VwGH 2009/13/0062

VwGH2009/13/006220.10.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Hargassner und die Hofräte Dr. Fuchs, Dr. Nowakowski, Dr. Pelant und Dr. Mairinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Unger, über die Beschwerden der A in H, vertreten durch Mag. Johann Juster, Rechtsanwalt in 3910 Zwettl, Landstraße 52, gegen die Bescheide des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, 1.) vom 27. August 2008, Zl. RV/1622-W/08, betreffend teilweise Zurückweisung eines Antrages auf Gewährung von Familienbeihilfe (hg. Zl. 2009/13/0063), und 2.) vom 19. November 2008, Zlen. RV/3160-W/08, RV/2821-W/08, betreffend Abweisung von Wiederaufnahmeanträgen in einer Familienbeihilfenangelegenheit (hg. Zl. 2009/13/0062); weitere Partei: Bundesminister für Wirtschaft, Familie und Jugend, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §69 Abs1 Z2;
BAO §303 Abs1 litb;
ZPO §530;
AVG §69 Abs1 Z2;
BAO §303 Abs1 litb;
ZPO §530;

 

Spruch:

1.) Die zur hg. Zl. 2009/13/0063 protokollierte Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 581,90 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

2.) Der zur hg. Zl. 2009/13/0062 angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des Finanzamtes vom 22. März 2005 wurde ein namens der Beschwerdeführerin gestellter Antrag auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe unter Hinweis auf ein Gutachten vom Jänner 2005, wonach die im August 1986 geborene Beschwerdeführerin voraussichtlich nicht dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, abgewiesen. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin kein Rechtsmittel.

Mit Bescheid des Finanzamtes vom 14. März 2006 wurde ein weiterer namens der Beschwerdeführerin gestellter Antrag auf Gewährung erhöhter Familienbeihilfe - nach Einholung eines weiteren Gutachtens - abgewiesen. Die Berufung der Beschwerdeführerin gegen diesen Bescheid wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 30. Juni 2006 als unbegründet abgewiesen. Die belangte Behörde stützte sich auf die Gutachten vom Jänner 2005 und vom März 2006, denen zufolge die Beschwerdeführerin voraussichtlich nicht dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Die dagegen erhobene, zunächst zur Zl. 2006/15/0309 protokollierte Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof wurde mit hg. Erkenntnis vom 21. September 2009, Zl. 2009/16/0089, als unbegründet abgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 21. Mai 2007 beantragte die Beschwerdeführerin die Wiederaufnahme der mit den Bescheiden vom 22. März 2005 und vom 30. Juni 2006 abgeschlossenen Verfahren im Hinblick auf ein in einem Verfahren betreffend eine von der Beschwerdeführerin angestrebte Invaliditätspension eingeholtes Gutachten vom 20. März 2007, worin auf der Grundlage einer Untersuchung am 20. März 2007 u.a. ausgeführt worden war, es sei nicht vorstellbar, dass die Beschwerdeführerin am freien Arbeitsmarkt tätig sei, dieser Zustand sei nie anders gewesen und mit einer wesentlichen Änderung sei nicht zu rechnen.

Das Finanzamt wies diese Wiederaufnahmsanträge mit Bescheid vom 5. Juni 2007 mit der Begründung ab, ein nach Rechtskraft erstelltes Sachverständigengutachten sei kein "neu hervorgekommenes" Beweismittel.

Mit Schriftsatz vom 18. Juni 2007 stellte die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf das Gutachten vom 20. März 2007 einen neuen Antrag auf Gewährung der Familienbeihilfe und des Erhöhungsbetrages zur Familienbeihilfe ab Juni 2002, in eventu ab dem gesetzlich frühest möglichen Zeitpunkt.

Mit Schriftsatz vom 4. Juli 2007 erhob die Beschwerdeführerin Berufung gegen die Abweisung der Wiederaufnahmeanträge.

Am 17. Jänner 2008 wurde der Beschwerdeführerin die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe ab April 2006 mitgeteilt. Mit Bescheid vom selben Tag wurde der Antrag vom 18. Juni 2007 hinsichtlich des Zeitraumes von Juni 2002 bis März 2006 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.

Gegen den Zurückweisungsbescheid erhob die Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 15. Februar 2008 Berufung.

Mit dem zur hg. Zl. 2009/13/0063 angefochtenen Bescheid vom 27. August 2008 wies die belangte Behörde die Berufung gegen den Zurückweisungsbescheid vom 17. Jänner 2008 als unbegründet ab. Sie führte im Wesentlichen aus, über den von der Zurückweisung betroffenen Zeitraum sei bereits rechtskräftig entschieden worden und "eine schrankenlose Änderung von Bescheiden bei geändertem Sachverhalt" würde "die diesbezüglichen Vorschriften der BAO, also auch die von der Bw. beantragte Wiederaufnahme des Verfahrens, inhaltsleer und völlig entbehrlich machen".

Mit dem zur hg. Zl. 2009/13/0062 angefochtenen Bescheid vom 19. November 2008 wies die belangte Behörde aber auch die Berufung gegen die Abweisung der Wiederaufnahmeanträge ab. Sie begründete dies wie folgt:

"Sachverhaltsmäßig steht fest, dass die Bw. ihre Anträge ausschließlich auf die Bestimmung des § 303 Abs. 1 lit. b BAO stützt; bei dem Sachverständigengutachten vom 20. März 2007 handle es sich um ein Beweismittel, das eine Wiederaufnahme des Verfahrens bewirken müsse.

Rechtlich folgt daraus:

Wiederaufnahmsgründe sind nur im Zeitpunkt der Bescheiderlassung existente Tatsachen, die später hervorkommen (nova reperta). Später entstandene Umstände (nova producta) sind keine Wiederaufnahmsgründe. Ein Wiederaufnahmeantrag nach der genannten Bestimmung kann somit nur auf solche Tatsachen oder Beweismittel gestützt werden, die beim Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens schon vorhanden waren, deren Verwertung der Partei aber erst nachträglich möglich wurde. Es müssen also neu hervorgekommene Tatsachen bzw. neu hervorgekommene Beweismittel vorliegen, von denen aber nur dann die Rede sein kann, wenn die Tatsachen oder Beweismittel zur Zeit des nunmehr abgeschlossenen Verfahrens bereits existent waren, aber im Verfahren nicht berücksichtigt worden sind. Die nach der Bescheiderlassung neu entstandenen Tatsachen oder später zu Stande gekommenen Beweismittel bilden als solche hingegen keine taugliche Grundlage für eine Wiederaufnahme des Verfahrens (ständige Rechtsprechung; sh. zB VwGH 22.11.2006, 2006/15/0173 mwN).

Obwohl das Finanzamt im Abweisungsbescheid knapp, aber doch ausreichend dargelegt hat, dass nach Abschluss des Verfahrens entstandene Umstände eben nicht 'neu hervorgekommen' iSd § 303 Abs. 1 BAO sind, hält die Bw. - wiewohl steuerlich vertreten - in der über weite Passagen mit den Anträgen identen Berufung an ihrer Rechtsansicht fest.

Dem ist zu entgegnen, dass die Verfahren, hinsichtlich derer die Wiederaufnahme beantragt wird, mit Bescheid des Finanzamtes vom 22. März 2005 und mit Berufungsentscheidung vom 30. Juni 2006, GZ. RV/0693-W/06, abgeschlossen wurden. Daraus folgt, dass es sich bei dem erst nach Wirksamwerden der zitierten Bescheide verfassten Sachverständigengutachten nicht um ein Beweismittel handelt, das bei Abschluss des Verfahrens bereits existent gewesen ist, sondern um ein solches, das erst nachträglich, nämlich am 20. März 2007, neu erstellt wurde. Damit liegt ein 'novum productum' vor, das zur Wiederaufnahme des Verfahrens nicht tauglich ist."

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden nach Aktenvorlage und Erstattung von Gegenschriften durch die belangte Behörde erwogen:

1. Zu den Wiederaufnahmeanträgen:

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu dem mit § 303 Abs. 1 lit. b BAO in Bezug auf die im vorliegenden Fall strittige Frage vergleichbaren Neuerungstatbestand des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG kommt es bei neu entstandenen Beweismitteln darauf an, ob sie sich auf "alte" - d.h. nicht ebenfalls erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene - Tatsachen beziehen (vgl. etwa, für den Fall eines späteren Computerausdrucks, das hg. Erkenntnis vom 25. Mai 1987, Zl. 83/08/0066). Diese Auffassung entspricht, wie im hg. Erkenntnis vom 19. April 2007, Zl. 2004/09/0159, dargelegt wurde, der seit Fasching, JBl. 1956, 245 (247 f), herrschenden Lehre und Rechtsprechung zu § 530 Abs. 1 Z 7 i.V.m. Abs. 2 ZPO (vgl. zuletzt vor allem Jelinek in Fasching/Konecny2 IV/1 (2005), Rz 67, 150 ff und 160 ff zu § 530 ZPO; Kodek in Rechberger (Hrsg.), ZPO3 (2006), Rz 15 zu § 530). In Bezug auf spätere Sachverständigengutachten ist es seit dem Erkenntnis vom 2. Juni 1982, Zl. 81/03/0151, ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass zwar nicht geänderte Schlussfolgerungen aus den bisherigen Befunden, wohl aber neue Befundergebnisse einen Wiederaufnahmegrund darstellen können (vgl. dazu die Nachweise bei

Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urtz, BAO3, § 303 E 55 und E 75 f, sowie bei Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze I2, E 181 bis 183 zu § 69 AVG, und die Bezugnahme auf diese hg. Rechtsprechung in der Entscheidung des OGH vom 1. Juli 2003, EvBl 2004/22).

Im vorliegenden Fall ist es daher von Bedeutung, dass in dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Gutachten nicht etwa nur aus früheren Befunden andere Schlussfolgerungen als von den früheren Gutachtern gezogen wurden, sondern das neue Gutachten auf den Ergebnissen einer neuen Befundaufnahme beruhte. Unter diesem Gesichtspunkt war es als Grund für eine Wiederaufnahme der Verfahren nicht grundsätzlich ungeeignet.

Da die belangte Behörde dies verkannt und sich mit dem neuen Gutachten daher nicht näher auseinander gesetzt hat, war der zur hg. Zl. 2009/13/0062 angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

2. Zur teilweisen Zurückweisung des Neuantrages:

Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht, dass über den vom Zurückweisungsbescheid vom 17. Jänner 2008 betroffenen Zeitraum bereits rechtskräftig abgesprochen worden war. Sie macht geltend, aus dem Gutachten vom 20. März 2007 gehe hervor, dass die den rechtskräftigen Entscheidungen zugrunde gelegten Sachverhaltsannahmen nicht zugetroffen hätten. Damit wäre zwar, wie die Beschwerdeführerin ausführt, auf der Grundlage dieses Gutachtens von einer "völlig anderen" Tatsachenlage als in diesen Entscheidungen auszugehen. Der Unterschied beträfe aber, soweit es den von der Zurückweisung betroffenen, abgeschlossenen Zeitraum betrifft, nur die nachträgliche Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes und nicht dessen Veränderung, weshalb die Beschwerdeführerin insoweit auf die Wiederaufnahmeanträge zu verweisen ist und die Zurückweisung des Neuantrages in Bezug auf den davon betroffenen Zeitraum zu Recht erfolgte.

Die zur hg. Zl. 2009/13/0063 protokollierte Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Die Aussprüche über den Aufwandersatz gründen sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Für die zu beiden Beschwerden erfolgte Aktenvorlage war dem Bund im Zusammenhang mit der Abweisung der zur hg. Zl. 2009/13/0063 protokollierten Beschwerde die Hälfte des Vorlageaufwandes zuzusprechen.

Wien, am 20. Oktober 2009

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