Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid vom 3. Dezember 1987 hat die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch des Mitbeteiligten auf eine Berufsunfähigkeitspension gemäß § 271 ASVG für die Zeit ab 1. August 1987 anerkannt und die Höhe der monatlichen Leistungen auf Grund der in Österreich erworbenen Versicherungsmonate festgestellt. Die in Ungarn zurückgelegten Versicherungsmonate wurden nicht in Anrechnung gebracht, da nach Ansicht der Pensionsversicherungsanstalt die persönlichen Voraussetzungen gemäß § 2 des Auslandsrenten-Übernahmegesetzes (ARÜG) beim Mitbeteiligten nicht erfüllt seien.
Mit Anträgen vom 1. Jänner und 26. April 1989 ersuchte die Erstmitbeteiligte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt um "Richtigstellung" des Pensionsbescheides gemäß § 101 ASVG. Seine in Ungarn zurückgelegten Versicherungszeiten seien wegen des Vorliegens der ungarischen Staatsangehörigkeit nach § 2 ARÜG nicht angerechnet worden. Diese Auffassung finde in der Rechtsprechung (SSV 12/93 und 5/118) keine Deckung.
Mit Bescheid vom 7. Juni 1989 lehnte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Mitbeteiligten auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG hinsichtlich der mit Bescheid vom 3. Dezember 1987 zuerkannten Leistung ab. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Anstalt habe sich bei der bescheidmäßigen Feststellung der Berufsunfähigkeitspension des Mitbeteiligten weder in einem wesentlichen Irrtum über den Sachverhalt befunden noch sei ihr ein offenkundiges Versehen unterlaufen.
Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde (u.a.) dem Einspruch des Mitbeteiligten gegen den Bescheid vom 7. Juni 1989 Folge und beauftragte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt, die mit Bescheid vom 3. Dezember 1987 zuerkannte Leistung gemäß § 101 ASVG richtig zu stellen.
Nach der Begründung habe der Mitbeteiligte in seinem Einspruch vorgebracht, in den Verwaltungsakten der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt befinde sich eine Bestätigung des Beirates für Flüchtlingsfragen, wonach der Mitbeteiligte als "Volksdeutscher" anzusehen sei. Da damit das ARÜG anzuwenden sei und die Flucht des Mitbeteiligten aus Ungarn im Jahre 1956 die Anwendung dieses Gesetzes nicht hindere, müsse die Mitteilung des Beirates für Flüchtlingsfragen übersehen worden sein. Es liege somit ein Sachverhaltsirrtum oder zumindest ein offenkundiges Versehen vor, das die Anwendung des § 101 ASVG rechtfertige.
Die belangte Behörde teilte diese Auffassung im Ergebnis mit folgender Begründung:
Im Verwaltungsakt der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt befinde sich die Auskunft des Beirates für Flüchtlingsfragen vom 4. März 1983, wonach der Mitbeteiligte im Hinblick auf Abstammung und Erziehung die Voraussetzungen der deutschen Sprachzugehörigkeit erfülle und demnach in den Personenkreis des § 2 Abs. 1 ARÜG einbezogen werden könne. Das OLG Wien habe bereits mit Urteil vom 3. Oktober 1972, 19 R 157/72 (SSV 12/93), festgestellt, dass bei einem Volksdeutschen, der später die österreichische Staatsbürgerschaft erworben habe, die Aufrechterhaltung der Staatsbürgerschaft durch den Fluchtstaat sozialversicherungsrechtlich ohne Bedeutung sei. Auch aus dem Urteil des OLG Wien vom 13. Oktober 1965, 17 R 106/65 (SSV 5/118), ergebe sich, dass das ARÜG auf Personen anwendbar sei, die zwischen dem in § 2 Abs. 1 lit. a angeführten Stichtagen und dem nach dem ASVG für den geltend gemachten Leistungsanspruch in Betracht kommenden Stichtag die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hätten, sofern sie, wenn sie nicht österreichische Staatsbürger geworden wären, am letzten Stichtag als Volksdeutsche im Sinne des § 2 Abs. 1 lit. a leg. cit. anzusehen wären. Diesen Urteilen lägen Bescheide der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt zugrunde. Im Hinblick auf die ständige Judikatur in dieser Richtung, die auch der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt hätte bekannt sein müssen, und im Hinblick auf die Auskunft des Beirates für Flüchtlingsfragen hätte die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt bei Erlassung des Pensionsbescheides - allenfalls nach weiteren Erhebungen über anzurechnende Versicherungszeiten und Anwartschaften - zu einem anderen Ergebnis gelangen müssen. Es sei unerheblich, ob der Pensionsbescheid infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder infolge eines offenkundigen Versehens ergangen sei, weil in beiden Fällen gemäß § 101 ASVG rückwirkend der gesetzliche Zustand herzustellen sei. Bei dieser Sach- und Rechtslage hätte daher dem Einspruch des Mitbeteiligten gegen den Bescheid vom 7. Juni 1989 Folge gegeben und der Pensionsversicherungsanstalt aufgetragen werden müssen, die mit Bescheid vom 3. Dezember 1987 zuerkannte Leistung rückwirkend gemäß § 101 ASVG richtig zu stellen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand genommen.
Der Mitbeteiligte hat eine Gegenschrift erstattet, in der die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt wird.
Der Verwaltungsgerichtshof hat den angefochtenen Bescheid zunächst mit Erkenntnis vom 16. März 1993, Zl. 91/08/0079, wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben. Der Verfassungsgerichtshof hat dieses Erkenntnis (ebenso den in Bindung an dieses Erkenntnis ergangenen Zurückweisungsbescheid des Landeshauptmannes) mit dem gemäß Art. 138 Abs. 1 lit. a B-VG ergangenen Erkenntnis vom 29. November 1994, K I-2/94, aufgehoben und ausgesprochen, dass der Landeshauptmann zur Erlassung des angefochtenen Bescheides zuständig gewesen ist.
Der Verwaltungsgerichtshof hat nunmehr über die Beschwerde - unter Abstandnahme vom gebrauchten Aufhebungsgrund der Unzuständigkeit der belangten Behörde - neuerlich erwogen:
Ergibt sich nach § 101 ASVG nachträglich, dass eine Geldleistung bescheidmäßig infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde, so ist mit Wirkung vom Tage der Auswirkung des Irrtums oder Versehens der gesetzliche Zustand herzustellen.
Zweck der Bestimmung des § 101 ASVG ist es, dass mit Rücksicht auf den öffentlich-rechtlichen Charakter der Versicherungsleistung der den wirklichen Verhältnissen entsprechende Zustand hergestellt werden soll. Damit wollte der Gesetzgeber erreichen, dass die Herstellung des gesetzlichen Zustandes jederzeit ungehemmt durch formelle Bedenken, daher auch ohne die strengen Voraussetzungen des Wiederaufnahmsverfahrens nach § 69 AVG möglich sein soll. Dessen ungeachtet müssen aber die Voraussetzungen des § 101 ASVG erfüllt werden, wonach infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens zu Unrecht eine Geldleistung abgelehnt, entzogen, eingestellt, zu niedrig bemessen oder zum Ruhen gebracht wurde (vgl. z.B. das Erkenntnis vom 15. September 1986, Zl. 85/08/0192).
Auch ein offenkundiges Versehen in rechtlicher Hinsicht, also ein offenkundiger Rechtsirrtum, kann Grundlage für die Anwendung des § 101 ASVG sein. Ein solcher offenkundiger Rechtsirrtum liegt vor, wenn eine gesetzliche Regelung völlig eindeutig und klar ist, sodass ihre Fehlanwendung jedem bewusst werden müsste. In diesem Sinn kann auch eine unrichtige rechtliche Beurteilung nur dann als offenkundiges Versehen im Sinne des § 101 ASVG betrachtet werden, wenn eine klare und eindeutige gesetzliche Bestimmung unrichtig ausgelegt wird. Ein offenkundiges Versehen im Sinne des § 101 ASVG liegt hingegen nicht vor, wenn das Ergebnis seiner komplizierten rechtlichen Beurteilung unzutreffend sein sollte (vgl. dazu etwa die Erkenntnisse vom 16. Februar 1999, Zl. 97/08/0542, und vom 20. September 2000, Zl. 95/08/0094).
Die belangte Behörde hat im angefochtenen Bescheid der Sache nach die Auffassung vertreten, die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt habe bei der Erlassung des Pensionsbescheides vom 3. Dezember 1987 infolge eines offenkundigen Rechtsirrtums § 2 ARÜG falsch ausgelegt und die in Ungarn zurückgelegten Versicherungszeiten des Mitbeteiligten nicht berücksichtigt. Dafür spricht nicht nur der Antrag des Mitbeteiligten, wonach sich die Pensionsversicherungsanstalt über Entscheidungen des OLG Wien hinweggesetzt habe (in denen der Staatsangehörigkeit zum Fluchtstaat keine entscheidende Bedeutung beigemessen worden ist), sondern auch die Begründung des angefochtenen Bescheides. Im Hinblick auf die Überprüfungsbefugnis des Verwaltungsgerichtshofes kann der belangten Behörde nicht gefolgt werden, wenn sie die Auffassung vertritt, es sei unerheblich, ob der Pensionsbescheid der beschwerdeführenden Versicherungsanstalt infolge eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder infolge eines offenkundigen Versehens ergangen sei, weil in beiden Fällen gemäß § 101 ASVG rückwirkend der gesetzliche Zustand herzustellen sei. Da nach der Begründung des angefochtenen Bescheides ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt (wenn also unbewusst Sachverhaltsmerkmale angenommen werden, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen) gar nicht zur Diskussion stand, kommt der diesbezüglich unrichtigen Ansicht der belangten Behörde keine Relevanz zu.
Vor dem Hintergrund der oben wiedergegebenen Rechtslage zu § 101 ASVG kann der Auffassung der belangten Behörde, der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt sei ein offenkundiges Versehen bei der Auslegung des § 2 Abs. 1 lit. a ARÜG im Zusammenhang mit der Erlassung des Pensionsbescheides des Mitbeteiligten vorzuwerfen, aus folgenden Erwägungen allerdings nicht gefolgt werden:
Gemäß § 2 Abs. 1 lit. a ARÜG gilt die Regelung des § 1 über die Berücksichtigung von Leistungsansprüchen und Anwartschaften in der Pensions(Renten)Versicherung und Unfallversicherung auf Grund von Beschäftigungen im Ausland auch für Personen,
"die sich am 11. Juli 1953, am 1. Jänner 1961 oder am 27. November 1961 im Gebiete der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufgehalten haben und an dem danach in Betracht kommenden Tag entweder österreichische oder deutsche Staatsangehörige waren oder als Volksdeutsche (Personen deutscher Sprachzugehörigkeit, die staatenlos sind oder deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist) anzusehen sind."
Zwischen den Parteien des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist unbestritten, dass der Mitbeteiligte als Person deutscher Sprachzugehörigkeit anzusehen ist. Unbestritten ist ferner, dass er sich nach seiner Flucht aus Ungarn am 4. November 1956 im Gebiet der Republik Österreich nicht nur vorübergehend aufgehalten hat. Mit Bescheid vom 4. Dezember 1963 wurde ihm (sowie seinen nicht eigenberechtigten Kindern) mit Wirkung vom 14. Dezember 1963 die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Vor der Verleihung der Staatsbürgerschaft besaß er nach seinen eigenen Angaben (vgl. OZl. 28 der Verwaltungsakten) die ungarische Staatsbürgerschaft.
Die beschwerdeführende Pensionsversicherungsanstalt hatte demnach bei Erlassung des Pensionsbescheides vom 3. Dezember 1987 zu beurteilen, ob der Mitbeteiligte als Person deutscher Sprachzugehörigkeit zu den im Gesetz genannten Stichtagen als "staatenlos" oder als "Person, deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist", anzusehen war. Bei Bejahung dieser Frage wären seine in Ungarn zurückgelegten Versicherungszeiten anzurechnen gewesen. Im Hinblick auf die - damals bestehende - ungarische Staatsbürgerschaft des Mitbeteiligten wurde diese Frage allerdings verneint (vgl. OZl. 38 der Verwaltungsakten).
Der belangten Behörde ist zuzugestehen, dass es in den von ihr zitierten Entscheidungen des OLG Wien aus den Jahren 1965 und 1972 sozialversicherungsrechtlich im Ergebnis als nicht entscheidend angesehen worden ist, dass eine Person deutscher Sprachzugehörigkeit die Staatsbürgerschaft des Fluchtstaates besaß. Dass diese Auffassung allerdings - wie die belangte Behörde meint - der ständigen Rechtsprechung zur Zeit der Erlassung des Pensionsbescheides im Dezember 1987 entsprochen hat, kann nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes nicht gesagt werden. Der damaligen Rechtsprechung entsprach vielmehr eine einschränkende Interpretation des Begriffes "Volksdeutscher" (vgl. etwa OLG Wien vom 23. August 1984, SSV 24/86; ferner R. Müller, Der Begriff der Volksdeutschen im § 2 ARÜG, DRdA 1985, 20 ff) sowie der Worte "die staatenlos sind oder deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist" in § 2 Abs. 1 lit. a ARÜG (vgl. dazu Albert, Sozialrechtliche Folgen eines tätlichen Angriffs, DRdA 1988, 56 ff, sowie Ders. in der Besprechung der Entscheidung des OGH vom 16. Juni 1992, 10 Ob S 362/91, in: DRdA 1993, 53 ff). Eine Änderung der Rechtsprechung im Sinne der von der belangten Behörde zitierten Entscheidungen des OLG Wien war erst auf Grund der zitierten Judikatur des OGH festzustellen. Nach dieser kann nämlich nach Völkerrecht der Verlust einer Staatsangehörigkeit auch eintreten, wenn die vom Heimatrecht vorgeschriebene Entlassung aus der Staatsbürgerschaft nicht erfolgt ist. Dies ist dann der Fall, wenn ein Bürger wegen politischer Verfolgung ins Ausland flüchtet und sich einseitig von seinem Heimatstaat lossagt, mit anderen Worten: wenn er durch Flucht einen gesinnungsmäßigen Bruch mit seiner Heimat vollzogen hat, wenngleich der Heimatstaat die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft aus nicht zu billigenden Gründen verweigert (vgl. ferner OGH vom 13. Juli 1993, SSV-NF 7/69).
Eine geänderte Rechtsprechung berechtigt allerdings nicht zur Anwendung des § 101 ASVG (vgl. z.B. die bei Teschner/Widlar, ASVG, zu § 101 referierte Judikatur).
Im Beschwerdefall kann somit nicht von einem offenkundigen Versehen der beschwerdeführenden Pensionsversicherungsanstalt bei Erlassung des Pensionsbescheides vom 3. Dezember 1987 die Rede sein.
Auf Grund ihrer gegenteiligen Auffassung belastete die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhalts. Dieser war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 27. Juli 2001
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