchschnittliche Niveau der Rente zwischen 2012 und Ende 2016 um 19% gesunken. Damit führen die Rentner ein Leben an der Grenze des Existenzminimums und sind stark von den Lebensmittelpreisen abhängig. Dennoch gehören die Rentner nicht zu den Verlierern der Politik. Weil die Rente die verlässlichste staatliche Transferleistung ist, sind die Rentner vielmehr ein Stabilisierungsfaktor in vielen Haushalten geworden. Statistisch ist das Armutsrisiko von Haushalten ohne Rentner dreimal höher als das von Haushalten mit Rentnern. Die spezifischen Interessen der Rentner übertragen sich damit auch auf die Familien, die sie mitfinanzieren. Verlierer der aktuellen Politik sind v.a. ältere Arbeitnehmer, Familien mit Kindern und Arbeitsmigranten. An der Höhe des Existenzminimums gemessen sank das Lohnniveau zwischen 2012 und 2016 um 54% (AA 21.5.2018).Angesichts der Geschehnisse in der Ost-Ukraine hat die EU mit VO 833/2014 und mit Beschluss 2014/512/GASP am 31.7.2014 erstmals Wirtschaftssanktion gegen Russland verhängt und mit 1.8.2014 in Kraft gesetzt. Diese wurden mehrfach, zuletzt mit Beschluss (GASP) 2018/964 bis zum 31.1.2019 verlängert (WKO 22.8.2018).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018b): Russland, Wirtschaft und Entwicklung, https://www.liportal.de/russland/wirtschaft-entwicklung/ , Zugriff 24.8.2018

- IOM – International Organisation of Migration (2017): Länderinformationsblatt Russische Föderation

- WKO – Wirtschaftskammer Österreich (22.8.2018): Aktueller Stand der Sanktionen gegen Russland und die Ukraine, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/Aktueller_Stand_der_Sanktionen_gegen_Russland_und_die_Ukrai.html , Zugriff 24.8.2018

- WKO – Wirtschaftskammer Österreich (4.2018): Länderprofil Russland, https://wko.at/statistik/laenderprofile/lp-russland.pdf , Zugriff 24.8.2018

14.1. Nordkaukasus

Die nordkaukasischen Republiken ragen unter den Föderationssubjekten Russlands durch einen überdurchschnittlichen Grad der Verarmung und der Abhängigkeit vom föderalen Haushalt hervor. Die Haushalte Dagestans, Inguschetiens und Tschetscheniens werden noch immer zu über 80% von Moskau finanziert (GIZ 7.2018a, vgl. ÖB Moskau 12.2017), obwohl die föderalen Zielprogramme für die Region mittlerweile ausgelaufen sind. Aufgrund der Transferzahlungen aus dem föderalen Budget hat sich die wirtschaftliche Situation Tschetscheniens in den letzten Jahren einigermaßen stabilisiert. Trotz der Versuche Moskaus, die sozio-ökonomische Situation im gesamten Nordkaukasus zu verbessern, ist die Region nach wie vor weitgehend von Transferzahlungen abhängig. Die Wirtschaftskrise während der vergangenen Jahre und damit einhergehenden budgetären Einsparungen stellen eine potentielle Gefahr für die Nachhaltigkeit der Subventionen an die Nordkaukasus-Republiken dar (ÖB Moskau 12.2017).Der Kreml verfolgt seit einigen Jahren einen Ansatz, der auf regionale wirtschaftliche Entwicklung setzt, und viele der Republiken im Nordkaukasus – allen voran Tschetschenien – haben durch zahlreiche Verwaltungs- und Finanzreformen heute mehr Unabhängigkeit als Anfang der 1990er Jahre jemals anzunehmen gewesen wäre. Auch der Tourismus soll in der landschaftlich attraktiven Region helfen, die Spirale aus Armut und Gewalt zu durchbrechen, wie insbesondere in der Entscheidung, die olympischen Winterspiele 2014 im unweit der Krisenregion gelegenen Sotschi auszutragen, deutlich wird. Zudem profitieren einige Teilrepubliken von Rohstoffvorkommen, und so lassen sich auch einige sichtbare Zeichen von wirtschaftlichem Aufschwung und Wiederaufbau im Nordkaukasus ausmachen. Als beispielhaft dafür steht unter anderem die tschetschenische Hauptstadt Grozny, die nach ihrer fast völligen Zerstörung heute durchaus auflebt. Die volatile Sicherheitslage und ein weit gestricktes Netzwerk aus Korruption, die zu einem wesentlichen Teil von den Geldern des russischen Zentralstaats lebt, blockieren aber eine umfassende und nachhaltige Entwicklung des Nordkaukasus. Das grundlegende Problem liegt in der russischen Strategie, den Konflikt durch die Übertragung der Verantwortung an lokale Machtpersonen mit zweifelhaftem Ruf zu entmilitarisieren. Deren Loyalität zu Moskau aber basiert fast ausschließlich auf erheblichen finanziellen Zuwendungen und dem Versprechen der russischen Behörden, angesichts massiver Verstrickungen in Strukturen organisierter Kriminalität beide Augen zuzudrücken. Ein wirksames Aufbrechen dieses Bereicherungssystems jedoch würde wiederum die relative Stabilität gefährden. Nachhaltige Entwicklungsfortschritte bleiben deshalb bislang weitgehend aus, und insbesondere die hohe regionale Arbeitslosigkeit bildet einen Nährboden für neue Radikalisierung (Zenithonline 10.2.2014).Die Arbeitslosenquote betrug laut offiziellen Statistiken der Republik im ersten Quartal 2016 rund 12%, was von Experten jedoch als zu niedrig angezweifelt wird. Der monatliche Durchschnittslohn in Tschetschenien lag im 1. Quartal 2016 bei 21.774 Rubel (landesweit: 34.000 Rubel), die durchschnittliche Pensionshöhe bei 10.759 Rubel (landesweit: 12.299 Rubel). Die Höhe des Existenzminimums für die erwerbsfähige Bevölkerung ist mit 9.317 Rubel pro Monat festgelegt (landesweit: 10.187 Rubel), für Pensionisten mit 8.102 Rubel (landesweit: 7.781 Rubel) und für Kinder mit 7.348 Rubel (landesweit: 9.197 Rubel). Korruption ist nach wie vor weit verbreitet und große Teile der Wirtschaft werden von wenigen, mit dem politischen System eng verbundenen Familien kontrolliert. Es gibt glaubwürdige Berichte, wonach öffentliche Bedienstete einen Teil ihres Gehalts an den nach Kadyrows Vater benannten und von dessen Witwe geführten Wohltätigkeitsfonds abführen müssen. Der 2004 gegründete Fonds baut Moscheen und verfolgt Wohltätigkeitsprojekte. Kritiker meinen jedoch, dass der Fonds auch der persönlichen Bereicherung Kadyrows und der ihm nahestehenden Gruppen diene. So bezeichnete die russische Tageszeitung „Kommersant“ den Fonds als eine der intransparentesten NGOs des Landes (ÖB Moskau 12.2017). Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkrieges dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens, Grozny, ist wieder aufgebaut. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung (AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA – Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836 , Zugriff 24.8.2018

- ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation

- Zenithonline (10.2.2014): Speznaz, Spiele und Korruption, http://www.zenithonline.de/deutsch/politik/a/artikel/speznaz-spiele-und-korruption-004017/ nicht mehr aktiv, Originaldokument liegt bei der Staatendokumentation auf, Zugriff 24.8.2018

14.2. Sozialbeihilfen

Die Russische Föderation hat ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab (IOM 2017). Das soziale Sicherungssystem wird von vier Institutionen getragen: dem Rentenfonds, dem Sozialversicherungsfonds, dem Fonds für obligatorische Krankenversicherung und dem staatlichen Beschäftigungsfonds. Aus dem 1992 gegründeten Rentenfonds werden Arbeitsunfähigkeits- und Altersrenten gezahlt. Das Rentenalter wird mit 60 Jahren bei Männern und bei 55 Jahren bei Frauen erreicht. Da dieses Modell aktuell die Renten nicht vollständig finanzieren kann, steigen die Zuschüsse des staatlichen Pensionsfonds an. Eine erneute Rentenreform wurde seit 2012 immer wieder diskutiert. Am Tag der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft [14. Juni 2018] hat die Regierung einen Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht, womit das Renteneintrittsalter für Frauen bis zum Jahr 2034 schrittweise auf 63 Jahre und für Männer auf 65 angehoben werden soll. Die Pläne der Regierung stießen auf Protest: Mehr als 2,5 Millionen Menschen unterzeichneten eine Petition dagegen, in zahlreichen Städten finden Demonstrationen gegen die geplante Rentenreform statt (GIZ 7.2018c).Der Sozialversicherungsfonds finanziert das Mutterschaftsgeld (bis zu 18 Wochen), Kinder- und Krankengeld. Das Krankenversicherungssystem umfasst eine garantierte staatliche Minimalversorgung, eine Pflichtversicherung und eine freiwillige Zusatzversicherung. Vom staatlichen Beschäftigungsfonds wird das Arbeitslosengeld (maximal ein Jahr lang) ausgezahlt. Alle Sozialleistungen liegen auf einem niedrigen Niveau (GIZ 7.2018c).Personen im Rentenalter mit mindestens fünfjährigen Versicherungszahlungen haben das Recht auf eine Altersrente. Begünstigte müssen sich bei der lokalen Pensionskasse melden und erhalten dort, nach einer ersten Beratung, weitere Informationen zu den Verfahrensschritten. Informationen zu den erforderlichen Dokumenten erhält man ebenfalls bei der ersten Beratung. Eine finanzielle Beteiligung ist nicht erforderlich. Zu erhaltende Leistungen werden ebenfalls in der Erstberatung diskutiert (IOM 2017).Zu dem Kreis der schutzbedürftigen Personen zählen Familien mit mehr als drei Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen sowie alte Menschen. Staatliche Zuschüsse werden durch die Pensionskasse bestimmt (IOM 2017). Familienhilfe:

Monatliche Zahlungen im Falle von einem Kind liegen bei 3.120 Rubel (ca. 44 Euro). Bei einem zweiten Kind sowie weiteren Kindern liegt der Betrag bei 6.131 Rubel (ca. 87 Euro). Der maximale Betrag liegt bei 22.120 Rubel (ca. 313 Euro) (IOM 2017).Mutterschaft:

Mutterschaftsurlaub kann man bis zu 140 Tage beantragen und erhält weiterin 100% Lohn (70 Tage vor der Geburt, 70 Tage danach). Im Falle von Mehrlingsgeburten kann dieser auf 194 Tage erhöht werden. Das Minimum der Mutterschaftshilfe liegt bei 100% des gesetzlichen Mindestlohns bis zu einem Maximum im Vergleich zu einem 40-Stunden Vollzeitjob. Der Maximalbetrag der Mutterschutzhilfe liegt bei 35.901 Rubel (ca. 513 Euro) (IOM 2017).Mutterschaftskapital:

Zu den bedeutendsten Positionen der staatlichen Beihilfe zählt das Mutterschaftskapital, in dessen Genuss Mütter mit der Geburt ihres zweiten Kindes kommen. Dieses Programm wurde 2007 aufgelegt und wird russlandweit umgesetzt. Der Umfang der Leistungen ist beträchtlich – innerhalb von zehn Jahren stiegen sie inflationsbereinigt von 250.000 auf 453.026 Rubel, also von 4.152 auf mehr als 7.500 Euro. Man bekommt das Geld allerdings erst drei Jahre nach der Geburt ausgezahlt und die Zuwendungen sind an bestimmte Zwecke gebunden. So etwa kann man von den Geldern Hypothekendarlehen tilgen, weil das zur Verbesserung der Wohnsituation beiträgt. In einigen Regionen darf der gesamte Umfang des Mutterkapitals bis zu 70% der Wohnkosten decken. Das Programm wurde nun für weitere zwei Jahre verlängert, wobei eine weitere inflationsbedingte Anpassung nicht vorgesehen ist. Aufgestockt werden die Leistungen durch Beihilfen in den Regionen (RBTH 22.4.2017).Behinderung:

ArbeitnehmerInnen mit einem Behindertenstatus haben das Recht auf eine Behindertenrente. Dies gilt unabhängig von der Schwere der Behinderung, der Beitragsdauer und Arbeitsstatus. Diese wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Rentenalters (IOM 2017).Arbeitslosenunterstützung:

Eine Person kann sich bei den Arbeitsagenturen der Föderalen Behörde für Arbeit und Beschäftigung (Rostrud) arbeitslos melden und Arbeitslosenhilfe beantragen. Daraufhin wird die Arbeitsagentur innerhalb von zehn Tagen einen Arbeitsplatz anbieten. Sollte der/die BewerberIn diesen zurückweisen, wird er/sie als arbeitslos registriert. Arbeitszentren gibt es überall im Land. Arbeitslosengeld wird auf Grundlage des durchschnittlichen Gehalts des letzten Beschäftigungsverhältnisses kalkuliert. Ebenfalls wird dieses durch eine maximale und minimale festgelegte Höhe der russischen Rechtslage determiniert. Seit 2009 beträgt die Mindestlohnhöhe pro Monat 850 Rubel (12 Euro) und der Maximallohn 4.900 Rubel (71 Euro). Gelder werden monatlich ausgezahlt. Die Voraussetzung ist jedoch die notwendige Neubewertung (normalerweise zwei Mal im Monat) der Bedingungen durch die Arbeitsagenturen. Die Leistungen können unter verschiedenen Umständen auch beendet werden (IOM 2017). Wohnmöglichkeiten und Sozialwohnungen:

BürgerInnen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbarer Unterkunft und sehr geringem Einkommen können kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen. Einige Banken bieten jedoch für einen Wohnungskauf niedrige Kredite an (min. 12%). Junge Familien mit vielen Kindern können bundesstaatliche Zuschüsse (Mutterschaftszulagen) für wohnungswirtschaftliche Zwecke beantragen. Im Jahr 2017 lag dieser Zuschuss bei 453.026 Rubel (ca 6.618 Euro) (IOM 2017).Das europäische Projekt MedCOI erwähnt weitere Kategorien von Bürgern, denen unterschiedliche Arten von sozialer Unterstützung gewährt werden:

- Kinder (unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen für Familien mit Kindern);

- Großfamilien (Ausstellung einer Großfamilienkarte, unterschiedliche Zuschüsse und Beihilfen, Rückerstattung von Nebenkosten (Wasser, Gas, Elektrizität, etc.);

- Familien mit geringem Einkommen;

- Studenten, Arbeitslose, Pensionisten, Angestellte spezialisierter Institutionen und Jungfamilien (BDA 31.3.2015).

Quellen:

- BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 24.8.2018

- IOM – International Organisation of Migration (2017): Länderinformationsblatt Russische Föderation

- RBTH – Russia beyond the Headlines (22.4.2017): Gratis-Studium und Steuerbefreiung: Russlands Wege aus der Geburtenkrise, https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881 https://de.rbth.com/gesellschaft/2017/04/22/gratis-studium-und-steuerbefreiung-russlands-wege-aus-der-geburtenkrise_747881 , Zugriff 27.8.2018

15. Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung wird von staatlichen und privaten Einrichtungen zu Verfügung gestellt. StaatsbürgerInnen haben im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung (OMS) Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung. Vorausgesetzt für OMS sind Unterlagen wie ein gültiger Pass und die Geburtsurkunde für Kinder unter 14 Jahren. Diese müssen bei der nächstliegenden Krankenversicherung eingereicht werden. An staatlichen wie auch an privaten Kliniken sind medizinische Dienstleistungen verfügbar, für die man direkt bezahlen kann (im Rahmen der freiwilligen Krankenversicherung – Voluntary Medical Insurance DMS) (IOM 2017). Die kostenfreie Versorgung umfasst Notfallbehandlung, Ambulante Behandlung, inklusive Vorsorge, Diagnose und Behandlung von Krankheiten zu Hause und in Kliniken, Stationäre Behandlung und teilweise kostenlose Medikamente. Medizinische Leistungen stehen im allgemeinen kostenfrei zur Verfügung. Es gibt jedoch auch private Anbieter (IOM 2017), die zum Teil auch mit OMS abrechnen (GTAI 5.1.2016). Immer mehr russische Staatsbürger wenden sich an Privatkliniken (GTAI 5.1.2016, vgl. Ostexperte 22.9.2017) Das Recht auf kostenlose medizinische Grundversorgung für alle Bürger ist in der Verfassung verankert (GIZ 7.2018c, vgl. IOM 2017, AA 21.5.2018, ÖB Moskau 12.2017). Das noch aus der Sowjetzeit stammende Gesundheitssystem bleibt jedoch ineffektiv. Trotz der schrittweisen Anhebung der Honorare sind die Einkommen der Ärzte und des medizinischen Personals noch immer niedrig. Dies hat zu einem System der faktischen Zuzahlung durch die Patienten geführt, obwohl ärztliche Behandlung eigentlich kostenfrei ist (GIZ 7.2018c). Das Wissen und die technischen Möglichkeiten für anspruchsvollere Behandlungen sind meistens nur in den Großstädten vorhanden. Das Hauptproblem ist weniger die fehlende technische Ausstattung als vielmehr ein gravierender Ärztemangel und eine unzureichende Aus- und Fortbildung. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsversorgung zu stark auf klinische Behandlung ausgerichtet ist und gleichzeitig Allgemeinmediziner und Chirurgen fehlen. Das Problem wurde vom Staat erkannt. Die Zahl der Ärzte ist 2016 leicht gestiegen. Dank großangelegter Prophylaxe-Programme hat sich die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen vervierfacht (AA 21.5.2018).Im Bereich der medizinischen Versorgung von Rückkehrern sind der Botschaft keine Abweichungen von der landesweit geltenden Rechtslage bekannt. Seit Jänner 2011 ist das „Föderale Gesetz Nr. 326-FZ über die medizinische Pflichtversicherung in der Russischen Föderation“ vom November 2010 in Kraft und seit Jänner 2012 gilt das föderale Gesetz Nr. 323-FZ vom November 2011 über die „Grundlagen der medizinischen Versorgung der Bürger der Russischen Föderation“. Laut Gesetz hat jeder Mensch Anrecht auf kostenlose medizinische Hilfestellung in dem gemäß „Programm der Staatsgarantien für kostenlose medizinische Hilfestellung“ garantierten Umfang. Von diesem Programm sind alle Arten von medizinischer Versorgung (Notfallhilfe, ambulante Versorgung, stationäre Versorgung, spezialisierte Eingriffe) erfasst. Kostenpflichtig sind einerseits Serviceleistungen (Einzelzimmer u.Ä.), andererseits jene medizinischen Leistungen, die auf Wunsch des Patienten durchgeführt werden (z.B. zusätzliche Untersuchungen, die laut behandelndem Arzt nicht indiziert sind). Staatenlose, die dauerhaft in Russland leben, sind bezüglich ihres Rechts auf medizinische Hilfe russischen Staatsbürgern gleichgestellt. Bei Anmeldung in der Klinik muss die Krankenversicherungskarte (oder die Polizze) vorgelegt werden, womit der Zugang zur medizinischen Versorgung auf dem Gebiet der Russischen Föderation gewährleistet ist. Personen haben das Recht auf freie Wahl der medizinischen Anstalt und des Arztes, allerdings mit Einschränkungen. Für einfache medizinische Hilfe, die in der Regel in Polikliniken erwiesen wird, haben Personen das Recht die medizinische Anstalt nicht öfter als einmal pro Jahr, unter anderem nach dem territorialen Prinzip (d.h. am Wohn-, Arbeits- oder Ausbildungsort), zu wechseln. Davon ausgenommen ist ein Wechsel im Falle einer Änderung des Wohn- oder Aufenthaltsortes. Das bedeutet aber auch, dass die Inanspruchnahme einer medizinischen Standardleistung (gilt nicht für Notfälle) in einem anderen als dem „zuständigen“ Krankenhaus, bzw. bei einem anderen als dem „zuständigen“ Arzt, kostenpflichtig ist. In der ausgewählten Organisation können Personen ihren Allgemein- bzw. Kinderarzt nicht öfter als einmal pro Jahr wechseln. Falls eine geplante spezialisierte medizinische Behandlung im Krankenhaus nötig wird, erfolgt die Auswahl der medizinischen Anstalt durch den Patienten gemäß der Empfehlung des betreuenden Arztes oder selbstständig, falls mehrere medizinische Anstalten zur Auswahl stehen. Abgesehen von den oben stehenden Ausnahmen sind Selbstbehalte nicht vorgesehen (ÖB Moskau 12.2017). Die Versorgung mit Medikamenten ist grundsätzlich bei stationärer Behandlung sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. Es wird aber berichtet, dass in der Praxis die Bezahlung von Schmiergeld zur Durchführung medizinischer Untersuchungen und Behandlungen teilweise erwartet wird (ÖB Moskau 12.2017). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes (DIS 1.2015). Weiters wird berichtet, dass die Qualität der medizinischen Versorgung hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Ausstattung von Krankenhäusern und der Qualifizierung der Ärzte landesweit variieren kann (ÖB Moskau 12.2017). Die Palliativmedizin muss erheblich ausgebaut werden, es fehlen vor allem stark wirkende Schmerzmedikamente. Im Zuge der Lokalisierungspolitik der Russischen Föderation sinkt der Anteil an hochwertigen ausländischen Medikamenten. Es wurde über Fälle von Medikamenten ohne oder mit schädlichen Wirkstoffen berichtet. Im starken Kontrast zum Erleben der Bevölkerung sieht die Regierung ihre Reformen im Gesundheitswesen pauschal als Erfolg und führt als Beleg die gestiegene Lebenserwartung an (AA 21.5.2018). Das Gesundheitswesen wird im Rahmen der „Nationalen Projekte“, die aus Rohstoffeinnahmen finanziert werden, modernisiert. So wurden landesweit sieben föderale Zentren mit medizinischer Spitzentechnologie und zwölf Perinatalzentren errichtet, Transport und Versorgung von Unfallopfern verbessert sowie Präventions- und Unterstützungsprogramme für Mütter und Kinder entwickelt. Schrittweise werden die Gehälter für das medizinische Personal angehoben sowie staatliche Mittel in die Modernisierung bestehender Kliniken investiert. Seit 2002 ist die Lebenserwartung in Russland stetig gestiegen (GIZ 7.2018c).Aufgrund der Bewegungsfreiheit im Land ist es für alle Bürger der Russischen Föderation möglich, bei Krankheiten, die in einzelnen Teilrepubliken nicht behandelbar sind, zur Behandlung in andere Teile der Russischen Föderation zu reisen (vorübergehende Registrierung) (vgl. dazu die Kapitel 19. Bewegungsfreiheit und 19.1 Meldewesen) (DIS 1.2015, vgl. AA 21.5.2018).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 22.8.2018

- GTAI – German Trade and Invest (5.1.2016): Russlands Privatmedizin erfährt ungewohnten Zulauf, http://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche ,t=russlands-privatmedizin-erfaehrt-ungewohnten-zulauf,did=1387278.html, Zugriff 23.8.2018

- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 23.8.2018

- IOM – International Organisation of Migration (2017): Länderinformationsblatt Russische Föderation

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

- Ostexperte.de (22.9.2017): Privatkliniken in Russland immer beliebter, https://ostexperte.de/russland-privatkliniken/ , Zugriff 23.8.2018

15.1. Tschetschenien

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Tschetschenien eine eigene öffentliche Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen wie z.B. regionale Spitäler (spezialisierte und zentrale), Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfalleinrichtungen leitet. Das Krankenversicherungssystem wird vom territorialen verpflichtenden Gesundheitsfonds geführt. Schon 2013 wurde eine dreistufige Roadmap eingeführt, mit dem Ziel, die Verfügbarkeit und Qualität des tschetschenischen Gesundheitssystems zu erhöhen. In der ersten Stufe wird die primäre Gesundheitsversorgung – inklusive Notfall- und spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt. In der zweiten Stufe wird multidisziplinäre spezialisierte Gesundheitsversorgung und in der dritten Stufe die spezialisierte Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt (BDA CFS 31.3.2015). Es sind somit in Tschetschenien sowohl primäre als auch spezialisierte Gesundheitseinrichtungen verfügbar. Die Krankenhäuser sind in einem besseren Zustand als in den Nachbarrepubliken, da viele erst vor kurzem erbaut worden sind (DIS 1.2015). Bestimmte Medikamente werden kostenfrei zur Verfügung gestellt, z.B. Medikamente gegen Krebs und Diabetes. Auch gibt es bestimmte Personengruppen, die bestimmte Medikamente kostenfrei erhalten. Dazu gehören Kinder unter drei Jahren, Kriegsveteranen, schwangere Frauen und Onkologie- und HIV-Patienten. Verschriebene Medikamente werden in staatlich lizensierten Apotheken kostenfrei gegen Vorlage des Rezeptes abgegeben (DIS 1.2015). Weitere Krankheiten, für die Medikamente kostenlos weitergegeben werden (innerhalb der obligatorischen Krankenversicherung):

- infektiöse und parasitäre Krankheiten

- Tumore

- endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselkrankheiten

- Krankheiten des Nervensystems

- Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe sowie bestimmte Störungen mit Beteiligung des Immunsystems

- Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde

- Krankheiten des Ohres und des Warzenfortsatzes

- Krankheiten des Kreislaufsystems

- Krankheiten des Atmungssystems

- Krankheiten des Verdauungssystems

- Krankheiten des Urogenitalsystems

- Schwangerschaft, Geburt, Abort und Wochenbett

- Krankheiten der Haut und der Unterhaut

- Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes

- Verletzungen, Vergiftungen und bestimmte andere Folgen äußerer Ursachen

- Geburtsfehler und Chromosomenfehler

- bestimmte Zustände, die ihren Ursprung in der Perinatalperiode haben

- Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die nicht in der Kategorie der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gelistet sind (BDA CFS 31.3.2015).Die obligatorische Krankenversicherung deckt unter anderem auch klinische Untersuchungen von bestimmten Personengruppen wie Minderjährige, Studenten, Arbeiter usw. und medizinische Rehabilitation in Gesundheitseinrichtungen. Weiters werden zusätzliche Gebühren von Allgemeinmedizinern und Kinderärzten, Familienärzten, Krankenschwestern und Notfallmedizinern finanziert. Peritoneal- und Hämodialyse werden auch unterstützt (nach vorgegebenen Raten), einschließlich der Beschaffung von Materialien und Medikamenten. Die obligatorische Krankenversicherung in Tschetschenien ist von der föderalen obligatorischen Krankenversicherung subventioniert (BDA CFS 31.3.2015). Trotzdem muss angemerkt werden, dass auch hier aufgrund der niedrigen Löhne der Ärzte das System der Zuzahlung durch die Patienten existiert (BDA CFS 31.3.2015, vgl. GIZ 7.2018c, AA 21.5.2018). Trotzdem gibt es medizinische Einrichtungen, wo die Versorgung kostenfrei bereitgestellt wird, beispielsweise im Distrikt von Gudermes (von hier stammt Ramzan Kadyrow). In kleinen Dörfern sind die ärztlichen Leistungen auch günstiger (BDA CFS 31.3.2015).In Tschetschenien gibt es nur einige private Gesundheitseinrichtungen, die normalerweise mit Spezialisten arbeiten, die aus den Nachbarregionen eingeladen werden. Die Preise sind hier um einiges teurer als in öffentlichen Institutionen aufgrund von komfortableren Aufenthalt, besser qualifizierten Spezialisten und modernerer medizinischer Ausstattung (BDA CFS 31.3.2015).Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA CFS 31.3.2015).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/#c18140 , Zugriff 23.8.2018

- BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 23.8.2018

15.2. Dagestan

Wie jedes Subjekt der Russischen Föderation hat auch Dagestan eine eigene Gesundheitsverwaltung, die die regionalen Gesundheitseinrichtungen (spezialisierte und zentrale Krankenhäuser, Tageseinrichtungen, diagnostische Zentren und spezialisierte Notfallambulanzen, etc.) managt. Auch in Dagestan gibt es sowohl öffentliche als auch private Gesundheitseinrichtungen. Öffentliche Einrichtungen haben keine offiziellen Preislisten ihrer Behandlungen, da prinzipiell Untersuchungen, Behandlungen und Konsultationen gratis sind. Jedoch muss auf die informelle Zuzahlung hingewiesen werden (beispielsweise, um die Wartezeit zu verkürzen). Die Zahlungen sind jedoch geringer als in privaten Institutionen. Die Qualität der Behandlung ist aber in öffentlichen Einrichtungen nicht schlechter – viele Spezialisten arbeiten sowohl in öffentlichen als auch privaten Einrichtungen. Die Ausstattung und die Geräte sind meist in privaten Einrichtungen besser (BDA CFS 25.3.2016).Wenn eine Behandlung in einer Region nicht verfügbar ist, gibt es die Möglichkeit, dass der Patient in eine andere Region, wo die Behandlung verfügbar ist, überwiesen wird (BDA 31.3.2015).

Quellen:

- BDA – Belgium Desk on Accessibility (31.3.2015): Accessibility of healthcare: Chechnya, Country Fact Sheet via MedCOI

- BDA – Belgium Desk on Accessibility (25.3.2016): Accessibility of healthcare: Dagestan, Country Fact Sheet via MedCOI

16. Rückkehr

Die Rückübernahme russischer Staatsangehöriger aus Österreich nach Russland erfolgt in der Regel im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Russischen Föderation über die Rückübernahme. Der Rückübernahme geht, wenn die betroffene Person in Österreich über kein gültiges Reisedokument verfügt, ein Identifizierungsverfahren durch die russischen Behörden voraus. Wird dem Rücknahmeersuchen stattgegeben, wird für diese Person von der Russischen Botschaft in Wien ein Heimreisezertifikat ausgestellt. Wenn die zu übernehmende Person im Besitz eines gültigen Reisedokuments ist, muss kein Rücknahmeersuchen gestellt werden. Bei Ankunft in der Russischen Föderation mussten sich bislang alle Rückkehrer beim Föderalen Migrationsdienst (FMS) ihres beabsichtigten Wohnortes registrieren. Dies gilt generell für alle russische Staatsangehörige, wenn sie innerhalb von Russland ihren Wohnort wechseln. 2016 wurde der FMS allerdings aufgelöst und die entsprechenden Kompetenzen in das Innenministerium verlagert. Bei der Rückübernahme eines russischen Staatsangehörigen, nach dem in der Russischen Föderation eine Fahndung läuft, wird die ausschreibende Stelle über die Überstellung informiert und, falls ein Haftbefehl aufrecht ist, kann diese Person in Untersuchungshaft genommen werden (ÖB Moskau 12.2017). Zur allgemeinen Situation von Rückkehrern, insbesondere im Nordkaukasus, kann festgestellt werden, dass sie vor allem vor wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen stehen. Dies betrifft vor allem die im Vergleich zum Rest Russlands hohe Arbeitslosigkeit im Nordkaukasus. Hinzu kommen bürokratische Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Dokumenten, die oft nur mit Hilfe von Schmiergeldzahlungen überwunden werden können (ÖB Moskau 12.2017). Die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen betreffen weite Teile der russischen Bevölkerung und können somit nicht als spezifisches Problem von Rückkehrern bezeichnet werden. Besondere Herausforderungen ergeben sich für Frauen aus dem Nordkaukasus, zu deren Bewältigung zivilgesellschaftliche Initiativen unterstützend tätig sind. Eine allgemeine Aussage über die Gefährdungslage von Rückkehrern in Bezug auf mögliche politische Verfolgung durch die russischen bzw. die nordkaukasischen Behörden kann nicht getroffen werden, da dies stark vom Einzelfall abhängt. Aus gut informierten Kreisen war jedoch zu erfahren, dass Rückkehrer gewöhnlich mit keinerlei Diskriminierung seitens der Behörden konfrontiert sind (ÖB Moskau 12.2017).Die Stellung eines Asylantrags im Ausland führt nicht prinzipiell zu einer Verfolgung. Der Kontrolldruck gegenüber kaukasisch aussehenden Personen ist aus Angst vor Terroranschlägen und anderen extremistischen Straftaten erheblich. Russische Menschenrechtsorganisationen berichten von häufig willkürlichem Vorgehen der Miliz gegen Kaukasier allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Kaukasisch aussehende Personen ständen unter einer Art Generalverdacht. Personenkontrollen und Hausdurchsuchungen (häufig ohne Durchsuchungsbefehle) finden weiterhin statt (AA 21.5.2018).Rückkehrende zählen nicht automatisch zu den schutzbedürftigen Personenkreisen. Wie alle russischen Staatsangehörige können sie ebenfalls durch das Wohlfahrtssystem Leistungen erhalten. Mikrokredite für Kleinunternehmen können bei Banken beantragt werden (der Zinsatz liegt bei mindestens 10,6%). Einige Regionen bieten über ein Auswahlverfahren spezielle Zuschüsse zur Förderung von Unternehmensgründung an (IOM 2017).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- IOM – International Organisation of Migration (2017): Länderinformationsblatt Russische Föderation

- ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

17. Dokumente

In Russland ist es möglich, Personenstands- und andere Urkunden zu kaufen, wie z.B. Staatsangehörigkeitsnachweise, Geburts- und Heiratsurkunden, Vorladungen, Haftbefehle, Gerichtsurteile. Es gibt auch Fälschungen, die auf Originalvordrucken professionell hergestellt wurden (AA 21.5.2018). Auslandsreisepässe sind schwieriger zu bekommen, aber man kann auch diese kaufen. Es handelt sich bei den Dokumenten oft um echte Dokumente mit echten Stempeln und Unterschriften, aber mit falschem Inhalt. Die Art der Dokumente hierbei können z.B. medizinische Protokolle (medical journals), Führerscheine, Geburtsurkunden oder Identitätsdokumente sein. Ebenso ist es möglich, echte Dokumente mit echtem Inhalt zu kaufen, bei der die Transaktion der illegale Teil ist. Für viele Menschen ist es einfacher, schneller und angenehmer, ein Dokument zu kaufen, um einem zeitaufwändigem Kontakt mit der russischen Bürokratie zu vermeiden. Es soll auch gefälschte „Vorladungen“ zur Polizei geben (DIS 1.2015).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

- DIS – Danish Immigration Service (1.2015): Security and human rights in Chechnya and the situation of Chechens in the Russian Federation – residence registration, racism and false accusations; Report from the Danish Immigration Service’s fact finding mission to Moscow, Grozny and Volgograd, the Russian Federation; From 23 April to 13 May 2014 and Paris, France 3 June 2014, http://www.ecoi.net/file_upload/90_1423480989_2015-01-dis-chechnya-fact-finding-mission-report.pdf , Zugriff 22.8.2018Zur Situation im Herkunftsland wird von unter II.1.2. wiedergegebenen Feststellungen der belangten Behörde ausgegangen. Die Situation im Herkunftsland hat sich seit dem Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung in den gegenständlich relevanten Punkten nicht entscheidungswesentlich verändert, sodass ein neuerlicher Vorhalt im Beschwerdeverfahren unterbleiben kann.2. Beweiswürdigung:2.1. Die Feststellungen zur Person der BF und ihrer Arbeitsfähigkeit ergeben sich zweifelsfrei auf Grundlage des Inhaltes des zur Beschwerde vorgelegten Aktes des Bundesamtes zur im Spruch genannten Zahl und den daraus resultierenden Feststellungen des Bundesamtes im bekämpften Bescheid. Die Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF und ihrer Arbeitsfähigkeit ergeben sich zum einen daraus, dass die BF im gesamten Verfahren keine Angaben erstattet hat, die auf etwaige gesundheitliche Beschwerden oder eine Einschränkung ihrer Arbeitsfähigkeit hindeuten würden, erstattet hat und sich aus dem Akteninhalt derartige Anhaltspunkte auch nicht ergeben haben. Die Feststellungen zu ihrer Schul-, Aus- und Weiterbildung, sowie ihrer beruflichen Tätigkeit und ihren familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat ergeben sich aus den eigenen Angaben der BF im gegenständlichen Verfahren.

Die Feststellungen zum Asylverfahren der BF und dem damals von ihr geltend gemachten Fluchtvorbringen beim Bundesasylamt ergeben sich zweifelsfrei aus dem diesbezüglichen mit der Beschwerde vorgelegten Akt des Bundesasylamtes zur Zahl 04 17.171-BAL.

Die vom Bundesamt getroffene, weiter oben im Wesentlichen wiedergegebene Würdigung der Beweise steht im Einklang mit dem Inhalt des Bescheides des Bundesasylamtes vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, ist im Kern nachvollziehbar begründet und erweist sich als zutreffend.

2.2. Sowohl den Feststellungen, als auch der Beweiswürdigung des bekämpften Bescheides ist eindeutig zu entnehmen, dass der BF seitens des Bundesasylamtes ausschließlich aufgrund der Fluchtgründe ihres Ex-Ehegatten der Asylstatus zuerkannt wurde. Dies steht auch im Einklang mit dem diesbezüglichen Bescheid des Bundesasylamtes vom 05.04.2005.

Wie das Bundesamt völlig zutreffend im angefochtenen Bescheid ausführt hat, hat die BF zu keinem Zeitpunkt etwaige eigene Verfolgungsgründe vorgebracht.

Unter Zugrundelegung der gesicherten Versorgungslage im Herkunftsland kann auch keine Wahrscheinlichkeit erkannt werden, dass die gesunde und arbeitsfähige BF bei einer Rückkehr im Herkunftsland in eine ausweglose Lage geraten würde.

2.3. Die vom Bundesamt zur Lage im Herkunftsstaat herangezogenen Länderinformationen basieren auf Berichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen, und stellen im konkreten Fall eine ausreichende Basis zur Beurteilung des Vorbringens der BF dar. Hierbei ist zudem anzumerken, dass es sich bei Russischen Föderation um einen Staat handelt, der im Wesentlichen weder von bürgerkriegsähnlichen Zuständen noch Kampfhandlungen betroffen ist, und auch sonst nicht – etwa im Vergleich zu Krisenregionen wie Afghanistan, Irak, Somalia, Syrien, u.v.a. - als Staat mit sich rasch ändernder Sicherheitslage auffällig wurde, sondern sich im Wesentlichen über die letzte Dekade als relativ stabil erwiesen hat (vgl. dazu etwa VfGH 21.09.2017, Zl. E 1323/2017-24, VwGH 13.12.2016, Zl. 2016/20/0098).

Aus diesen geht zweifelsfrei hervor, dass sich die Lage im Herkunftsland bzw. in Tschetschenien seit offiziellen Ende des Krieges im Jahr 2009 grundsätzlich wesentlich und nachhaltig gebessert hat.

Das Bundesverwaltungsgericht verkennt auch nicht, dass die Menschenrechtslage im Nordkaukasus und in Tschetschenien im Speziellen problematisch ist und dass weiterhin Bedrohungsszenarien bestehen und (auch schwere) Menschenrechtsverletzungen geschehen können. Aus den Länderfeststellungen lässt sich jedoch auch keine derartige Situation im Herkunftsland ableiten, wonach der BF allein aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage ohne Hinzutreten individueller Faktoren in der Russischen Föderation bzw. Tschetschenien aktuell und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder dass ihr im Falle einer Rückkehr die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Wäre eine Situation einer systematischen Verfolgung weiter Bevölkerungsschichten derzeit gegeben, wäre jedenfalls anzunehmen, das vor Ort tätige Organisationen, wie jene der Vereinten Nationen, diesbezügliche Informationen an die Öffentlichkeit gegeben hätten. Eine allgemeine Gefährdung von allen Rückkehrern wegen des Faktums ihrer Rückkehr lässt sich aus den Quellen ebenso wenig folgern und fehlt es in diesem Zusammenhang an aktuell bestehenden, besonderen gefahrenerhöhenden Eigenschaften der BF. Dies entspricht im Übrigen bisher auch der Einschätzung des Europäischen Gerichtshofes für Menschrechte, wobei etwa auf das Urteil vom 09.07.2016 im Fall R.K. gegen Frankreich, Zl. 61.264/11, verwiesen wird, wonach die Situation im Nordkaukasus (inklusive Tschetschenien) – trotz dort festzustellender schwerer Menschenrechtsverletzungen – nicht so geartet ist, dass die Abschiebung dorthin automatisch eine Verletzung nach Art. 3 EMRK darstellen würde (vgl. dazu auch EGMR 30.11.2017, Application no. 54646/17, X v. Germany). Dazu ist der Vollständigkeit halber noch zu ergänzen, dass unter Zugrundelegung der vom Bundesamt herangezogenen Länderinformationen inzwischen auch von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative außerhalb des Föderationskreises Nordkaukasus auszugehen ist.

Darüber hinaus wurden in der Beschwerde aber auch keine Berichte dargetan bzw. auf solche verwiesen, die geeignet gewesen wären, entscheidungswesentliche Abweichungen zu der vom Bundesamt getroffenen Situationseinschätzung darzutun.

2.4. Die Aufnahme weiterer Beweise war wegen Entscheidungsreife nicht mehr erforderlich.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn (Z 1) der der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder (Z 2) die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Letztere Variante traf unter Berücksichtigung der in ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG vertretenen Ansicht über den prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auf die gegenständliche Konstellation zu (vgl. dazu etwa VwGH 28.07.2016, Zl. Ra 2015/01/0123).

Soweit das Verwaltungsgericht nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, hat es gemäß § 27 VwGVG den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs.1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen. Gemäß § 9 Abs.1 VwGVG hat die Beschwerde u.a. (Z 3) die Gründe, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stützt, sowie (Z 4) das Begehren zu enthalten. In den erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage zur Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I Nr. 51/2012, wurde zu § 27 VwGVG ausgeführt: „Der vorgeschlagene § 27 legt den Prüfungsumfang des Verwaltungsgerichtes fest. Anders als die Kognitionsbefugnis einer Berufungsbehörde (vgl. § 66 Abs. 4 AVG) soll die Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichtes durch den Inhalt der Beschwerde beschränkt sein.“

Zu Spruchteil A):

3.2. Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

3.2.1. Der mit „Aberkennung des Status des Asylberechtigten“ betitelte § 7 AsylG 2005 lautet wie folgt:„(1) Der Status des Asylberechtigten ist einem Fremden von Amts wegen mit Bescheid abzuerkennen, wenn1. ein Asylausschlussgrund nach § 6 vorliegt;2. einer der in Art. 1 Abschnitt C der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Endigungsgründe eingetreten ist oder3. der Asylberechtigte den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in einem anderen Staat hat.(2) Ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten ist jedenfalls einzuleiten, wenn der Fremde straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3) und das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß Abs. 1 wahrscheinlich ist.(3) Das Bundesamt kann einem Fremden, der nicht straffällig geworden ist (§ 2 Abs. 3), den Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 nicht aberkennen, wenn die Aberkennung durch das Bundesamt – wenn auch nicht rechtskräftig – nicht innerhalb von fünf Jahren nach Zuerkennung erfolgt und der Fremde seinen Hauptwohnsitz im Bundesgebiet hat. Kann nach dem ersten Satz nicht aberkannt werden, hat das Bundesamt die nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, zuständige Aufenthaltsbehörde vom Sachverhalt zu verständigen. Teilt diese dem Bundesamt mit, dass sie dem Fremden einen Aufenthaltstitel rechtskräftig erteilt hat, kann auch einem solchen Fremden der Status eines Asylberechtigten gemäß Abs. 1 Z 2 aberkannt werden.(4) Die Aberkennung nach Abs. 1 Z 1 und 2 ist mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Betroffenen die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt. Dieser hat nach Rechtskraft der Aberkennung der Behörde Ausweise und Karten, die den Status des Asylberechtigten oder die Flüchtlingseigenschaft bestätigen, zurückzustellen.“

3.2.2. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl stützte die angefochtene Entscheidung im Wesentlichen darauf, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten infolge Wegfalls jener Umstände, welche zur Zuerkennung geführt haben, nicht mehr vorliegen würden. Der Beschwerdeführerin sei der Status der Asylberechtigten lediglich im Familienverfahren zuerkannt worden. Sie habe seinerzeit im Asylverfahren, sowie im gesamten Aberkennungsverfahren, keine eigenen bzw. glaubhaft aktuellen Fluchtgründe vorgebracht; an dieser persönlichen Situation habe sich nichts geändert. Damit seien auch die früher bestehenden Voraussetzungen für eine Schutzgewährung aufgrund eines Familienverfahrens nicht mehr gegeben. In Russland liege aktuell keine Gefährdungslage für die Beschwerdeführerin (mehr) vor. Damit bejahte die belangte Behörde das Vorliegen des Asylaberkennungsgrunds des § 7 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK (im Folgenden auch als „Wegfall der Umstände“-Klausel bezeichnet; vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0059)

Gemäß Art. 1 Abschnitt C Ziffer 5 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention-GFK), BGBl. 55/1955, wird dieses Abkommen auf eine Person, die unter die Bestimmungen des Abschnittes A fällt, nicht mehr angewendet werden, wenn die Umstände, auf Grund deren sie als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und sie es daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen.

Art 1 Abschnitt C Ziffer 5 GFK entspricht Art 11 Abs. 1 lit e iVm Abs 3 StatusRL, der zufolge ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser nicht mehr Flüchtling ist, wenn er nach Wegfall der Umstände, aufgrund deren er als Flüchtling anerkannt worden ist, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Diese Bestimmung findet keine Anwendung auf einen Flüchtling, der sich auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Inanspruchnahme des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, abzulehnen.

Die Flüchtlingseigenschaft gemäß Art 11 Abs. 1 lit e Status-RL aF, der der aktuellen Rechtslage entspricht, erlischt, wenn in Anbetracht einer erheblichen und nicht nur vorübergehenden Veränderung der Umstände in dem fraglichen Drittland diejenigen Umstände, aufgrund deren der Betreffende begründete Furcht vor Verfolgung aus einem der in Art 2 lit c der Richtlinie genannten Gründe hatte und als Flüchtling anerkannt worden war, weggefallen sind und er auch nicht aus anderen Gründen Furcht vor "Verfolgung" im Sinne des Art 2 lit c der Richtlinie haben muss (EuGH vom 2.3.2010, Rs C-175/08 ua, Abdulla ua, Rz 76). Die Umstände müssen sich auf grundlegende, in Art 1 Abschnitt A Ziffer 2 GFK angeführte Fluchtgründe beziehen, auf Grund deren angenommen werden kann, dass der Anlass für die - begründete - Furcht vor Verfolgung nicht mehr länger besteht (VwGH vom 25.6.1997, 95/01/0326).

Die Bestimmung des Art 1 Abschnitt C Ziffer 5 GFK stellt primär auf eine grundlegende Änderung der (objektiven) Umstände im Herkunftsstaat ab, kann jedoch auch die Änderung der in der Person des Flüchtlings gelegenen Umstände umfassen, etwa wenn eine wegen der Mitgliedschaft zu einer bestimmten Religion verfolgte Person nun doch zu der den staatlichen Stellen genehmen Religion übertritt und damit eine gefahrlose Heimkehr möglich ist (vgl Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, § 7 Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K9).

Nach der Judikatur setzt Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 eine wesentliche nachhaltige Änderung der (für die Verfolgungsgefahr maßgeblichen) Umstände im Heimatstaat des Flüchtlings, einen Wegfall der Verfolgungsgefahr im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und der Notwendigkeit der Schutzgewährung voraus.

Die Änderungen im Herkunftsstaat müssen nachhaltig und nicht bloß von vorübergehender Natur sein (VwGH vom 22.4.1999, 98/20/0567; VwGH vom 25.3.1999, 98/20/0475). Nach Einhaltung eines längeren Beobachtungszeitraumes wird auch der bloße "Haltungswandel" des bisherigen Verfolgers, ohne dass ein politischer Machtwechsel stattgefunden hat, eine asylrechtlich maßgebliche Änderung der Umstände ergeben und in Folge Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 der Genfer Flüchtlingskonvention zum Tragen kommen (VwGH vom 21.11.2002, 99/20/0171).

Der Wegfall der Verfolgungsgefahr ist maßgeblich für die Anwendung von Artikel 1 Abschnitt C Ziffer 5 der Genfer Flüchtlingskonvention. Ob die allgemeine wirtschaftliche Lage im Herkunftsstaat schlecht ist oder familiäre beziehungsweise emotionelle Bindungen zum Aufnahmestaat bestehen, ist für den Eintritt der Ziffer 5 grundsätzlich irrelevant.

Nach der Judikatur des VwGH (23.10.2019, Ra 2019/19/0059) gilt Folgendes: „Die Aberkennung des Status des Asylberechtigten oder die Einleitung eines darauf gerichteten Verfahrens führt daher grundsätzlich nicht dazu, dass einem Familienangehörigen, dem abgeleitet von diesem Fremden als Bezugsperson der Asylstatus im Familienverfahren (bzw. durch Asylerstreckung) zuerkannt worden ist, in einem gemeinsamen Verfahren ebenfalls dieser Status abzuerkennen wäre[…] Vielmehr sei grundsätzlich hinsichtlich jedes einzelnen Familienangehörigen gesondert zu prüfen, ob einer der Aberkennungstatbestände des § 7 AsylG 2005 vorliegt und gegebenenfalls ein Verfahren zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten einzuleiten[…].

[…]Im Unterschied zu allen anderen Aberkennungstatbeständen des § 7 Abs. 1 AsylG 2005 kann aber die in Art. 1 Abschnitt CZ 5 GFK vorgesehene „Wegfall der Umstände“-Klausel nicht gesondert für einen Familienangehörigen, der seinen Asylstatus von einer Bezugsperson abgeleitet hat, geprüft werden. Es ist nämlich bei einer Person, welcher die Flüchtlingseigenschaft unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK zukommt, der Wegfall solcher Umstände von vornherein nicht denkbar. […] Bestehen jene Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr, und kann es die Bezugsperson daher nicht weiterhin ablehnen, sich unter den Schutz ihres Heimatstaates zu stellen, besteht weder nach dem Zweck des internationalen Flüchtlingsschutzes noch nach jenem des Familienverfahrens nach dem AsylG 2005 eine Rechtfertigung dafür, den Asylstatus des Familienangehörigen, der diesen Status von der Bezugsperson nur abgeleitet hat, aufrecht zu erhalten. […]“

Für den gegenständlichen Fall bedeutet das Folgendes:

Die BF hat ihrem Asylverfahren keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht, sondern sich lediglich auf die Fluchtgründe ihres Ex-Ehegatten berufen (siehe Seite 3, BAA-Protokoll vom 30.08.2004, sowie Seite 1 des BAA-Protokolls vom 17.03.2005) und im Rahmen des Familienverfahrens mit Bescheid vom 05.04.2005, Zl. 04 17.171-BAL, Asyl erhalten. Sie hat auch im Aberkennungsverfahren im Rahmen ihrer schriftlichen Stellungnahme keine aktuelle Bedrohungslage für ihre Person im Herkunftsstaat hinreichend substantiieren können.

Unbestritten ist, dass sich die bei Asylgewährung seinerzeitige Bezugsperson der BF, der nunmehrige Ex-Gatte XXXX , im Zeitraum 2016-2018 oft monatelang im Herkunftsstaat aufgehalten hat und auch 2016 die Ausstellung eines biometrischen Reisepasses der Russischen Föderation beantragt hat, welcher ihm am 27.04.2016 ausgestellt worden ist. Da sich der Ex-Gatte der BF somit gemäß Art. 1 Z 1 Abschnitt C GFK freiwillig wieder unter den Schutz seines Herkunftsstaates gestellt hat, wurde ihm mit nunmehr rechtskräftigem Bescheid vom 08.05.2018 sein Asylstatus aberkannt.

Nach der Auffassung des VwGH kommt es für die Aberkennung des einem Familienangehörigen im Familienverfahren zuerkannten Status des Asylberechtigten wegen Wegfalls der fluchtauslösenden Umstände darauf an, ob die Umstände, auf Grund deren die Bezugsperson als Flüchtling anerkannt worden ist, nicht mehr bestehen und es diese daher nicht weiterhin ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen (vgl. VwGH vom 23.10.2019, Ra 2019/19/0059).

Die obigen Erwägungen des VwGH müssten folgerichtig somit insbesondere auch für jene Fälle gelten in denen aufgrund des Wegfalls der seinerzeitigen asylbegründeten Umstände die Bezugsperson es nicht nur weiterhin nicht ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, sondern - wie in casu - eine solche Unterschutzstellung bereits vollzogen hat. Es ist im gegenständlichen Fall nämlich davon auszugehen, dass sich die seinerzeit asylbegründenden Umstände des Ex-Gatten derart geändert haben, dass diesem die wiederholte Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht nur möglich war, sondern sich dieser durch seine Reispassantrag auch wieder unter den Schutz desselben zu stellen vermochte. Darüber hinaus hat der Ex-Gatte der BF im Zuge seines Aberkennungsverfahrens bei seiner Einvernahme am 12.03.2018 auf die explizite Frage, ob er in Dagestan Probleme bezüglich Bedrohung oder Verfolgung gehabt hätte, ostentativ mit den Worten „Nein, es war alles in Ordnung“ geantwortet und eine noch bestehende Bedrohung seiner Person im Herkunftsstaat somit von sich aus bestritten.

Die BF, welche sich seit Zuerkennung des Status des Asylberechtigten über 14 Jahre im Bundesgebiet aufhält, hat ihren Hauptwohnsitz im Bundesgebiet und ist unbescholten. Der BF kommt nach Verständigung der Niederlassungsbehörde durch die belangte Behörde von der beabsichtigten Aberkennung seit Mai 2019 ein XXXX nach § 45 Abs. 8 NAG zu, womit in casu auch eine Aberkennung des Status der Asylberechtigten, nach Ablauf der 5-Jahresfrist und ohne Vorliegen einer Straffälligkeit der BF im Sinne des § 7 Abs. 3 2. Satz AsylG 2005 möglich ist.

Da sich im gegenständlichen Fall die Aberkennung des Status der Asylberechtigten insgesamt als rechtmäßig erweist, hat die belangte Behörde auch gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 zu Recht festgestellt, dass der BF die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukommt.

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides war daher gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 und Abs. 4 AsylG 2005 als unbegründet abzuweisen.

3.3. Zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF.):

3.3.1. Der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten aberkannt worden ist, gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. Nach § 8 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Entscheidung über die Zuerkennung dieses Status mit der der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach § 7 AsylG 2005 zu verbinden.

Angesichts des im Wesentlichen identen Regelungsinhalts des bis 31.12.2005 in Kraft stehenden § 8 Abs. 1 AsylG 1997 im Verhältnis zum nunmehr in Geltung stehenden § 8 Abs. 1 AsylG 2005 – abgesehen vom im letzten Halbsatz des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 nunmehr enthaltenen zusätzlichen Verweis auf eine eventuelle ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes als weitere mögliche Bedingung für eine Gewährung subsidiären Schutzes – lässt sich auch die bisherige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum § 8 AsylG 1997 auch auf die neue Rechtslage anwenden.

Gemäß Art. 2 EMRK wird das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt. Abgesehen von der Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines durch Gesetz mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen worden ist, darf eine absichtliche Tötung nicht vorgenommen werden. Letzteres wurde wiederum durch das Protokoll Nr. 6 beziehungsweise Nr. 13 zur Abschaffung der Todesstrafe hinfällig. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.

Gemäß § 8 Abs. 3 und 6 AsylG 2005 ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich dieses Status abzuweisen, wenn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG 2005) offensteht oder wenn der Herkunftsstaat des Asylwerbers nicht festgestellt werden kann. Daraus und aus mehreren anderen Vorschriften (§ 2 Abs. 1 Z 13, § 10 Abs. 1 Z 2, § 27 Abs. 2 und 4 AsylG 2005) ergibt sich, dass dann, wenn dem Asylwerber kein subsidiärer Schutz gewährt wird, sein Antrag auf interanationalen Schutz auch in dieser Beziehung förmlich abzuweisen ist.

Somit ist zu klären, ob im Falle der Rückführung des Fremden in seinen Herkunftsstaat Art. 2 EMRK (Recht auf Leben), Art. 3 EMRK (Verbot der Folter), das Protokoll Nr. 6 zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe oder das Protokoll Nr. 13 zur EMRK über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe verletzt werden würde. Die Anforderungen an die Schutzwilligkeit und Schutzfähigkeit des Staates entsprechen jenen, wie sie bei der Frage des Asyls bestehen (VwGH 08.06.2000, Zl. 2000/20/0141). Ereignisse, die bereits längere Zeit zurückliegen, sind daher nicht geeignet, die Feststellung nach dieser Gesetzesstelle zu tragen, wenn nicht besondere Umstände hinzutreten, die ihnen einen aktuellen Stellenwert geben (vgl. VwGH 14.10.1998, Zl. 98/01/0122; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Unter "realer Gefahr" ist eine ausreichend reale, nicht nur auf Spekulationen gegründete Gefahr möglicher Konsequenzen für den Betroffenen ("a sufficiently real risk") im Zielstaat zu verstehen (VwGH 19.02.2004, Zl. 99/20/0573; auch ErläutRV 952 BlgNR 22. GP zu § 8 AsylG 2005). Die reale Gefahr muss sich auf das gesamte Staatsgebiet beziehen und die drohende Maßnahme muss von einer bestimmten Intensität sein und ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um in den Anwendungsbereich des Artikels 3 EMRK zu gelangen (zB VwGH 26.06.1997, Zl. 95/21/0294; 25.01.2001, Zl. 2000/20/0438; 30.05.2001, Zl. 97/21/0560). Die bloße Möglichkeit einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben wird, genügt nicht, um seine Abschiebung in diesen Staat unter dem Gesichtspunkt des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig erscheinen zu lassen; vielmehr müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass gerade der Betroffene einer derartigen Gefahr ausgesetzt sein würde (vgl. VwGH 27.02.2001, Zl. 98/21/0427; 20.06.2002, Zl. 2002/18/0028; siehe dazu vor allem auch EGMR 20.07.2010, N. gg. Schweden, Zl. 23505/09, Rz 52ff; 13.10.2011, Husseini gg. Schweden, Zl. 10611/09, Rz 81ff).

Herrscht in einem Staat eine extreme Gefahrenlage, durch die praktisch jeder, der in diesen Staat abgeschoben wird – auch ohne einer bestimmten Bevölkerungsgruppe oder Bürgerkriegspartei anzugehören –, der konkreten Gefahr einer Verletzung der durch Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt wäre, so kann dies der Abschiebung eines Fremden in diesen Staat entgegenstehen. Die Ansicht, eine Benachteiligung, die alle Bewohner des Staates in gleicher Weise zu erdulden hätten, könne nicht als Bedrohung im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 gewertet werden, trifft nicht zu (VwGH 25.11.1999, Zl. 99/20/0465; 08.06.2000, Zl. 99/20/0203; 17.09.2008, Zl. 2008/23/0588). Selbst wenn infolge von Bürgerkriegsverhältnissen letztlich offen bliebe, ob überhaupt noch eine Staatsgewalt bestünde, bliebe als Gegenstand der Entscheidung nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Frage, ob stichhaltige Gründe für eine Gefährdung des Fremden in diesem Sinne vorliegen (vgl. VwGH 08.06.2000, Zl. 99/20/0203).

Gemäß der Judikatur des EGMR muss der Antragsteller die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen und ernsthaften Gefahr schlüssig darstellen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 7.7.1987, Nr. 12877/87 – Kalema gg. Frankreich, DR 53, S. 254, 264). Dazu ist es notwendig, dass die Ereignisse vor der Flucht in konkreter Weise geschildert und auf geeignete Weise belegt werden. Rein spekulative Befürchtungen reichen ebenso wenig aus (vgl. EKMR, Entsch. Vom 12.3.1980, Nr. 8897/80: X u. Y gg. Vereinigtes Königreich), wie vage oder generelle Angaben bezüglich möglicher Verfolgungshandlungen (vgl. EKMR, Entsch. Vom 17.10.1986, Nr. 12364/86: Kilic gg. Schweiz, DR 50, S. 280, 289). So führt der EGMR in stRsp aus, dass es trotz allfälliger Schwierigkeiten für den Antragsteller "Beweise" zu beschaffen, es dennoch ihm obliegt so weit als möglich Informationen vorzulegen, die der Behörde eine Bewertung der von ihm behaupteten Gefahr im Falle einer Abschiebung ermöglicht ( z. B. EGMR Said gg. die Niederlande, 5.7.2005). Auch der Verwaltungsgerichtshof stellte wiederholt mit Verweis auf die ständige Judikatur des EGMR klar, dass – abgesehen von Abschiebungen in Staaten, in denen die allgemeine Situation so schwerwiegend ist, dass die Rückführung eines abgelehnten Asylwerbers dorthin eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde – es grundsätzlich der abschiebungsgefährdeten Person obliegt, mit geeigneten Beweisen gewichtige Gründe für die Annahme eines Risikos nachzuweisen, dass ihr im Falle der Durchführung einer Rückführungsmaßnahme eine dem Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung drohen würde (vgl. etwa VwGH 13.09.2016, Zl. Ra 2016/01/0096, Rz 9-12, zur diesbezüglich nicht beanstandeten Rückkehrmöglichkeit eines gesunden und arbeitsfähigen Revisionswerbers nach Kabul; VwGH 05.10.2016, Zl. Ra 2016/19/0158, Rz 13-14, zur Rückkehrmöglichkeit eines gesunden Revisionswerbers nach Mogadischu). Zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK ist es notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (VwGH 25.05.2016, Zl. Ra 2016/19/0036). Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger, noch zum Refoulementschutz nach der vorigen Rechtslage ergangenen, aber weiterhin gültigen Rechtsprechung erkannt, dass der Antragsteller das Bestehen einer solchen Bedrohung glaubhaft zu machen hat, wobei diese aktuelle Bedrohungssituation mittels konkreter, die Person des Fremden betreffende und durch entsprechende Bescheinigungsmittel untermauerte Angaben darzutun ist (VwGH 23.02.1995, Zl. 95/18/0049; 05.04.1995, Zl. 95/18/0530; 04.04.1997, Zl. 95/18/1127; 26.06.1997, ZI. 95/18/1291; 02.08.2000, Zl. 98/21/0461). Diese Mitwirkungspflicht des Antragstellers bezieht sich zumindest auf jene Umstände, die in der Sphäre des Asylwerbers gelegen sind und deren Kenntnis sich die Behörde nicht von Amts wegen verschaffen kann (VwGH 30.09.1993, Zl. 93/18/0214).

Bei außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegenden Gegebenheiten im Herkunftsstaat kann nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) die Außerlandesschaffung eines Fremden nur dann eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich, Zl. 30240/96; 06.02.2001, Bensaid, Zl. 44599/98; vgl. auch VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Unter "außergewöhnlichen Umständen" können auch lebensbedrohende Ereignisse (zB Fehlen einer unbedingt erforderlichen medizinischen Behandlung bei unmittelbar lebensbedrohlicher Erkrankung) ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art. 3 EMRK iVm. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 bilden, die von den Behörden des Herkunftsstaates nicht zu vertreten sind (EGMR 02.05.1997, D. gg. Vereinigtes Königreich; vgl. VwGH 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443; 13.11.2001, Zl. 2000/01/0453; 09.07.2002, Zl. 2001/01/0164; 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059). Nach Ansicht des VwGH ist am Maßstab der Entscheidungen des EGMR zu Art. 3 EMRK für die Beantwortung der Frage, ob die Abschiebung eines Fremden eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt, unter anderem zu klären, welche Auswirkungen physischer und psychischer Art auf den Gesundheitszustand des Fremden als reale Gefahr ("real risk") – die bloße Möglichkeit genügt nicht – damit verbunden wären (VwGH 23.09.2004, Zl. 2001/21/0137). Der EGMR geht weiter allgemein davon aus, dass aus Art. 3 EMRK grundsätzlich kein Bleiberecht mit der Begründung abgeleitet werden kann, dass der Herkunftsstaat gewisse soziale, medizinische oder sonstige unterstützende Leistungen nicht biete, die der Staat des gegenwärtigen Aufenthaltes bietet. Nur unter außerordentlichen, ausnahmsweise vorliegenden Umständen kann diesbezüglich die Entscheidung, den Fremden außer Landes zu schaffen, zu einer Verletzung des Art. 3 EMRK führen (vgl für mehrere. z. B. Urteil vom 2.5.1997, EGMR 146/1996/767/964 ["St. Kitts-Fall"], oder auch Application no. 7702/04 by SALKIC and Others against Sweden oder S.C.C. against Sweden v. 15.2.2000, 46553 / 99).

Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend (VwGH 25.05.2016, Zl. Ra 2016/19/0036). Selbst wenn vor dem Hintergrund dessen die BF bei einer Rückkehr in eine in materieller Hinsicht äußerst beschwerliche, von erheblicher Armut geprägten Lebenssituation gelangen könnte, wäre aus diesen Erwägungen nicht abzuleiten, dass im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen würden, die die hohe Schwelle eines Eingriffs iSv Art. 2 und 3 EMRK erreichen würden. Diesbezüglich ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach sich aus schlechten Lebensbedingungen keine Gefährdung bzw. Bedrohung ergibt, und äußerst schwierige und bescheidene Lebensverhältnisse hinzunehmen sind (vgl. dazu etwa VwGH 25.05.2016, Zl. Ra 2016/19/0036, wonach die Feststellung, dass ein gesunder, arbeitsfähiger und erwachsener Mann ohne Berufsausbildung und -erfahrung bei einer Rückkehr nach Kabul kein berufliches oder familiäres Netz mehr vorfinden würde, zwar geeignet war, eine schwierige Lebenssituation bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht darzutun, jedoch noch keine reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse; VwGH 16.07.2003, Zl. 2003/01/0059, wonach die voraussichtliche Unterbringung eines Asylwerbers in einem notdürftig errichteten, beheizten, mit Stroh ausgelegten Zelt, das er sich mit mehreren Personen teilen hätte müssen, grundsätzlich einer Abschiebung nicht entgegenstand, VwGH 05.10.2016, Zl. Ra 2016/19/0158, Rz 13-14, zur Rückkehrmöglichkeit eines gesunden Revisionswerbers nach Mogadischu ohne familiäre Unterstützung). Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend.

In seinem Urteil vom 24.04.2018, C-353/16, MP, hat jedoch der Europäische Gerichtshof (EuGH) wiederum klargestellt, dass der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger nach Art. 3 EMRK nicht abgeschoben werden kann, nicht in jedem Fall bedeutet, dass ihm subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Subsidiärer Schutz (nach Art. 15 lit. a und b der Richtlinie 2004/83 „Statusrichtlinie“) verlangt nach dieser Auslegung durch den EuGH vielmehr, dass der ernsthafte Schaden durch das Verhalten von Dritten (Akteuren) verursacht werden muss und dieser nicht bloß Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten im Herkunftsland ist. So darf der in Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2004/83 genannte ernsthafte Schaden etwa nicht bloß die Folge allgemeiner Unzulänglichkeiten des Gesundheitssystems des Herkunftslandes sein. Die Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustands eines an einer schweren Krankheit leidenden Drittstaatsangehörigen, die auf das Fehlen angemessener Behandlungsmöglichkeiten in seinem Heimatland zurückzuführen ist, ohne dass diesem Drittstaatsangehörigen die Versorgung vorsätzlich verweigert würde, kann keine ausreichende Rechtfertigung dafür sein, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2014, M'Bodj, C-542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 35 und 36)".

3.3.2. Aus dem oben festgestellten Sachverhalt ergab sich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im gegenständlichen Fall nicht vorliegen.

Vor dem Hintergrund der Feststellungen kann nicht gesagt werden, dass jene gemäß der Judikatur des EGMR geforderte Exzeptionalität der Umstände vorliegen würde, um die Außerlandesschaffung eines Fremden im Hinblick auf außerhalb staatlicher Verantwortlichkeit liegende Gegebenheiten im Zielstaat im Widerspruch zu Art. 3 EMRK erscheinen zu lassen (VwGH vom 21.08.2001, Zl. 2000/01/0443). Es liegen keine begründeten Anhaltspunkte dafür vor, dass die BF mit der hier erforderlichen Wahrscheinlichkeit befürchten müsste, im Herkunftsland Übergriffen von im gegebenen Zusammenhang ausreichender Intensität ausgesetzt zu sein.

Unter Zugrundelegung des bisher Ausgeführten kann auch nicht angenommen werden, dass die 51-jährige BF, die gesund und arbeitsfähig ist, in der Russischen Föderation über Angehörige verfügt, dort sozialisiert wurde und die Landessprache beherrscht, nach einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (etwa Nahrung, Unterkunft) einer lebensbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Dazu ist zu ergänzen, dass die Grundversorgung der russischen Bevölkerung - wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt - gesichert ist. Dazu ist zudem auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach sich aus schlechten Lebensbedingungen keine Gefährdung bzw. Bedrohung im Sinne des § 57 FrG ergibt (vgl. etwa VwGH 30.1.2001, Zl. 2001/01/0021). Selbst wenn vor dem Hintergrund dessen die BF bei einer Rückkehr in eine in materieller Hinsicht beschwerliche Lebenssituation gelangen könnte, war aus diesen Erwägungen nicht abzuleiten, dass im konkreten Fall außergewöhnliche Umstände ("exceptional circumstances") vorliegen würden, die die hohe Schwelle eines Eingriffs iSv Art. 2 und 3 EMRK erreichen würden.

Schließlich kann auch nicht gesagt werden, dass eine Abschiebung der BF für diese als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde. In der Russischen Föderation ist eine Zivilperson nicht allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer solchen Bedrohung ausgesetzt.

3.3.3. Insoweit war auch die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides gemäß § 8 Abs. 1 AsylG als unbegründet abzuweisen.

3.4. Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß § 24 Abs. 2 VwGVG kann die Verhandlung entfallen, wenn (Z 1) der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder (Z 2) die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist. Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen. Das Verwaltungsgericht kann gemäß § 24 Abs. 5 VwGVG von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.

In seinem Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. 2014/20/0017, ging der Verwaltungsgerichtshof davon aus, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" nunmehr folgende Kriterien beachtlich sind: „Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.“ (VwGH 28.05.2014, Zl. 2014/20/0017).

In der Beschwerde wurde ein Antrag auf Abhaltung einer mündlichen Verhandlung gestellt.

Der maßgebliche Sachverhalt steht unter Zugrundelegung der Angaben der BF, sowie der Länderinformationen fest. Hinweise auf Verfahrensmängel liegen nicht vor. Die vom Bundesamt getroffene, weiter oben in den wesentlichen Punkten wiedergegebene Würdigung der Beweise erweist sich – wie bereits ausgeführt - im Kern als nachvollziehbar und im Ergebnis als zutreffend. Die Beschwerde enthält kein relevantes neues bzw. kein ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen. Auch tritt die BF in der Beschwerde den seitens der Behörde erster Instanz getätigten beweiswürdigenden Ausführungen nicht in ausreichend konkreter und substantiierter Weise entgegen (vgl. dazu auch VwGH 25.03.2015, Zl. Ra 2014/18/0168). Somit ist diesbezüglich der maßgebliche Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen. Auch sonst hat sich kein Hinweis ergeben, den maßgeblichen Sachverhalt mit der BF im Rahmen einer Verhandlung zu erörtern (vgl. dazu etwa VwGH 05.12.2017, Zl. Ra 2016/01/0166). Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte sohin gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben.

Zu B) Zulässigkeit der Revision: Gemäß § 25a Abs.1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs.4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht.

Der VwGH vertritt in seiner bisherigen Judikatur die Auffassung, dass im Unterschied zu allen anderen Aberkennungstatbeständen des § 7 Abs. 1 AsylG 2005 nur die in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK vorgesehene „Wegfall der Umstände“-Klausel nicht gesondert für einen Familienangehörigen, der seinen Asylstatus von einer Bezugsperson abgeleitet hat, geprüft werden kann, sondern nur vor dem Hintergrund, ob jene asylbegründende Umstände eben für die Bezugsperson zwischenzeitig weggefallen sind und es eben diese Person weiterhin nicht mehr ablehnen kann, sich unter den Schutz des Herkunftsstaates zu stellen (vgl. VwGH vom 23.10.2019, Zl .2019/19/0059).

Die Bestimmung des Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK stellt primär auf eine grundlegende Änderung der (objektiven) Umstände im Herkunftsstaat ab, kann jedoch auch die Änderung der in der Person des Flüchtlings gelegenen Umstände umfassen […] (vgl. Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, § 7 Asyl- und Fremdenrecht, § 7 AsylG, K9).

Muss bei einer freiwilligen Unterschutzstellung im Sinne des Art. 1 Abschnitt C Z 1 GFK nicht ebenfalls regelmäßig von einem grundlegenden und dauerhaften Wegfall jener asylbegründenden (objektiven) Umstände im Herkunftsstaat bzw. asylbegründenden Umstände - in der Person des Flüchtlings gelegen - ausgegangen werden und bejahendenfalls auch in diesem Zusammenhang der Aberkennungstatbestand gemäß § 7 Abs. 1 AsylG iVm Art. 1 Abschnitt C Z1 GFK für einen Familienangehörigen nur in Zusammenhang mit dem Wegfall dieser asylbegründenden Umstände für die Bezugsperson geprüft werden?

Es wäre objektiv schwer zu begründen, dass ein Wegfall von einst asylbegründenden Umständen, welcher dazu führen würde, dass die Bezugsperson es weiterhin nicht ablehnen kann, sich unter den Schutz ihres Heimatlandes zu stellen, im Hinblick auf deren Familienangehörigen mit abgeleiteten Asyl anders zu sehen sind, als der Wegfall von einst asylbegründenden Umständen in jenen Fällen, wo eine solche Unterschutzstellung der Bezugsperson bereits stattgefunden hat.

Die Revision ist sohin gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

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