Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird im Umfang seines Spruchpunktes
1. (Abweisung der Berufung gemäß § 7 Asylgesetz 1997) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Somalia, reiste am 31. August 2003 in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag.
Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt gab er an, Angehöriger des Clans der Midgan zu sein. Seine Flucht aus Somalia begründete er zusammengefasst damit, dass sein Bruder für den Rebellenführer Muuse Sudi arbeite und im März 2003 zwei Männer getötet habe. Deren Angehörige hätten daraufhin den Bruder des Beschwerdeführers umbringen wollen. Da dieser aber nicht greifbar gewesen sei, hätten sie den Beschwerdeführer töten wollen. Da er gewusst habe, dass er gesucht werde, sei er schließlich im Juli 2003 aus Somalia ausgereist.
Mit Bescheid vom 17. August 2004 wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I.), stellte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Somalia fest (Spruchpunkt II.) und wies den Beschwerdeführer "aus dem österreichischen Bundesgebiet" aus (Spruchpunkt III.).
Dagegen erhob der Beschwerdeführer Berufung, in der er unter anderem vorbrachte, dass er als Angehöriger der Minderheit der Midgan besonders gefährdet sei, verfolgt zu werden, weil dieser Stamm ein so genannter "Outcast-Clan" sei.
Die belangte Behörde holte - nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung - ein Sprachanalysegutachten ein. Demnach spreche der Beschwerdeführer offensichtlich das in den zentralen und nördlichen Landesteilen Somalias gesprochene Standardsomalisch und finde sich in seiner Sprache kein Einfluss des südsomalischen Dialektes. Die Kenntnisse des Beschwerdeführers zum Midgan-Clan seien sehr begrenzt; eine spezielle "Midgan-Sprache oder -Dialekt" gebe es nicht.
Im Rahmen einer weiteren Berufungsverhandlung beantragte die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers die Einvernahme von vier Zeugen (darunter ein Cousin des Beschwerdeführers), welche anerkannte Konventionsflüchtlinge und Angehörige des Midgan-Clans seien.
Mit Schriftsatz vom 1. März 2006 teilte der Beschwerdeführer der belangten Behörde neuerlich mit, dass vier - nunmehr namentlich genannte - in Österreich lebende asylberechtigte Somalier den Beschwerdeführer persönlich kennen und dessen Zugehörigkeit zum Clan der Midgan bezeugen bzw. "mündlich und eidesstattlich erklären" würden. Darüber hinaus könne auch der Obmann des "Somalischen Vereins" mit Sitz in Wien bestätigen, dass der Beschwerdeführer dem Clan der Midgan angehöre. Unter einem legte der Beschwerdeführer von drei der genannten Zeugen - auch von seinem "Cousin" A A A - handgeschriebene Erklärungen vor, in welchen jeweils bestätigt wird, dass der Beschwerdeführer ein Angehöriger der Midgan sei.
Am 29. Mai 2006 gab der Beschwerdeführer der belangten Behörde schriftlich bekannt, dass er in Bezug auf seinen Cousin A A A eine Verwandtschaftsanalyse durchgeführt habe und legte gleichzeitig das diesbezügliche Untersuchungsergebnis vom 24. Mai 2006 ("Y-STR-Analyse-Gutachten auf DAN-Basis") vor; demnach stammten der Beschwerdeführer und A A A vom selben männlichen Vorfahren ab. Im Fall des A A A habe das Bundesasylamt die Clanzugehörigkeit zu den Midgan zweifelsfrei festgestellt und diesem Asyl gewährt. Da Verwandtschaft die Grundlage für die Clanzugehörigkeit darstelle, sei der vorliegende Verwandtschaftsbeweis auch als Beweismittel für die Clanzugehörigkeit des Beschwerdeführers zu den Midgan zu werten.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt 1.), erklärte aber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 50 Fremdenpolizeigesetz (2005) die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Somalia für nicht zulässig (Spruchpunkt 2.) und erteilte dem Beschwerdeführer gemäß §§ 8 Abs. 3 iVm 15 Abs. 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt 3.).
Begründend stellte die belangte Behörde fest, dass der Beschwerdeführer nicht Angehöriger des Clans der Midgan sei und die von ihm behaupteten Fluchtgründe nicht glaubwürdig seien.
Zum Clan der Midgan traf die belangte Behörde folgende Feststellungen (Hervorhebung im Original):
"Das Volk bzw. der Volksstamm der Midgan ist keinem der großen Hauptclans Somalias zurechenbar und stellt dieser eine so genannte ethnische Minderheitengruppe, welche verstreut über ganz Somalia lebt, dar, die im Gegensatz zu sonstigen Clans oder Stämmen nicht ethnisch oder historisch definiert ist, sondern deren Zugehörigkeit Ausdruck eines sozialen Status ist. Angehörige dieses Volksstammes können sich auf Grund mangelnder Affinität nicht des Schutzes eines bestimmten Hauptclans sicher sein.
Traditionell sind Midgan niedere Handwerker oder ähnliches und bieten ihre Dienste im Umfeld größerer Städte an. Ihr sozialer Status ist außerordentlich niedrig und gelten sie als 'Unberührbare' die vielfachen sozialen Diskriminierungen, wie zum Beispiel einem Heiratsverbot ausgesetzt sind. Die Angehörigen dieses Volksstammes gelten als nur minderwertige Mitglieder der somalischen Gesellschaft. Sie können nicht mit Hilfe der Solidarität anderer Clans oder Volksgruppen rechnen.
Da Midgan zu jenen Minderheiten, die nicht auf ein traditionelles Schutzsystem zurückgreifen können, gehören, sind sie besonders gefährdet, Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Angehörige von Minderheitengruppen, wie die Midgan sind Opfer von Tötungen und der Einschüchterung, Schikanierung und dem Missbrauch durch bewaffnete Gruppierungen ausgesetzt (...).
Die Midgan haben keine eigene Sprache bzw. Dialekt."
Die Feststellung, wonach der Beschwerdeführer nicht Angehöriger des Clans der Midgan sei, begründete die belangte Behörde damit, dass die Midgan nach Angabe des Beschwerdeführers - entgegen der Feststellung des Sprachanalysegutachtens - einen eigenen Dialekt hätten, der Beschwerdeführer jedoch nach Aufforderung (in der mündlichen Berufungsverhandlung), die Zahlen von 1 bis 10 in dieser Sprache aufzuschreiben, lediglich somalische Vornamen angegeben habe. Der Beschwerdeführer verfüge nur über allgemeine Kenntnisse über diese Minderheit. Dem Sprachanalysegutachten und der "Wissenskontrolle" komme höhere Beweiskraft zu als den Zeugenaussagen bzw. den schriftlichen Aussagen von vier in Österreich lebenden anerkannten Flüchtlingen somalischer Herkunft und dem Obmann des "somalischen Vereins". Auch aus der durchgeführten Verwandtschaftsanalyse könne nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Minderheitengruppe abgeleitet werden, zumal die belangte Behörde nicht an Asylentscheidungen betreffend andere Asylwerber gebunden sei. Der Beschwerdeführer habe keine Dokumente vorgelegt, die zweifelsfrei ergäben, dass er der Minderheit der Midgan angehöre.
Die Unglaubwürdigkeit der übrigen Fluchtgründe des Beschwerdeführers begründete die belangte Behörde insbesondere mit näher dargelegten Widersprüchen in seinem Vorbringen vor dem Bundesasylamt bzw. vor der belangten Behörde.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, lediglich gegen Spruchpunkt 1. des angefochtenen Bescheides gerichtete Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:
Die Beschwerde rügt unter anderem die unterbliebene Einvernahme der vom Beschwerdeführer namhaft gemachten Zeugen sowie die Nichtberücksichtigung der Verwandtschaftsanalyse und wirft der belangten Behörde diesbezüglich eine "unzulässige vorgreifende Beweiswürdigung" im Hinblick auf die Frage der Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zum Clan der Midgan vor.
Bereits dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg:
1. Die behördliche Beweiswürdigung ist der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof zwar nur dahin unterworfen, ob der maßgebliche Sachverhalt ausreichend ermittelt wurde und ob die dabei angestellten Erwägungen schlüssig sind, was dann der Fall ist, wenn sie den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut nicht widersprechen. Dem Gerichtshof kommt es hingegen nicht zu, die Beweiswürdigung der belangten Behörde darüber hinaus auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. Eine Beweiswürdigung ist aber nur dann schlüssig, wenn (unter anderem) alle zum Beweis strittiger Tatsachen nach der Aktenlage objektiv geeigneten Umstände berücksichtigt wurden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2007/19/0830).
Die Behörde darf angebotene Beweismittel nur dann ablehnen, wenn diese an sich, also objektiv, nicht geeignet sind, zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen. Beweisanträge dürfen dementsprechend nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel als untauglich anzusehen ist, also an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahmen einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen. Zwar müssen weitere Beweisanträge nicht mehr berücksichtigt werden, wenn sich die Verwaltungsbehörde auf Grund der bisher vorliegenden Beweise ein klares Bild über die maßgebenden Sachverhaltselemente machen kann. Dies rechtfertigt es aber nicht, ein vermutetes Ergebnis von noch nicht aufgenommenen Beweisen vorwegzunehmen, die sich im Sinne der obigen Kriterien als geeignet darstellen, relevante Sachverhaltselemente zu betreffen, und die nicht an sich ungeeignet sind, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. März 2011, Zl. 2008/01/0266, mwN).
Die freie Beweiswürdigung darf erst nach vollständiger Beweiserhebung einsetzen. Eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert des Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist grundsätzlich unzulässig (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 21. Dezember 2010, Zl. 2007/05/0231, und vom 24. März 2011, Zl. 2008/09/0075, jeweils mwN).
2. Der Beschwerdeführer hat der belangten Behörde im Zuge des Berufungsverfahrens zwei wesentliche Beweismittel - die Einvernahme von Zeugen sowie das Ergebnis einer Verwandtschaftsanalyse - zum Beweis seiner Zugehörigkeit zum Stamm der Midgan angeboten. Der Frage dieser Stammeszugehörigkeit kommt im vorliegenden Fall insofern erhebliche Bedeutung zu, als nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid Midgan-Angehörige besonders gefährdet sind, Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Im Falle der Stammeszugehörigkeit scheint daher eine asylrelevante Gefährdung des Beschwerdeführers schon allein unter diesem Aspekt - und somit unabhängig von seinen sonst vorgebrachten Fluchtgründen - nicht ausgeschlossen.
3. Dem Beweisantrag auf Einvernahme der namentlich angeführten Zeugen hat die belangte Behörde mit der Begründung nicht entsprochen, dass dem von ihr eingeholten Sprachanalysegutachten und der "Wissenskontrolle" eine höhere Beweiskraft zukomme. Wie sie zu dieser Auffassung gelangte, wird im angefochtenen Bescheid jedoch nicht dargelegt. Dass die namhaft gemachten Zeugen objektiv nicht geeignet wären, zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht ersichtlich. Dass die belangte Behörde den (möglichen) Aussagen dieser Zeugen von vornherein eine geringere Beweiskraft als den erwähnten anderen Beweismitteln beimisst, stellt eine in antizipierender Beweiswürdigung getroffene Einschätzung dar (vgl. das erwähnte hg. Erkenntnis vom 17. März 2011, Zl. 2008/01/0266).
4. Weiters ist für den Verwaltungsgerichtshof die Auffassung der belangten Behörde, dass aus dem Ergebnis der Verwandtschaftsanalyse die Zugehörigkeit des Beschwerdeführers zum Stamm der Midgan nicht abgeleitet werden könne, nicht nachvollziehbar. Das Argument, dass die belangte Behörde nicht an Asylentscheidungen betreffend anderer Asylwerber gebunden sei, stellt hiefür jedenfalls keine taugliche Begründung dar. Die belangte Behörde wäre vielmehr gehalten gewesen, sich mit dieser Verwandtschaftsanalyse sowie dem Vorbringen, dass der Cousin des Beschwerdeführers dem Stamm der Midgan angehöre, wodurch sich - infolge des Verwandtschaftsverhältnisses - auch die Stammeszugehörigkeit des Beschwerdeführers ergebe, beweiswürdigend näher auseinander zu setzen.
5. Nach dem Gesagten war daher der angefochtene Bescheid in dem im Spruch angeführten Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
6. Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am 28. Juni 2011
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