AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2024:I403.2283119.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , StA. Marokko, vertreten durch: Verein Tralalobe, Lerchenfelder Gürtel 48/14, 1080 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD XXXX vom 09.11.2023, Zl. XXXX zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführerin, BF) stellte am 16.08.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie mit einer Bedrohung ihres Lebens durch ihren Vater in Marokko begründete. Sie gehöre der Volksgruppe der Berber an, ihr Vater habe sie aufgrund ihrer Beziehung zu einem Araber monatelang gefangen gehalten und gefoltert, bis ihr die Flucht gelungen sei.
Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA), der belangten Behörde, vom 09.11.2023 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Marokko abgewiesen (Spruchpunkt II.). Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz wurde ihr gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Marokko zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihr eine Frist von 14 Tagen für eine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VI.). Das Vorbringen der BF, Marokko aufgrund der Misshandlungen durch ihren Vater verlassen zu haben, wurde für glaubhaft befunden; es sei allerdings nicht asylrelevant, da sich die BF des Schutzes des marokkanischen Staates bedienen könne. Ihr sei eine Rückkehr auch zumutbar, könne sie doch etwa wieder als Lehrerin arbeiten und sich eine neue Existenz aufbauen.
Dagegen wurde am 13.12.2023 Beschwerde erhoben und insbesondere moniert, dass die belangte Behörde von den von ihr selbst zitierten Länderberichten abweiche, da etwa der im Bescheid enthaltenen Anfragebeantwortung zur Situation alleinstehender Frauen in Marokko zu entnehmen sei, dass es keinen gesetzlichen Opferschutz gebe, Gewaltdrohungen nicht ernst genommen würden und Polizisten Frauen bei häuslicher Gewalt zumeist raten würden, wieder nach Hause zurückzukehren. Der marokkanische Staat sei nicht als schutzwillig oder –fähig anzusehen. Die BF habe versucht, sich in Marokko vor ihrem Vater zu verstecken, dies sei ihr aber nicht gelungen, da ihr Vater auch ihre Sozialkontakte kenne. Die BF habe sich auch nie finanziell selbst erhalten, sondern nur einige Stunden in einer Moschee andere Frauen unterrichtet; ihr sei es nicht möglich, eine Arbeitsstelle zu finden. Der BF drohe bei ihrer Rückkehr Gewalt und Folter aufgrund ihrer Flucht und des ihr unterstellten außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Die BF leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer rezidivierenden schweren depressiven Störung. Sie sei „aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „Familie“ und der „alleinstehenden Frauen, die von häuslicher Gewalt, geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sind““ aus Marokko geflüchtet.
Beschwerde und Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 20.12.2023 vorgelegt. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.12.2023 wurde das Verfahren gemäß § 38 AVG iVm § 17 VwGVG bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) über die in der Rechtssache C-217/23 mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28.03.2023, Ra 2022/20/0289, und in der Rechtssache C-621/21 mit Beschluss des Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) vom 29.09.2021 vorgelegten Fragen ausgesetzt.
Am 16.01.2024 erging das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-621/21 und das gegenständliche Verfahren wurde fortgesetzt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Feststellungen zur Person der BF und zu ihren Fluchtgründen
Die 41jährige Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige Marokkos; sie gehört der Volksgruppe der Berber und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an. Sie stammt aus der Provinz Ouarzazate im Süden Marokkos. Nach einem 12jährigen Schulbesuch studierte sie drei Jahre Geographie. Während des Studiums wohnte sie bei ihrem Onkel, der gemeinsam mit der BF nach einem Jahr von Rabat nach Agadir zog.
Ihre Eltern, drei Schwestern und drei Brüder leben in Marokko. Die BF geriet bereits als Jugendliche in Konflikt mit ihrem Vater, da dieser sie gegen ihren Willen verheiraten wollte. Die BF wurde von ihrem inzwischen verstorbenen Onkel mütterlicherseits unterstützt, der ihr das Studium finanzierte und bei dem sie – zunächst in Rabat, dann in Agadir – während ihres Studiums lebte. Nach dem Abschluss des Studiums zog sie zurück in ihr Elternhaus im Dorf XXXX . Ihr Vater schlug und beschimpfte sie nach ihrer Rückkehr regelmäßig, meinte aber, er werde sie zu keiner Ehe mehr zwingen, da sie bereits zu alt sei. Auf Wunsch des Imam begann die BF einmal wöchentlich in der Moschee Frauen beim Erlernen der Schrift zu unterstützen. Im Rahmen dieser unbezahlten Tätigkeit lernte die BF einen Mann kennen, mit dem sie sich gut verstand und der bei ihrem Vater um ihre Hand anhielt. Ihr Vater verweigerte die Eheschließung mit Hinweis darauf, dass die BF keinen Araber heiraten dürfe. Der BF wurde auch verboten, weiter in der Moschee zu unterrichten und sie durfte das Haus nicht mehr verlassen. Über Vermittlung ihrer Cousine kam es nochmals zu einem Gespräch mit dem arabischen Mann, die BF wurde dabei aber von ihrem Bruder gesehen. Ihr Vater verletzte sie daraufhin schwer und sperrte sie während der nächsten acht Monate in den Stall zu den Tieren. Ihr Vater warf der BF vor, eine sexuelle Beziehung mit dem Mann eingegangen zu sein, was nicht den Tatsachen entsprach. Die Gewalt des Vaters gegenüber der BF eskalierte einmal derart, dass er die BF mit einer Eisenstange verbrannte, ihr Chili und Salz in die Vagina gab und danach eine heiße Flüssigkeit über Vagina und Oberschenkel schüttete. Die Mutter der BF versorgte die BF und ihre Wunden, wenn sie täglich in den Stall kam, um die Kuh zu melken. Als der Vater der BF hörte, dass der Mann, zu dem die BF eine platonische Beziehung gehabt hatte, wieder im Dorf sei, lauerte er ihm mit anderen gemeinsam auf und schlug und folterte ihn. Die Mutter der BF ließ in dieser Nacht die Stalltür offen und gab der BF ihre Wertgegenstände, damit sie fliehen konnte. Die BF flüchtete nach Tanger, wo sie einige Monate bei einer ehemaligen Studienkollegin unterkam. Es gelang ihr aber nicht, eine Anstellung zu finden. Die BF telefonierte einmal mit ihrer Mutter; der Vater bekam dies mit und zwang die Mutter, den Aufenthaltsort der BF bekanntzugeben, weswegen diese in die Türkei flüchtete.
Die BF flog am 19.03.2022 von Marokko in die Türkei, wo sie sich vier Monate aufhielt, ehe sie nach Österreich weiterreiste und hier am 16.08.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.
Die BF leidet an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und einer rezidivierenden schweren depressiven Störung und hat bereits einen Suizidversuch begangen. Ihr wurde Trittico verschrieben und ist sie engmaschig in psychiatrischer Kontrolle. Aus psychiatrischer Sicht besteht bei einer Abschiebung nach Marokko ein hohes Risiko einer Dekompensation und damit einhergehend eine akute Eigengefährdung.1.2. Feststellungen zu einer Verfolgung der BF im Falle einer Rückkehr nach Marokko
Wenn die BF zu ihrer Familie zurückkehrt, wird sie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von ihrem Vater und ihren Brüdern bzw. anderen männlichen Verwandten misshandelt und/oder getötet werden. Der marokkanische Staat kann sie davor nicht ausreichend schützen, da die Polizei bei innerfamiliären Konflikten selten einschreitet und es auch keine rechtliche Handhabe gibt, bevor eine Straftat erfolgt ist. Es gibt Frauenhäuser und NGO´s, die sich Opfern häuslicher Gewalt widmen, doch in unzureichender Kapazität. Die BF ist auch nicht in der Lage, sich an einem Ort fernab ihrer Verwandten alleine eine neue Existenz aufzubauen.
1.3. Feststellungen zur Lage in Marokko:
1.3.1. Auf Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Marokko vom 20.09.2023 ist zur Lage von Frauen festzustellen:
Die Lage der Frauen in Marokko ist gekennzeichnet durch die Diskrepanz zwischen dem rechtlichen Status (Gleichstellungsartikel 19 der Verfassung) und der Lebenswirklichkeit. Insbesondere im ländlichen Raum bestehen gesellschaftliche Zwänge aufgrund traditioneller Einstellung fort. Auch in internationalen Abkommen hat sich Marokko zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen verpflichtet, aber auch hier den Vorrang des Islams geltend gemacht. Es gibt eine meinungsstarke Zivilgesellschaft, die immer wieder die vollständige Gleichstellung von Frauen, auch unter Missachtung religiöser Vorschriften, fordert. Sie erhält dabei dezente Schützenhilfe des Königs (AA 22.11.2022).
Zahlreiche Probleme in Bezug auf Diskriminierung von Frauen bleiben bestehen, da die verfassungsmäßig und gesetzlich vorgesehenen Regelungen nur unzureichend vollzogen werden (USDOS 20.3.2023). Es besteht weiterhin erhebliche gesellschaftliche Diskriminierung von Frauen (FH 2023). Obwohl die Verfassung Frauen mit Männern in zivilen, politischen, ökonomischen und kulturellen Angelegenheiten rechtlich gleichstellt, werden Männer im Eigentumsrecht (USDOS 20.3.2023) bei Erbschaften (USDOS 20.3.2023; vgl. AA 22.11.2022, HRW 16.1.2023) sowie bei Scheidungen bevorzugt (HRW 12.1.2023). Obwohl die „Moudawana“ eine deutliche Verbesserung für Frauen bedeutete, gibt es somit weiter Defizite in der Gleichberechtigung [Anm.: Moudawana ist das marokkanische Personenstandsgesetz aus dem Jahr 2004, dass trotz der islamisch geprägten Gesellschaft versucht, die Stellung der Frauen und Kinder zu verbessern]. Mit dem Gesetz 62.17 soll Frauen wenigstens ein Anspruch auf Teilhabe an landwirtschaftlichem Gemeinschaftseigentum zugestanden werden; es geht dabei um 15 Millionen Hektar Land in Verwaltung von ethnischen Minderheiten und 6 Millionen bislang ausgeschlossenen Frauen („Soulaliyates“) (AA 22.11.2022).
Im Jahr 2022 erreichte Marokko beim Gender Inequality Index einen Wert von 0,62 und liegt damit auf Platz 136 von 146 Ländern (Statista.com 26.4.2023).
Kein Gesetz schränkt die Beteiligung von Frauen oder Angehörigen von Minderheiten am politischen Prozess ein, und sie nehmen auch teil (USDOS 21.3.2023). Die jüngsten Wahlgesetze haben dazu beigetragen, dass bei den Kommunalwahlen im September 2021 mehr Frauen kandidierten: 27 % der Kandidaten waren weiblich, im Vergleich zu 12 % bei den letzten Kommunalwahlen im Jahr 2015. Trotzdem führen Frauen nur 1 % der Bezirke an. Bei den nationalen Wahlen sind 60 der 395 Sitze in der Repräsentantenkammer für Frauen reserviert; außerdem soll die Hälfte der 30 für Jugendliche reservierten Sitze von Frauen besetzt werden. Das im Oktober gebildete Kabinett enthält die Rekordzahl von 7 Frauen (FH 2023).
Nur 21 % der Frauen sind erwerbstätig, gegenüber 70 % der marokkanischen Männer. Die Pandemie wird auch die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verschärfen, da Frauen weniger Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten und Gesundheitsdiensten haben werden (BS 23.2.2022). Auch im Berufsleben bleibt die Lage der Frauen schwierig, insbesondere auf dem Land, wo patriarchale Strukturen dominant sind. Laut Meinungsumfragen stehen 43 % der marokkanischen Männer der beruflichen Aktivität von Frauen kritisch gegenüber. In höheren Ämtern nimmt der weibliche Anteil im Vergleich mit männlichen Amtsträgern rasch ab, auch wenn Frauen vereinzelt besonders exponierte Führungspositionen einnehmen (AA 22.11.2022). Obwohl die Gleichstellung der Geschlechter auch in der Verfassung von 2011 anerkannt wurde, werden Frauen auf gesellschaftlicher Ebene weiterhin erheblich diskriminiert und sind in der Erwerbsbevölkerung unterrepräsentiert (FH 2023).
Außerehelicher Geschlechtsverkehr ist strafbar. Alle ledigen Mütter sind damit von strafrechtlicher Verfolgung bedroht. Tatsächlich wird außerehelicher Geschlechtsverkehr nur in Ausnahmefällen strafrechtlich verfolgt. Meist geschieht dies auf Anzeige von Familienangehörigen und nur in Ausnahmefällen auch direkt durch den Staat. Die demokratische Linke (FGD) forderte laut „Maghreb Post“ vom 31.8.2021 die Abschaffung dieser „Moralparagraphen“ (AA 22.11.2022).
Vergewaltigung steht unter Strafe. Das Strafmaß beträgt fünf bis zehn Jahre; wenn das Opfer minderjährig ist, zehn bis zwanzig Jahre (USDOS 20.3.2023).
Das marokkanische Gesetz stellt Vergewaltigung in der Ehe nicht ausdrücklich unter Strafe und bleibt somit straflos (HRW 12.1.2023; vgl. AA 22.11.2022). Frauen, die eine Vergewaltigung melden, können wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs strafrechtlich verfolgt werden (HRW 12.1.2023). Das Gesetz zum Schutz von Frauen vor Gewalt aus dem Jahr 2018 sieht einen erhöhten Strafrahmen bei Körperverletzung durch den Ehepartner vor. Ein Urteil des Familiengerichts Rabat von Ende April 2022 hat die sexuelle Selbstbestimmung der Ehefrau in der Ehe gestärkt und Diskussionen über die Vergewaltigung in der Ehe wieder aufflammen lassen (AA 22.11.2022).
Während das marokkanische Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen von 2018 einige Formen häuslicher Gewalt unter Strafe stellt, Präventionsmaßnahmen einführte und neue Schutzmaßnahmen für Überlebende vorsieht, verlangt es von den Opfern, Strafverfolgung zu beantragen, um Schutz zu erhalten, was nur wenige tun. Es legt auch nicht die Pflichten von Polizei, Staatsanwälten und Ermittlungsrichtern in Fällen häuslicher Gewalt fest oder finanziert Frauenhäuser (HRW 12.1.2023).
Sexuelle Belästigung kann zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren und einer Geldstrafe von 60.000 bis 120.000 Dirham (6.300 bis 12.600 US-Dollar) führen. Allgemeine Beleidigungs- und Verleumdungsklagen bleiben im Strafgesetzbuch. Eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung kann zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren und zu einer Geldstrafe führen. Das Gesetz schreibt vor, dass der nationale Sicherheitsdienst, bzw. die DGSN (Direction Générale de la Surveillance du Térritoire), die Generalstaatsanwaltschaft, das Oberste Gericht und die Ministerien für Gesundheit, Jugend und Frauen über spezialisierte Einheiten verfügen, die sich in Fällen von geschlechtsspezifischer Gewalt untereinander abstimmen. Diese spezialisierten Stellen nehmen Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt auf, bearbeiten sie und bieten den Opfern psychologische Unterstützung und andere Dienstleistungen an. Mehrere NGOs stellten Überlebenden häuslicher Gewalt Hotlines, Unterkünfte, Ressourcen, Beratung und rechtliche Unterstützung zur Verfügung. Es gibt jedoch Berichte, dass diese Unterkünfte für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich waren (USDOS 20.3.2023).
Im Juli 2020 berichtete ein Netzwerk von NGOs, dass es weiterhin zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt kommt (AA 22.11.2022). Nach Angaben von lokalen NGOs melden Opfer die überwiegende Mehrheit sexueller Übergriffe nicht an die Polizei, da sie unter sozialem Druck stehen und befürchten, dass die Gesellschaft die Opfer höchstwahrscheinlich zur Verantwortung ziehen würde. Die Polizei untersucht Fälle selektiv; von der geringen Zahl, die vor Gericht gestellt werden, bleiben erfolgreiche Strafverfolgungen selten (USDOS 20.3.2023).
Viele Richter sind voreingenommen und urteilen zugunsten des Mannes. Landesweit gibt es 29 Beratungszentren und 48 Einrichtungen, die Mediationen bei innerfamiliären Konflikten durchführen, sowie einige Frauenhäuser, die Zuflucht bieten (AA 22.11.2022). Das Ministerium für Solidarität, Frauen, Familien und soziale Entwicklung hat in den letzten Jahren zahlreiche Frauenberatungszentren gegründet. Aus Regierungsstatistiken geht außerdem hervor, dass 30,8 Millionen Dirham zur direkten Unterstützung von 172 Beratungsstellen für weibliche Opfer häuslicher Gewalt investiert wurden. Ein paar NGOs gewährleisten auch den Schutz von Frauen in Frauenhäusern und bieten darüber hinaus Unterstützung und Beratung. Berichten zufolge sind diese Schutzhäuser für Frauen mit körperlichen Einschränkungen oftmals nicht adaptiert (ÖB 8.2021).
Quellen:
AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (22.11.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Marokko (Stand: November 2022), https://www.ecoi.net/en/file/local/2082727/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_Marokko_%28Stand_November_2022%29%2C_22.11.2022.pdf , Zugriff 20.3.2023
BS - Bertelsmann Stiftung (23.2.2022): Country Report 2022 – Morocco, Güterloh: Bertelsmann Stiftung, https://www.ecoi.net/en/file/local/2069692/country_report_2022_MAR.pdf , Zugriff 8.8.2023
FH - Freedom House (2023): Freedom in the World 2023 – Morocco, https://freedomhouse.org/country/morocco/freedom-world/2023 , Zugriff 16.5.2023
HRW - Human Rights Watch (12.1.2023): World Report 2023 – Morocco and Western Sahara, https://www.ecoi.net/en/document/2085478.html , Zugriff 11.4.2023
ÖB - Österreichische Botschaft Rabat [Österreich] (8.2021): Asylländerbericht Marokko, https://www.ecoi.net/en/file/local/2060711/MARO_%C3%96B_Bericht_2021_08.pdf , Zugriff 26.7.2023
Statista.com (26.4.2023): Gender gap index in Morocco 2022, https://www.statista.com/statistics/1247366/gender-gap-index-in-morocco-by-category/ , Zugriff 26.7.2023
USDOS - US Department of State [USA] (20.3.2023): 2022 Country Report on Human Rights Practices: Morocco, https://www.ecoi.net/en/document/2089139.html , Zugriff 20.4.2023
1.3.2. Auf Basis der ebenfalls im Bescheid zitierten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Marokko: Situation alleinstehender Frauen, 10. Februar 2020 (https://www.ecoi.net/en/file/local/2029078/MARO_RF_SOL_Situation+alleinstehender+Frauen_2020_02_10_KE.odt ; Zugriff am 19. Jänner 2024) ist festzustellen:
Sind alleinstehende Frauen ohne familiäre Unterstützung in Marokko vom Staat geschützt? Werden alleinstehende Frauen im Marokko von staatlicher Seite vor Gewalt und sexuellen Übergriffen geschützt?
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass der Schutz vor sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt (SGBV) von staatlicher Seite zwar einen rechtlichen Rahmen erhalten hat, allerdings wird in den folgenden Berichten verdeutlicht, dass die Ausführung bzw. Anwendung dieser Rechte durch diskriminierende, patriarchale Einstellungen und geschlechtsspezifische Stereotypen beeinträchtigt wird, bzw. gar nicht erst zur Anwendung kommt. Die marokkanische Gesetzgebung hat keine gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Opfer vorgesehen. Zudem gibt es kein Rechtsinstrument, das Polizeibeamte dazu verpflichtet, einem Schutzersuchen stattzugeben.
Einzelquellen:
Im folgenden Bericht zur Lage von Opfer von Menschenhandel berichtet ein Interviewpartner des Danish Immigration Service, dass eine Person, die Opfer eines Verbrechens wurde, sich direkt an die örtliche Polizeidienststelle wenden und dort eine Beschwerde einreichen kann. Es ist auch möglich, eine schriftliche Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft einzureichen. Jedoch enthält die Strafprozessordnung keine Bestimmung, die die Gerichtspolizei verpflichtet, eine Anzeige aufzunehmen, so dass es vorkommen kann, dass Gerichtspolizisten sich weigern, die Anzeige zu registrieren. Wenn das Opfer jedoch eine schriftliche Anzeige beim Staatsanwalt einreicht, wird diese Anzeige in einem Register erfasst, und das Opfer muss über die Weiterverfolgung seiner Anzeige informiert werden.
Nach Eingang einer Anzeige muss die Kriminalpolizei den Fall untersuchen und einen Bericht verfassen, in dem die Aussagen des Opfers und die Aussagen des Täters festgehalten werden; anschließend muss der Bericht dem Staatsanwalt übermittelt werden, der über die weitere Vorgehensweise entscheidet. Der Staatsanwalt kann die Anzeige entweder ohne weitere Maßnahmen abweisen oder den Täter vor das Strafgericht bringen.
Weiters informiert der Bericht, dass die Behörden in der Praxis Gewaltandrohungen gegen Personen nicht ernst nehmen und darüber hinaus verfügen die Behörden auch nicht über ausreichend Mittel, um Schutz zu bieten, wenn keine Sozialen Schutzzentren oder (Not-) Unterkünfte vorhanden sind, in denen Opfer untergebracht werden können. Sie raten den Frauen meist zurückzukehren. Es gibt kein Rechtsinstrument, das Polizeibeamte dazu verpflichtet, einem Schutzersuchen stattzugeben.
Die Polizei kann auch ein spezielles Verfahren anwenden, in dem der Angreifer vorgeladen und aufgefordert wird, sich nicht mehr an das Opfer zu wenden. Es handelt sich um ein Vorverfahren, in dem die Angelegenheiten "informell" behandelt werden. Es wird von Frauenunterstützungseinheiten innerhalb des Ministère Public und auf den Polizeistationen durchgeführt. Es ist also eine Art Erinnerung an das Gesetz, das die Gewaltopfer unterstützen soll. Falls der Angreifer sich weigert, dieses Verhalten aufzugeben, muss der Ehepartner nach den bestehenden Verfahren mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. Es handelt sich nicht um einen Mechanismus, der automatisch angewendet wird. Das Gesetz 103-13 gegen Gewalt gegen Frauen, das am 12.9.2018 in Kraft getreten ist, sieht die Einrichtung eines Referats vor, das sich der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen innerhalb der Generaldirektion für nationale Sicherheit und innerhalb der Gerichte widmet.
Das Gesetz sieht auch den Schutz von Frauen vor, die Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt sind:
- Im Falle von Drohungen gegen das Opfer den Täter zu ermitteln
- Einweisung des Opfers in ein Krankenhaus oder Schutzzentrum
In der Praxis werden diese gesetzlichen Bestimmungen nicht aktiv genutzt. Die unzureichende Kapazität der Krankenhäuser und Sozialschutzzentren stellt ein großes Hindernis dar.
Die marokkanischen Behörden bieten einer Person, die von einer Straftat bedroht ist, nicht automatisch Schutz an. Die Behörden reagieren in der Regel erst nach einer Straftat und selten vorher. Der marokkanische Gesetzgeber hat keine gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz des Opfers vorgesehen, die es beispielsweise erlauben würden, wie in westlichen Ländern die Polizei mit der Überwachung der Wohnung eines Opfers zu beauftragen.
DIS - Danish Immigration Service (10.2029): Morocco - Protection and assistance to victims of human trafficking, Oktober 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2018054/COI_report_morocco_protection_assistance_victims_of_human_trafficking_oct_2019.pdf , Zugriff 4.2.2020
Wie bereits angeführt sind besonders Frauen in Marokko anfällig für sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt (SGBV), da Frauen in Marokko diskriminiert werden. Die tief verwurzelte Ungleichheit in der Gesetzgebung - die durch Bräuche, schädliche Praktiken und religiöse Normen fortgeschrieben wird - untermauert diskriminierende, patriarchale Einstellungen und geschlechtsspezifische Stereotypen. Der Forschungsbericht der „International Commission of Jurists“ (ICJ) konnte zeigen, dass diese Einstellungen während der Ermittlung, Verfolgung und Gerichtsverhandlung von SGBV-Fällen auftauchen und so den Zugang von Frauen zur Justiz bei SGBV-Delikten in Marokko untergraben. Laut Befragungen des ICJ haben SGBV-Opfer mitgeteilt, dass sich Polizeibeamte weigerten, ihre Beschwerden zu registrieren, wenn ihre Beschwerde z.B. die Verübung von Missbrauch durch einen männlichen Verwandten betraf. Während der marokkanische Rechtsrahmen (Artikel 30 der Strafprozessordnung) anerkennt, dass es dem Staat obliegt, die Akteure des Justizsektors für Fehlverhalten oder die Weigerung eine Beschwerde zu bearbeiten, zur Verantwortung zu ziehen, wird Fehlverhalten im Zusammenhang mit Diskriminierung selten untersucht. Solche diskriminierenden Einstellungen sind in der Praxis verankert.
Die juristische Stereotypisierung, stellt ebenfalls ein weiteres Hindernis für die Opfern von SGBV in Marokko dar. Diese Vorurteile beeinträchtigen die Richter, faire Entscheidungen auf der Grundlage der ihnen vorgelegten Fakten, Untersuchungen und Beweise zu treffen, und beeinträchtigen somit auch die Unparteilichkeit und Integrität des Justizsystems. Diese Stereotypen beeinträchtigen das Recht von Frauen auf ein faires Verfahren, insbesondere in Fällen von SGBV. Das betont auch der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW -Committee on the Elimination of Discrimination against Women) und meint, dass Geschlechterstereotypisierung und Voreingenommenheit in den Entscheidungen der marokkanischen Gerichte weit verbreitet sind.
Der ICJ hat eine Reihe von Gerichtsentscheidungen analysiert, die auf patriarchalischen Vorstellungen und voreingenommenen Überzeugungen der Richter über die angebliche Rolle der Frau in der Gesellschaft beruhen, und nicht auf Fakten, Beweisen und der gerechten Umsetzung des Gesetzes.
Diese Stereotypisierung beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit von Frauen, was wiederum zu Justizirrtümern führen kann, einschließlich der Schuldzuweisung.
Der CEDAW-Ausschuss betont ferner, dass Richter und Richterinnen nicht die einzigen Akteure im Justizsystem sind, die sich in der Praxis der Geschlechterstereotypisierung engagieren. Der Ausschuss konnte feststellen, dass sich die Praxis auf verschiedenen Interventionsebenen erstreckt, darunter Staatsanwälte und Polizeibeamte, die oft zulassen, dass Stereotype den Verlauf von Ermittlungen und Prozessen bestimmen, insbesondere in Fällen geschlechtsspezifischer Gewalt, "wobei Stereotype die Ansprüche des Opfers untergraben und gleichzeitig die vom mutmaßlichen Täter vorgebrachten Verteidigungen unterstützen"; obwohl die Strafprozessordnung Staatsanwälte und Untersuchungsrichter ermächtigt Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um die Sicherheit von Opfern und Zeugen zu gewährleisten. Die Schutzmaßnahmen, die den Opfern und Zeugen gemäß Artikel 82-7 zur Verfügung stehen, umfassen eine Telefon-Hotline, über die sie die Kriminalpolizei oder eine andere zuständige Sicherheitsabteilung anrufen können, um Schutz zu beantragen. Diese Schutzmaßnahmen sind so allgemein gehalten, dass Staatsanwälte und Ermittlungsrichter einen persönlichen Sicherheitsrahmen für das Opfer ausarbeiten könnten, der auf die individuellen Umstände des Falles ausgerichtet ist.
Darüber hinaus sind in den Artikeln 161 und 162 der Strafprozessordnung verschiedene Maßnahmen festgelegt, die gegen den Angeklagten durchgesetzt werden können, darunter Aufenthalts- und Reisebeschränkungen, Vorladungen, Aussetzung der Fahrerlaubnis, Rehabilitierung, medizinische Behandlung, bedingte Kaution, Beschlagnahme von Waffen und Kontaktverbote. Letztere sollen die Sicherheit des Opfers vor Vergeltungsmaßnahmen gewährleisten. Wohn- und Reisebeschränkungen, Vorladungen und eine bedingte Kaution sollen dagegen das Erscheinen des Angeklagten bei der Verhandlung gewährleisten und das Risiko der Flucht verringern.
Dieser Rahmen sieht zwar einige angemessene Maßnahmen vor, doch seine Durchsetzbarkeit, insbesondere in Fällen von SGBV, ist nach wie vor problematisch. Die Durchsetzung der verfügbaren Schutzmaßnahmen ist nicht obligatorisch und hängt vollständig vom Ermessen der Untersuchungsrichter und Staatsanwälte ab. Nach der Begutachtung von 75 Urteilen im Zusammenhang mit SGBV-Fällen hat die ICJ festgestellt, dass die Akteure des Justizwesens, insbesondere in Fällen von "häuslicher Gewalt", nur selten auf Freiheitsentzug oder vorläufige Inhaftierung des Angeklagten zurückgreifen.
Das Gesetz 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen versucht, auf den bestehenden Schutzmaßnahmen bei SGBV aufzubauen. Artikel 82-5-1 legt Schutzmaßnahmen ab Beginn des Gerichtsverfahrens für SGBV-Fälle fest. Artikel 88-3 ermöglicht es der Staatsanwaltschaft, gegen die Angeklagten ein Kontaktverbot zu erlassen, das ihnen verbietet, mit der Beschwerdeführerin oder dem Beschwerdeführer in körperlichen und verbalen Kontakt zu treten oder sich dem Aufenthaltsort der Beschwerdeführerin oder des Beschwerdeführers zu nähern.
Diese Maßnahmen stellen zwar eine positive Entwicklung im Prozess der Bekämpfung des SGBV in Marokko dar, müssen allerdings noch ergänzt werden, um eine wirksame Umsetzung der gesetzlich vorgeschriebenen Schutzmaßnahmen zu gewährleisten.
Es gibt beispielsweise einige spezialisierte Frauen-Einheiten in den Gerichtshöfen der ersten Instanz und der Berufungsgerichte. Jede Einheit besteht aus einem Vertreter des Generalstaatsanwalts, einem Untersuchungsrichter, einem Prozessrichter, einem Jugendrichter, einem Standesbeamten und einem Sozialarbeiter. Diese Einheiten sind der erste Zugang zur Justiz für die Opfer. Artikel 10 des Gesetzes 103-13 legt fest, dass diese Einheiten Dienstleistungen wie "in Empfang nehmen, Zuhören, Unterstützung und die Beratung" von SGBV-Opfern erbringen. Das Mandat dieser Stellen ist jedoch unklar definiert und vernachlässigt die Anerkennung dieser Dienstleistungen, obwohl diese für die Opfer von grundlegender Bedeutung sind. Das Gesetz enthält auch keine ausdrückliche Bestimmung über die Gesundheitsversorgung, die physische und psychische Rehabilitation und die Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Zudem enthält Artikel 10 keinen ausdrücklichen Hinweis auf die rechtliche oder finanzielle Unterstützung von SGBV-Opfern.
ICJ - International Commission of Jurists (6.2019): Obstacles to Women’s and Girls’ Access to Justice for Gender-based Violence in Morocco, https://www.icj.org/wp-content/uploads/2019/06/Morocco-Obstacles-GBV-Publications-Reports-Thematic-report-2019-ENG.pdf , Zugriff 31.1.2020
1.3.3. Auf Basis der in der Beschwerde zitierten ACCORD-Anfragebeantwortung zu Marokko: Lage von alleinstehenden Frauen ohne familiäre Unterstützung: Schutz durch den Staat, insbesondere vor Gewalt und sexuellen Übergriffen, Aufbau eines eigenständigen Lebens [a-11184], 3. Februar 2020 (https://www.ecoi.net/de/dokument/2029985.html ) ist festzuhalten:
Gesellschaftliche Situation alleinstehender Frauen
In einem Bericht zu Gewalt gegen Frauen vom März 2018 beruft sich EuroMed Rights (EMHRN), ein Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen mit dem Ziel, Menschenrechte und demokratische Reformen in Europa und dem Mittelmeerraum zu stärken, auf einen im Juli 2016 veröffentlichten Jahresbericht zu 2015 des Observatoire National de la Violence à l'Égard des Femmes (ONVEF), das 2014 im marokkanischen Ministerium für Soziale Entwicklung, Familien und Solidarität eingerichtet wurde. Demnach seien unverheiratete Frauen in der marokkanischen Gesellschaft stigmatisiert und es bestehe für sie ein erhöhtes Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden. Da die Arbeitslosigkeit unter Frauen hoch sei, und die Zahl der Frauen mit Bildungsabschluss, die in den Arbeitsmarkt eintreten würden, sinke, seien sie außerdem anfälliger für Armut. Der oben von EMHRN erwähnte Bericht von ONVEF aus dem Jahr 2016 konnte nicht gefunden werden.
Der Jahresbericht von ONVEF aus dem Jahr 2015, vergleicht Daten von Klägerinnen, welche Fälle von (sexueller Gewalt) vor Gericht gebracht haben, aus den Jahren 2013 und 2014. Demnach betrafen 2014 mehr als die Hälfte aller sexuellen Übergriffe alleinstehende Frauen (781 Fälle, 53,6%), im Vergleich zu 20,19% verheirateten und 22,9% geschiedenen Frauen. 2013 wurden 862 der Klagen von unverheirateten, 242 von verheirateten und 319 von geschiedenen Frauen eingebracht.
In einem Interview mit dem marokkanischen Soziologen Abdessamad Dialmy über das Geschlechterverhältnis im arabischen Raum, das im Jänner 2018 auf der Webseite der Universitat Oberta de Catalunya (UOC) veröffentlicht wurde, äußert sich der Soziologe zu gesellschaftlichen Verhältnissen in Marokko. Während die Ehe in der westlichen Welt schwierige Zeiten durchmache, sei sie in Marokko nach wie vor sehr bedeutend, sie sei die Norm. Um sozial integriert und anerkannt zu werden, müsse man heiraten. Blieben sie unverheiratet, machten sich Männer verdächtig, für Frauen sei es unehrenhaft. Nach der Volkszählung von 2014 sei das durchschnittliche Heiratsalter für Frauen 26 Jahre und für Männer 31.
In einem Artikel über Frauengesundheit in Marokkos soziokulturellem Kontext der englischen Online-Zeitung The Maghreb Times vom August 2019 wird über Schwierigkeiten der Ausübung von Sexualität von unverheirateten Frauen berichtet. Frauen, die sich dazu entschließen würden unverheiratet Geschlechtsverkehr zu haben, stünden einem Dilemma gegenüber. Wenn sie schwanger würden, wäre das der Beweis für ihr unakzeptables sexuelles Verhalten. Dieser Skandal könne zu familiären und sozialen Problemen führen. Eine Frau könne dazu gedrängt werden einen Mann zu heiraten, den sie nicht wolle oder es riskieren wegen eines unehelichen Kindes stigmatisiert zu werden. Der logische Schritt für eine sexuell aktive Frau, in dieser außerehelichen Sex stigmatisierenden Atmosphäre, sei, alle Schritte zu unternehmen, dass es nicht zu einer Schwangerschaft außerhalb einer ehelichen Beziehung komme. An dieser Stelle würden Dinge allerdings kompliziert, da eine unverheiratete Frau, die Verhütungsmittel verwende, dadurch offensichtlich mache, dass sie ein verbotenes Sexualleben habe. Die Angst, dass ihre Freunde, Familie oder die Gemeinschaft (community) es herausfinden könnten, würde es für eine Frau fast unmöglich machen, an Verhütungsmittel zu kommen. Das starke kulturelle Ideal, welches verneine, dass Frauen unabhängig von ihrem Beziehungsstatus ein Recht auf Sexualität hätten, schafft eine Situation in welcher der beides stigmatisiert sei, Schwangerschaft außerhalb der Ehe sowie Maßnahmen um eine solche zu verhindern.
Situation und Stellung der Frau in der marokkanischen Gesellschaft
Auf dem Länder-Informations-Portal der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), eine staatliche Entwicklungszusammenarbeitsorganisation der Bundesrepublik Deutschland, finden sich auf der Länderseite zu Marokko unter der Überschrift Geschlechterverhältnisse folgende Informationen: „In Sachen Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen hat Marokko im weltweiten Vergleich Nachholbedarf. Beim Gender-Ranking des Weltwirtschaftsforums von Davos bildet Marokko regelmäßig das Schlusslicht (aktuell Platz 143 von 149). Maßgeblich für die schlechte Platzierung sind die rechtliche Diskriminierung marokkanischer Mädchen und Frauen sowie die geringe Partizipation am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft. Im Landesdurchschnitt sind nur 22 Prozent der Frauen im erwerbstätigen Alter berufstätig: In den Städten sind es noch weniger.“ (GIZ, Dezember 2019)
Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schildert in einem Länderreport vom Juni 2019 die gesellschaftliche Stellung von Frauen in der marokkanischen Gesellschaft wie folgt: „Marokko ist eine eher männlich dominierte Gesellschaft. Trotz der in der neuen Verfassung von 2011 festgeschriebenen Gleichberechtigung von Männern und Frauen und Verbesserungen im Familienrecht im Jahr 2004 (z.B. gerichtliche Scheidung und weitgehende Gleichstellung im Scheidungsrecht, Abschaffung der Gehorsamspflicht und der einseitigen Verstoßung, Festlegung der Ehefähigkeit der Frau auf 18 Jahre und Polygamie nur im Ausnahmefall) sind Frauen rechtlich und sozial nicht gleichgestellt. Defizite gibt es weiterhin insbesondere in erbrechtlichen Angelegenheiten. Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist nach wie vor verbreitet. Frauen können Opfer von Belästigung, Handgreiflichkeiten und Vergewaltigung in und außerhalb der Familie, Zwangsverheiratung oder Menschenhandel werden. Insbesondere im ländlichen Raum bestehen gesellschaftliche Zwänge und traditionelle Einstellungen fort. Der rechtliche Rahmen zum Schutz von Frauen wurde in den letzten Jahren zwar immer wieder verbessert, jedoch verläuft die Umsetzung im Alltag der patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft zäh.“ (BAMF, 3. Juni 2019, S. 11)
Freedom House, eine Nichtregierungsorganisation mit Hauptsitz in Washington, D.C., die sich mit der Untersuchung und Förderung von Demokratie, politischer Freiheit und Menschenrechten weltweit beschäftigt, schreibt in ihrem Bericht Freedom in the World 2019 zum Thema Gleichberechtigung verschiedener Gruppen in den Bereichen Gesetzgebung, Politik und Umsetzung (laws, policies and practices), dass die Gleichberechtigung der Geschlechter zwar in der Verfassung von 2011 anerkannt ist, auf gesellschaftlicher Ebene Frauen aber nach wie vor signifikanter Diskriminierung ausgesetzt und am Arbeitsmarkt stark unterrepräsentiert seien.
In dem zuvor erwähnten Interview mit dem Soziologen Abdessamad Dialmy über das Geschlechterverhältnis im arabischen Raum, antwortet Dialmy auf die Frage wie die Kultur der Überlegenheit von Männern gegenüber Frauen weitergegeben werde, dass dies in der Familie selber in einer frühen Phase der Sozialisierung passiere. Die Aufgaben würden nach sozialem Geschlecht (gender) bereits in einem frühen Alter verteilt: die Buben gehen hinaus und die Mädchen bleiben zu Hause. Der Mann hat in der Öffentlichkeit Präsenz und eine Stimme, während Frauen dies nur zu Hause zusteht. Die Schule vermittle ebenfalls diese Kultur, dass Frauen minderwertiger wären, dass sie ihren Körper verbergen müssten und sie der Ursprung sozialen Chaos‘ und des Bösen wären.
Umfassende Informationen zu weiblicher Mobilität in Rabat finden sich in einer älteren Forschungsarbeit der Soziologin Safaa Monqid aus dem Jahr 2011. Sie führte in den Jahren von 2000 bis 2003 eine Studie in Rabat durch, um das Verhältnis von Frauen zu privaten und öffentlichen Räumen der Stadt zu untersuchen. Für die Studie wurden 53 Frauen im Alter von 19 bis 70 interviewt. Unter anderem thematisiert sie Einschränkungen in der Mobilität von Frauen durch sexistische soziale Normen (Vorbehalt öffentlicher Räume für Männer), die Erhöhung dieser Mobilität und Zugang zum öffentlichen Raum durch ökonomische Besserstellung, dass weibliche Präsenz in der Stadt in der Nacht sozial kaum toleriert werde, die Angst vor sexuellen Übergriffen und von Bewältigungsmechanismen (coping mechanisms).
Sexuelle und (andere) gewalttätige Übergriffe auf Frauen und staatlicher Schutz
Ein Artikel der deutschsprachigen Online-Nachrichtenseite Maghreb-Post berichtet in einem Artikel vom Mai 2019, dass die Ministerin für Solidarität, Frauen, Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui, im Mai 2019 eine Studie über die Verbreitung von Gewalt gegen Frauen vorgestellt habe, bei der insgesamt 8.000 Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren befragt worden seien. Die Studie ergebe, dass Gewalt gegen sowie Belästigung von Frauen weit verbreitet seien: „54,4% der befragten marokkanischen Frauen gaben an, dass sie in ihrem Leben schon einmal eine Form von Gewalt erlebt haben. […] Anzügliche Bemerkungen, Pfeifen, Beleidigungen, körperliche Annäherungen, Gewalt sowie Schikanen auf offener Straße sind einige der am häufigsten hervorgehobenen Formen, wenn es darum geht, dieses gesellschaftliche Problem anzugehen. Laut der Studie des Ministeriums von Bassima Hakkaoui haben 12,4% der marokkanischen Frauen im Alter von 18 bis 64 Jahren bereits in der Vergangenheit Gewalt an öffentlichen Orten erlitten. Ein Prozentsatz, der sich im Vergleich zwischen städtischen und ländlichen Gebieten unterscheidet, in dem Sinne, dass Frauen in ländlichen Gebieten, insbesondere im Eheleben, mit 19,6% stärker der Gewalt ausgesetzt sind, gegenüber 16,9% für Frauen in städtischen Gebieten. Eine Erkenntnis, die sich auch in der Studentengemeinde bemerkbar macht. Die Umfrage zeigt, dass 25,5% der Studentinnen in ländlichen Gebieten Gewalt ausgesetzt sind, verglichen mit 21,5% in städtischen Gebieten. Insgesamt gaben 54,4% der befragten Frauen an, dass sie mindestens eine Form von Gewalt erlebt haben und etwa ein Drittel (32,8%) von ihnen sogar in mehreren Formen. […]
Opfer wagen sich selten an die Öffentlichkeit
Das Schweigen zu brechen ist weiterhin ein schwieriger Schritt.
Nur 6,6% der misshandelten Frauen reichen eine Anzeige oder Beschwerde gegen ihren Täter ein. Ein sehr niedriger Wert, der in ländlichen Gebieten noch geringer ist (4,2% gegenüber 7,7% in städtischen Gebieten). Die Ministerin für Familie und soziale Entwicklung, Bassima Hakkaoui, erklärte, dass Schweigen einer der erschwerenden Faktoren für die ‚Tragödie misshandelter Frauen‘ sei, berichtete die marokkanische – staatliche Nachrichtenagentur MAP. Nur 28,2% der Frauen wagten es, über die Gewalt zu sprechen, die ihnen durch eine Person oder Institution widerfahren war. In ländlichen Gebieten haben weniger als 21% von ihnen sich einer dritten Person anvertraut.“ (Maghreb-Post, 17. Mai 2019)
Am 5. Juli 2018 wurde im Amtsblatt des Königreichs Marokko das Dekret Nr. 1-18-19 (Dahir n° 1-18-19) betreffend das Gesetz Nummer 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen veröffentlicht (Dahir n° 1-18-19, 5. Juli 2018). Laut dem US-Außenministerium (USDOS) und der Maghreb-Post ist das Gesetz im September 2018 in Kraft getreten (Maghreb-Post, 17. Mai 2019; USDOS, 13. März 2019, Section 6). USDOS schreibt in seinem Country Report on Human Rights Practices vom März 2019, dass es einen stärkeren rechtlichen Rahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt, sexueller Belästigung und Misshandlung biete. Laut dem neuen Gesetz könne die Verurteilung aufgrund eines sexuellen Übergriffs zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren und einer Strafe von 2.000 bis 10.000 Dirham (ca. 190 bis 940 Euro) führen. Für Beleidigung und Diffamierung aufgrund des Geschlechts könne eine Strafe von 60.000 bis 20.000 Dirham (ca. 5650 bis 11.300 Euro) verhängt werden
Gemäß USDOS haben Nichtregierungsorganisationen, die sich für Frauenrechte einsetzen, kritisiert, dass es an Klarheit in Verfahren und an Schutzmechanismen im Falle des Meldens von Übergriffen fehle. In der Vergangenheit hätten Behörden Gesetze gegen sexuelle Belästigung nicht wirksam verfolgt, die Auswirkungen des neuen Gesetzes seien zum Ende des Jahres 2018 noch nicht klar gewesen. Gemäß lokalen Nichtregierungsorganisationen würde die große Mehrheit von Fällen sexueller Belästigung aufgrund sozialen Drucks und der Sorge, dass die Gesellschaft höchstwahrscheinlich die Opfer dafür verantwortlich mache, nicht der Polizei gemeldet werden. Die Polizei würde selektiv Fälle untersuchen, unter den wenigen die zu Gericht gebracht würden, seien die erfolgreichen Verurteilungen selten
In einem Artikel vom September 2018 schreibt die Maghreb-Post in einem Artikel zum neu verabschiedeten Gesetz 103-13: „Neben der positiven Bewertung gibt es auch Kritik. Für einige Frauenverbände ist die Anwendung in der Praxis nicht klar genug geregelt. Daher befürchten sie, dass vor allem die Sicherheitsbehörden nicht in die Lage versetzt wurden, mit Beschwerden und Anzeigen von Frauen umzugehen. Administrative Defizite drohen Gesetz auszuhöhlen. Nur ein Gesetz zu erlassen, wird nicht reichen. Die Gewalt gegen Frauen, vor allem die sexuelle Gewalt, ist meist ein Ausdruck der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft und ein Instrument der Unterdrückung sowie Demütigung. Daher wird viel davon abhängen, dass über die Gesetzeslage breit informiert wird. Genau dies wird kritisiert. Viele Frauen sehen sich zu wenig über die neue Gesetzeslage aufgeklärt und haben kaum Kenntnis darüber, an wen sie sich ggf. wenden können. Zu befürchten ist, dass es viel Zeit bedarf, bis sich die Einstellung gegenüber Anzeigen von Frauen in Behörden und im öffentlichen Raum ändert. […] Die deutlichste Kritik an der Gesetzesnovelle ist die fehlende Ausarbeitung von Handlungsvorgaben für Polizei und Staatsanwaltschaft. Beobachter kritisieren, dass es zwar deutliche Strafanhebungen und die Schaffung neuer Straftatbestände gibt, aber die Beweisführung hat sich nicht geändert. Die betroffene Frau muss im konkreten Falle die Belästigung oder die Gewalt gegen sich nachweisen. So muss das Opfer z.B. aus eigenem Antrieb ein medizinisches Attest über die Gewalt und ihre Verletzungen beibringen, bevor die Staatsanwaltschaft ermitteln darf. Solange ist die Frau zunächst auf sich gestellt.“ (Maghreb-Post, 13. September 2018)
Die GIZ stellt auf der Länder-Informationsportalseite zu Marokko einen positiven Trend in der Meldung von Übergriffen fest: „Doch es gibt auch positive Entwicklungen. 2018 wurde ein Gesetz zum Schutz von Frauen vor sexualisierter Gewalt und Belästigung verabschiedet. Die Zahl der Frauen, die sich trauen, Vergewaltigungen und Übergriffe bei der Polizei anzuzeigen, ist rapide gestiegen.“ (GIZ, Dezember 2019)
Quellen: (Zugriff auf alle Quellen am 3. Februar 2020)
· ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Marokko: Rückkehr für unverheiratete alleinstehende Frauen mit Kindern [a-11154-1], 19. Dezember 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023859.html
· ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Marokko: Verurteilungen wegen außerehelichem Geschlechtsverkehr; Nennung von konkreten Fällen [a-11154-2 (11155)], 19. Dezember 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2023860.html
BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland): Länderreport 11 - Algerien, Marokko, Tunesien - Menschenrechtslage - Im Fokus: Vulnerable Personen, 3. Juni 2019, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Laenderreporte/2019/laenderreport-11-algerien-marokko-tunesien.pdf?__blob=publicationFile&v=5
· Dahir n° 1-18-19 du 5 joumada II 1439 (22 février 2018) portant promulgation de la loi n° 103-13 relative à la lutte contre les violences faites aux femmes [Dekret Nr. 1-18-19 vom 22. Februar 2018 betreffend die Verkündung des Gesetzes 103-13 zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen], veröffentlicht im Bulletin Officiel Nr. 6688, 5. Juli 2018, http://www.sgg.gov.ma/BO/FR/2018/BO_6688_Fr.pdf?ver=2018-07-11-124300-213
· EMHRN – EuroMed Rights: Situation report on violence against women, März 2018, https://euromedrights.org/wp-content/uploads/2018/03/Factsheet-VAW-Morocco-EN-Mar-2018.pdf
· Freedom House: Freedom in the World 2019 - Morocco, 4. Februar 2019, https://www.ecoi.net/en/document/2006451.html
· GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit: LIPortal, Marokko, Dezember 2019, https://www.liportal.de/marokko/gesellschaft/
· Maghreb-Post: Marokko – Mehr als jede zweite marokkanische Frau Opfer von Gewalt, 17. Mai 2019, https://www.maghreb-post.de/politik/marokko-mehr-als-jede-zweite-marokkanische-frau-opfer-von-gewalt/
Maghreb-Post: Marokko – Gesetz zum Schutz von Frauen vor Gewalt und sexueller Belästigung tritt in Kraft, 13. September 2018, https://www.maghreb-post.de/gesellschaft/marokko-gesetz-zum-schutz-von-frauen-vor-gewalt-und-sexueller-belaestigung-tritt-in-kraft/
· Monqid, Safaa: Heavy wings: women’s urban lives in deprived neighbourhoods of Rabat, Morocco, 2011, https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-01722414/document
· ONVEF - Observatoire National de la Violence à l'Égard des Femmes, Premier Rapport Annuel sur la Violence à l’Ègard des Femmes, 2015, http://www.social.gov.ma/sites/default/files/e%D8%AA%D9%82%D8%B1%D9%8A%D8%B1%20%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%B1%D8%B5%D8%AF%20%D8%A7%D9%84%D9%88%D8%B7%D9%86%D9%8A%20%D9%84%D9%84%D8%B9%D9%86%D9%81%20%D9%8DFR%20OK.pdf
· The Maghreb Times: Women Health Concerns in the Sociocultural Context of Morocco, 24. August 2019, https://themaghrebtimes.com/08/24/women-health-concerns-in-the-sociocultural-context-of-morocco/
· UOC – Universitat Oberta de Catalunya: “Arab men are told they are superior to women from a very early age", 9. Jänner 2018, https://www.uoc.edu/portal/en/news/entrevistes/2018/001-abdessamad-dialmy.html
· USDOS – US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2018 - Morocco, 13. März 2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004244.html
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweiswürdigung zur Person der BF
Die Identität der BF steht aufgrund des von ihr im Verwaltungsverfahren vorgelegten Personalausweises fest. Die Feststellungen zur Person der BF und zu ihren Fluchtgründen gründen sich auf ihre Aussagen in der Erstbefragung am 17.08.2022 und in der niederschriftlichen Einvernahme am 11.01.2023, die insgesamt ein stringentes und plausibles Bild abgeben. Das Vorbringen der BF zu ihren Fluchtgründen wurde auch von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid nicht angezweifelt und steht auch in Einklang mit dem Befund der Klinik XXXX vom 13.01.2023, wonach die BF großflächige Narben am Oberschenkel (durch die Verbrennung) sowie zahlreiche kleinere Narben am Bauch (von Zigaretten) aufweist. Es besteht daher auch für das Bundesverwaltungsgericht keine Veranlassung, das Fluchtvorbringen anzuzweifeln.
Die Feststellungen zu ihrem Gesundheitszustand ergeben sich aus
- Bestätigung der psychologischen Betreuung in der Bundesbetreuungseinrichtung vom 21.12.2022 für den Zeitraum 24.08.2022 bis 10.10.2022
- klinisch-psychologischer Befundbericht vom 18.01.2023 einer für den Verein XXXX tätigen Psychotherapeutin, wonach die BF im Gespräch das Bild einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und einer rezidivierenden schweren depressiven Störung zeichne
- ärztlicher Befund eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie des Kriseninterventionszentrums vom 23.12.2022, vom 03.01.2023, vom 20.01.2023 und vom 21.03.2023, wonach die BF unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, ihr Trittico verschrieben werde, aber eine Aushändigung der Medikation unter Kontrolle empfohlen werde, da ein Suizidversuch per Medikamentenintoxikation anamnestisch bekannt sei. Aus psychiatrischer Sicht bestehe bei einer Abschiebung nach Marokko ein hohes Risiko einer Dekompensation und damit einhergehend eine akute Eigengefährdung.
2.2. Beweiswürdigung zu einer Verfolgung der BF im Falle einer Rückkehr nach Marokko unter Berücksichtigung der unter Punkt 1.3. zitierten Länderberichte
Die BF brachte vor, dass ihr bei ihrer Rückkehr Verfolgung durch ihren Vater bzw. andere Familienmitglieder drohe. Dass neben ihrem Vater unter anderem ihr Bruder und weitere Dorfbewohner beteiligt sind, ergibt sich aus ihren Aussagen vor dem BFA („Leider hat mein Bruder mich gesehen. Natürlich hat er es meinem Vater gesagt. (…) Sobald mein Vater gehört hat, dass der Mann in unserem Dorf ist, hat er meinen Bruder mitgenommen und noch ein paar Burschen, sind zu dem Mann, so wie es meine Mama erzählt hat, haben sie ihn extrem geschlagen und eingesperrt und zu foltern begonnen.“) Die belangte Behörde befand das Vorbringen für glaubhaft, verneinte im angefochtenen Bescheid aber eine Asylrelevanz des Vorbringens, da auf eine Schutzfähigkeit und –willigkeit des marokkanischen Staates sowie auf das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative verwiesen wurde (S 53/54 des angefochtenen Bescheides).
Dem im Bescheid zitierten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Marokko (S 25f des Bescheides) ist zu entnehmen, dass gesetzliche Regelungen zur Gleichstellung von Frauen an der Lebensrealität und den traditionellen Einstellungen scheitern und nur unzureichend vollzogen werden. Die Strafverfolgung agiert bei sexuellen Übergriffen willkürlich und selektiv. Die im Bescheid ebenfalls zitierte Anfragebeantwortung zur Situation alleinstehender Frauen in Marokko vom 10.02.2021 (S 37ff des Bescheides) stellt im Wesentlichen fest, dass der Schutz vor sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt (SGBV) von staatlicher Seite zwar einen rechtlichen Rahmen erhalten hat, dass die Ausführung bzw. Anwendung dieser Rechte aber durch diskriminierende, patriarchale Einstellungen und geschlechtsspezifische Stereotypen beeinträchtigt wird, bzw. gar nicht erst zur Anwendung kommt. Die marokkanische Gesetzgebung hat keine gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Opfer vorgesehen. Zudem gibt es kein Rechtsinstrument, das Polizeibeamte dazu verpflichtet, einem Schutzersuchen stattzugeben. Die marokkanischen Behörden bieten einer Person, die von einer Straftat bedroht ist, nicht automatisch Schutz an. Die Behörden reagieren in der Regel erst nach einer Straftat und selten vorher. Der marokkanische Gesetzgeber hat keine gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz des Opfers vorgesehen, die es beispielsweise erlauben würden, wie in westlichen Ländern die Polizei mit der Überwachung der Wohnung eines Opfers zu beauftragen.
Besonders Frauen sind laut der im Bescheid zitierten Anfragebeantwortung in Marokko anfällig für sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt (SGBV), da Frauen in Marokko diskriminiert werden. Die tief verwurzelte Ungleichheit in der Gesetzgebung - die durch Bräuche, schädliche Praktiken und religiöse Normen fortgeschrieben wird - untermauert diskriminierende, patriarchale Einstellungen und geschlechtsspezifische Stereotypen. Der Forschungsbericht der ,,lnternational Commission of Jurists" (lCJ) konnte zeigen, dass diese Einstellungen während der Ermittlung, Verfolgung und Gerichtsverhandlung von SGBV-FäIlen auftauchen und so den Zugang von Frauen zur Justiz bei SGBV-Delikten in Marokko untergraben. Laut Befragungen des ICJ haben SGBV-Opfer mitgeteilt, dass sich Polizeibeamte weigerten, ihre Beschwerden zu registrieren, wenn ihre Beschwerde z.B. die Verübung von Missbrauch durch einen männlichen Verwandten betraf. Während der marokkanische Rechtsrahmen (Artikel 30 der Strafprozessordnung) anerkennt, dass es dem Staat obliegt, die Akteure des Justizsektors für Fehlverhalten oder die Weigerung eine Beschwerde zu bearbeiten, zur Verantwortung zu ziehen, wird Fehlverhalten im Zusammenhang mit Diskriminierung selten untersucht. Solche diskriminierenden Einstellungen sind in der Praxis verankert.
Auf Basis dieser Länderfeststellungen kann sich die erkennende Richterin den Erwägungen der belangten Behörde, dass der BF in Marokko Institutionen zum Schutz vor ihrem Vater, etwa Frauenhäuser, zur Verfügung stehen würden und dass sie zudem auch von der Polizei geschützt werde, nicht anschließen.
Soweit die belangte Behörde auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verweist (Es „kann lhnen, einer gebildeten, jungen, arbeitsfähigen Frau - die im Übrigen auch bereits Arbeitstätigkeiten im Heimatland nachgegangen ist - zugemutet werden, sich ein neues Leben in Marokko aufzubauen. lmmerhin war es lhnen möglich, in Marokko eine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch zu nehmen, als Sie bei lhren Freundinnen wohnten.“), ist zunächst darauf zu verweisen, dass die BF nie entgeltlich tätig war, sondern nur auf Drängen des Imams in der Moschee andere Frauen einmal wöchentlich dabei unterstützte, lesen und schreiben zu lernen. Dem im Bescheid zitierten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Marokko (S 25 des Bescheides) ist hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten für Frauen zu entnehmen, dass nur 21% der Frauen in Marokko berufstätig sind und das Berufsleben schwierig bleibt, insbesondere am Land. Die ebenfalls im Bescheid enthaltene ACCORD-Anfragebeantwortung zu Marokko: Arbeitsmöglichkeiten für Akademikerin und Unterstützungsmöglichkeiten bei Rückkehr (Erwerbslosigkeit) [a-10965-3) vom 25. April 2019 (S 44ff des Bescheides) berichtet davon, dass viele Personen mit Universitätsabschlüssen, die gute Jobs im formellen Sektor suchen, keine Arbeit finden und dass insbesondere akademisch gebildete Frauen von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Um eine „Arbeitsverlustunterstützung“ zu erhalten, muss man 780 Arbeitstage in den letzten drei Jahren vorweisen können.
Aus Sicht der erkennenden Richterin zeigen diese Berichte, dass es für die BF, die noch nie einer entgeltlichen Tätigkeit nachgegangen war, kaum möglich wäre, eine Anstellung zu finden. Während sie sich bei einer Freundin in Tanger aufhielt, wurde sie von dieser finanziell unterstützt, zuvor von ihrem inzwischen verstorbenen Onkel. Nachdem sie von ihrem Vater bzw. ihren männlichen Verwandten (ein Bruder informierte ja den Vater über ihr Treffen) Verfolgung zu befürchten hat, da sie nach deren Ansicht die Familienehre durch eine außereheliche Beziehung mit einem arabischen Mann verletzt habe, ist von keiner familiären Unterstützung auszugehen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die BF in einem instabilen psychischen Zustand befindet und im Falle einer Abschiebung nach Marokko laut ärztlichen Angaben eine Retraumatisierung und Eigengefährdung zu befürchten ist, so dass auch von keiner vollen Erwerbsfähigkeit ausgegangen werden kann. Es erscheint daher zum aktuellen Zeitpunkt der BF als alleinstehenden und psychisch erkrankten Frau nicht zumutbar, sich fernab des Familienverbandes bzw. versteckt vor diesem eine neue Existenz aufzubauen, zumal sie auch einer regelmäßigen Medikation und Therapie bedarf.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Zum Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):
Zu dem geltend gemachten Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe „Familie“ bzw. der „alleinstehenden Frauen, die von häuslicher Gewalt, geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sind“, ist grundsätzlich auszuführen, dass nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten die Glaubhaftmachung, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), demnach aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht, voraussetzt (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/01/0442, Rn. 7, mwN).
Die BF, die in Marokko von ihrem Vater bzw. ihrer Familie bedroht und verfolgt wird und davor keinen staatlichen Schutz in Anspruch nehmen kann, trägt vor, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei ihr erfüllt seien.
Die belangte Behörde hält im angefochtenen Bescheid dagegen, dass es sich beim Fluchtvorbringen der BF um ein familiäres Problem ohne Konnex zu einem der Gründe in der Genfer Flüchtlingskonvention handle.
Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/14/0505, Rn. 17, mwN). Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand (vgl. VwGH 29.6.2015, Ra 2015/01/0067; 26.6.2007, 2007/01/0479, jeweils mwN). Ausgehend von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (vgl. EuGH 7.11.2013, X u.a., C-199/12 bis C-121/12, Rn. 45; 4.10.2018, Ahmedbekova, C-652/16, Rn. 89) gilt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten. Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. zu alldem VwGH 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, Rn. 13 bis 15, mwN).
Zu prüfen ist daher, ob die soziale Gruppe „Familie“ bzw. die soziale Gruppe der „alleinstehenden Frauen, die von häuslicher Gewalt, geschlechtsspezifischer Gewalt bedroht sind“ im gegenständlichen Fall die dargestellten zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllen. Nach der bisherigen Rechtsprechung des VwGH stehen Fälle wie der vorliegende im Spannungsfeld zwischen einer Verfolgung wegen des Geschlechtes oder der Zugehörigkeit zur Familie des Verfolgers (jeweils unter dem Gesichtspunkt des Konventionsgrundes der Zugehörigkeit zu einer "sozialen Gruppe") einerseits und rein kriminellen, keinem Konventionsgrund zuordenbaren Bedrohungen andererseits (vgl. etwa VwGH 28.8.2009, 2008/19/1028).
Das gegenständliche Verfahren war ausgesetzt worden bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) über die in der Rechtssache C-217/23 mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28.03.2023, Ra 2022/20/0289, und in der Rechtssache C-621/21 mit Beschluss des Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) vom 29.09.2021 vorgelegten Fragen. Nachdem – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – bereits aufgrund der jüngst ergangenen Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-621/21 feststeht, dass der BF Flüchtlingsschutz zuzuerkennen ist, ist das Verfahren fortzusetzen und besteht keine Notwendigkeit, die Entscheidung in der Rechtssache C-217/23 abzuwarten.
Mit Beschluss des Administrativen sad Sofia-grad (Verwaltungsgericht der Stadt Sofia, Bulgarien) vom 29.09.2021 wurden dem Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Kommen gemäß dem 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU die Definitionen und Begriffsbestimmungen des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 und des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt für die Zwecke der Einstufung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes nach dem Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 und nach der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge und für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes zur Anwendung oder hat die geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes nach der Richtlinie 2011/95 eine autonome Bedeutung, die sich von jener in den genannten völkerrechtlichen Instrumenten unterscheidet?
2. Kommt es im Fall, dass die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen geltend gemacht wird, für die Feststellung der Zugehörigkeit zu einer bestimmen sozialen Gruppe als Verfolgungsgrund nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 ausschließlich auf das biologische oder soziale Geschlechts des Verfolgungsopfers (Gewalt gegen eine Frau, nur weil sie eine Frau ist) an, können die konkreten Formen/Akte/Handlungen der Verfolgung wie in der nicht abschließenden Aufzählung im 30. Erwägungsgrund entscheidend sein für die „Sichtbarkeit der Gruppe in der Gesellschaft“, d. h. ihr Unterscheidungsmerkmal, je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland oder können sich diese Akte nur auf die Verfolgungshandlungen nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. a oder f der Richtlinie 2011/95 beziehen?
3. Stellt das biologische oder soziale Geschlecht im Fall, dass die Person, die Schutz beantragt, geschlechtsspezifische Gewalt in Form von häuslicher Gewalt geltend macht, einen ausreichenden Grund für die Feststellung der Zugehörigkeit zu einer bestimmen sozialen Gruppe nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dar oder ist ein zusätzliches Unterscheidungsmerkmal festzustellen, wenn Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU buchstabengetreu, dem Wortlaut nach ausgelegt wird, wonach die Voraussetzungen kumulativ und die Aspekte des Geschlechts alternativ vorliegen müssen?
4. Ist Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 im Fall, dass die antragstellende Person die Ausübung geschlechtsspezifischer Gewalt in Form von häuslicher Gewalt durch einen nichtstaatlichen Akteur, von dem die Verfolgung ausgeht, im Sinne des Art. 6 Buchst. c der Richtlinie 2011/95 geltend macht, dahin auszulegen, dass es für den Kausalzusammenhang hinreicht, wenn ein Zusammenhang zwischen den in Art. 10 angeführten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen im Sinne des Abs. 1 festgestellt wird, oder ist zwingend fehlender Schutz vor der geltend gemachten Verfolgung festzustellen bzw. besteht der Zusammenhang in jenen Fällen, in denen die nichtstaatlichen Akteure, von denen die Verfolgung ausgeht, die einzelnen Verfolgungs-/Gewaltakte als solche nicht als geschlechtsspezifisch wahrnehmen?
5. Kann die tatsächliche Androhung eines Ehrenmordes für den Fall einer etwaigen Rückkehr in das Herkunftsland bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen hierfür die Gewährung subsidiären Schutzes nach Art. 15 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 i.V.m. Art. 2 EMRK (niemand darf absichtlich getötet werden) begründen oder ist diese als Schaden nach Art. 15 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 i.V.m. Art. 3 EMRK einzustufen, wie dies in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unter Gesamtbeurteilung der Gefahr von weiteren geschlechtsspezifischen Gewaltakten ausgelegt wird bzw. reicht es für die Gewährung diesen Schutzes aus, dass die antragstellende Person subjektiv den Schutz des Herkunftslandes nicht in Anspruch nehmen will?“
Im Ausgangsfall hatte eine türkische Staatsangehörige einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, den sie damit begründete, dass sie ihren Ehemann, mit dem sie zwangsverheiratet worden sei, nach mehreren Fällen von Gewalt, in deren Folge sie wiederholt in Frauenhäuser für Gewaltopfer untergebracht worden sei, verlassen habe und mit einem anderen Mann zusammengezogen sei. Ihre leibliche Familie habe sie bei den Auseinandersetzungen mit ihrem früheren Mann nicht unterstützt und befürchte sie von ihrem inzwischen geschiedenen Ehemann, seiner Familie und ihrer leiblichen Familie bedroht und getötet zu werden, falls sie in die Türkei zurückkehren sollte. Die Asylwerberin brachte vor, dass bei ihr Gründe für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorlägen, nämlich jener der Frauen, die häusliche Gewalt erlebt hätten, und der Frauen, die potenzielle Opfer von Ehrenverbrechen seien. Im Antrag wird angegeben, dass die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren ausginge, vor denen der türkische Staat, der zudem aus der Istanbul-Konvention ausgetreten sei, sie nicht schützen könne, unabhängig davon, welche Maßnahmen dieser ergreife.
Ebenso wie im Ausgangsfall, den das bulgarische Verwaltungsgericht zu beurteilen hatte, bringt im gegenständlichen Verfahren die BF vor, bei einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Marokko Opfer eines „Ehrenverbrechens“ zu werden und von staatlicher Seite nicht (ausreichend) geschützt zu werden. Konkret wurde der BF von ihrem Vater eine außereheliche Beziehung mit einem arabischen Mann vorgeworfen und wurde sie von ihrem Vater misshandelt und gefoltert und monatelang in einem Stall festgehalten. Bei einer Rückkehr in ihren Heimatort besteht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, dass die BF erneut von ihrem Vater und weiteren männlichen Verwandten misshandelt und gegebenenfalls sogar getötet wird, weil sie aus deren Sicht die Ehre der Familie beschmutzt hätte.
Artikel 9 der Statusrichtlinie definiert Verfolgungshandlungen im Sinne des Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention. Unter „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen (vgl. etwa VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, Rn. 12, mwN). Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinien) (vgl. etwa VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, Rn. 12; 11.12.2019, Ra 2019/20/0295, Rn. 27, jeweils mwN). Entscheidend für das Vorliegen einer Verfolgung ist die Schwere der Handlung, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein muss, dass sie eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellt. Dies ist im vorliegenden Fall zweifelsohne gegeben. Verfolgungshandlungen sind etwa die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt. Die von der BF geschilderten Folterungen sind jedenfalls als Verfolgungshandlungen erheblicher Intensität anzusehen und ist plausibel und nachvollziehbar, dass sie bei einer Rückkehr nach Marokko und einer Begegnung mit ihrer Familie ähnliche bzw. noch schlimmere Übergriffe befürchtet.
Für die Gewährung des Flüchtlingsschutzes ist es darüber hinaus erforderlich, dass ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen besteht. Bei der sozialen Gruppe handelt es sich um einen Auffangtatbestand (vgl. VwGH 29.6.2015, Ra 2015/01/0067; 26.6.2007, 2007/01/0479, jeweils mwN). Ausgehend von Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (vgl. EuGH 7.11.2013, X u.a., C-199/12 bis C-121/12, Rn. 45; 4.10.2018, Ahmedbekova, C-652/16, Rn. 89) gilt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Um das Vorliegen einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe beurteilen zu können, bedarf es daher sowohl Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung. Unter Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe wird eine Repression verstanden, die nur Personen trifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen, die also nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten. Nach herrschender Auffassung kann eine soziale Gruppe aber nicht ausschließlich dadurch definiert werden, dass sie Zielscheibe von Verfolgung ist (vgl. zu alldem VwGH 14.8.2020, Ro 2020/14/0002, Rn. 13 bis 15, mwN).
Der EuGH stellte in der oben zitierten Entscheidung vom 16.01.2024 zunächst fest, dass nach Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden muss. Zum anderen verlangt Art. 60 Abs. 2 dieses Übereinkommens von den Vertragsparteien, sicherzustellen, dass alle in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Verfolgungsgründe geschlechtersensibel ausgelegt werden und dass in Fällen, in denen festgestellt wird, dass die Verfolgung aus einem oder mehreren dieser Gründe befürchtet wird, den Antragstellerinnen und Antragstellern der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Weiters stellte der EuGH fest, dass die Tatsache, weiblichen Geschlechts zu sein, ein angeborenes Merkmal darstellt und daher ausreicht, um die in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 vorgesehene, erste Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“ zu erfüllen.
Zentral sind aber die Ausführungen des EuGH zur zweiten Voraussetzung für die Identifizierung einer „bestimmten sozialen Gruppe“, die sich auf die „deutlich abgegrenzte Identität“ der Gruppe im Herkunftsland bezieht. So stellte der EuGH fest, „dass Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft anders wahrgenommen werden können und in dieser Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität insbesondere aufgrund in ihrem Herkunftsland geltender sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen zuerkannt bekommen können. Diese zweite Voraussetzung für die Identifizierung wird auch von Frauen erfüllt, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, wie eines der in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils genannten (Anmerkung: etwa der Umstand, dass Frauen sich einer Zwangsehe entzogen haben oder verheiratete Frauen ihre Haushalte verlassen haben), wenn die in ihrem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen dazu führen, dass diese Frauen aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden.“
Dass die BF als Frau ein angeborenes Merkmal im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 erfüllt, steht zweifelsfrei fest. Unter Berücksichtigung der Erwägungen des EuGH vom 16.01.2024 in der Rechtssache C-621/21 geht das Bundesverwaltungsgericht aber auch davon aus, dass die zweite Voraussetzung für das Vorliegen einer „bestimmten sozialen Gruppe“ vorliegt. Die BF hatte versucht sich mithilfe ihres Onkels von ihrem Elternhaus und traditionellen Geschlechterrollen zu distanzieren; nach dessen Tod und nach der Absolvierung ihres Studiums war sie aber in ihr Elternhaus zurückgekehrt, wo es von Beginn an zu Konflikten mit ihrem Vater kam, auch weil die BF unverheiratet war, da sie sich in jungen Jahren eienr Zwangsverheiratung widersetzt hatte. Nachdem ein arabischer Freund um ihre Hand anhielt, eskalierte die Situation und wurde die BF von ihrem Vater – unter Mithilfe ihres Bruders, der dem Vater von einem Treffen mit dem Mann berichtet hatte, – gefoltert und misshandelt.
Aus der unter 1.3.3. zitierten ACCORD Anfragebeantwortung ergibt sich, dass unverheiratete Frauen in der marokkanischen Gesellschaft generell stigmatisiert seien; dies muss umso mehr für die bereits 41jährige BF gelten, die auf keinen familiären Rückhalt (abgesehen von ihrer Mutter, die in der patriarchalischen Struktur ihres Herkunftsortes aber keinen ausreichenden Einfluss hatte, um ihre Tochter vor Folter und Misshandlung zu schützen) zurückgreifen kann. Die in Marokko geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen führen dazu, dass die BF aufgrund des Umstandes, dass sie als 41jährige nicht verheiratet ist und ihr eine außereheliche Beziehung vorgeworfen wird, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
Die BF wird bei ihrer Rückkehr in ihren Heimatort daher mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von ihrem Vater und anderen männlichen Verwandten wegen ihres aus Sicht der traditionellen marokkanischen Gesellschaft „unehrenhaften“ Verhaltens und ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe von Frauen, die nicht verheiratet sind und denen eine außereheliche Beziehung vorgeworfen wird, verfolgt werden. Unter Berücksichtigung des Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul ist dies als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen.
Es handelt sich dabei im gegenständlichen Fall um eine Verfolgung durch Privatpersonen. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 10.04.2020, Ra 2019/19/0415 bis 0416, mwN).Der Verwaltungsgerichtshof hat auch ausgesprochen, dass die Schutzfähigkeit und -willigkeit der staatlichen Behörden grundsätzlich daran zu messen ist, ob im Heimatland wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, vorhanden sind und ob die schutzsuchende Person Zugang zu diesem Schutz hat. Dabei muss auch bei Vorhandensein von Strafnormen und Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall geprüft werden, ob die revisionswerbenden Parteien unter Berücksichtigung ihrer besonderen Umstände in der Lage sind, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0119 bis 0121).
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass es sich bei Marokko um einen sicheren Herkunftsstaat im Sinne der Herkunftsstaatenverordnung handelt und dies generell für eine staatliche Schutzfähigkeit und –willigkeit spricht. Auf Basis der Länderfeststellungen (Punkt 1.3.) ist aber zunächst festzuhalten, dass in Marokko außerehelicher Geschlechtsverkehr strafbar ist und eine Verfolgung – wenn diese strafrechtlich auch nicht häufig vorkommt – meist auf Anzeigen von Familienangehörigen basiert. Nachdem der BF von ihrer Familie außerehelicher Geschlechtsverkehr vorgeworfen wird, ist bereits dies ein Aspekt, der Zweifel an der Annahme einer tatsächlichen staatlichen Schutzfähigkeit und –willigkeit hervorruft.
Wie unter Punkt 2.2. beweiswürdigend dargelegt wurde, wird der marokkanische Staat die BF vor Verfolgungshandlungen ihrer Familie nicht ausreichend schützen, da die Polizei bei innerfamiliären Konflikten selten einschreitet und es auch keine rechtliche Handhabe gibt, bevor eine Straftat erfolgt ist. Es gibt Frauenhäuser und NGO´s, die sich Opfern häuslicher Gewalt widmen, doch in unzureichender Kapazität. Im gegenständlichen Fall ist daher von einer unzureichenden Schutzfähigkeit und –willigkeit des Staates auszugehen, die sich auf patriarchalische gesellschaftliche Normen und Einstellungen zurückführen lässt. Auch der unzureichende Schutz basiert daher auf der Zugehörigkeit der BF zur sozialen Gruppe der unverheirateten Frauen, denen eine außereheliche Beziehung vorgeworfen wird.
Auch besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative, da die BF, wie bereits aufgezeigt wurde, nicht in der Lage war und auch in Zukunft nicht wäre, sich an einem Ort fernab ihrer Verwandten alleine eine neue Existenz aufzubauen.
Da auch keine Hinweise auf das Vorliegen von in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründen vorliegen, war der Beschwerde stattzugeben, und der BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 war die Entscheidung über die Zuerkennung des Status der Asylberichtigten mit der Feststellung zu verbinden, dass der BF damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz nach dem 15.11.2015 gestellt wurde, wodurch insbesondere die §§ 2 Abs. 1 Z 15 und 3 Abs. 4 AsylG 2005 idF des Bundesgesetzes BGBl. I 24/2016 („Asyl auf Zeit“) gemäß § 75 Abs. 24 leg. cit. im konkreten Fall Anwendung finden.
Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Zum Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung:
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG. Im gegenständlichen Fall war der Sachverhalt ausreichend geklärt und waren keine weiteren Ermittlungen notwendig. Nach § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG kann eine Verhandlung entfallen, wenn bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist. Im gegenständlichen Fall stand bereits aufgrund der Aktenlage fest, dass der Beschwerde stattzugeben und der angefochtene Spruchpunkt zu beheben war. Von Seiten der belangten Behörde wurde im Übrigen auch kein Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt.
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