European Case Law Identifier: ECLI:AT:OLG0639:2021:0010BS00010.21M.0305.000
Spruch:
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
gründe:
Mit dem angefochtenen Urteil wurde die am ***** geborene österreichische Staatsangehörige ***** – soweit für die Erledigung der Berufung von Bedeutung – des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster und zweiter Fall StGB (I) und des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (III) schuldig erkannt. Der Schuldspruch erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.
Danach hat sie am 24.März 2020 in St. Veit an der Glan
(I) *****, ***** und *****, sohin Beamte, mit Gewalt und gefährlicher Drohung an einer Amtshandlung, nämlich ihrer zwangsweisen Entfernung aus dem Schutzbereich infolge des gegen sie ausgesprochenen Betretungs- und Annäherungsverbots (§ 38a SPG) zu hindern versucht, indem sie mit ihren Armen und Beinen nach diesen schlug und trat sowie in Richtung der maximal einen Meter entfernten Beamten ***** und ***** hustete, wobei sie angab, am 13.März 2020 aus Dorfgastein gekommen zu sein, das „wegen Corona“ unter Quarantäne stehe (US 4);
(III) ...
Ferner wurde die Angeklagte gemäß § 259 Z 3 StPO von der Anklage zu (II) freigesprochen, sie habe am 24.März 2020 Handlungen begangen, die geeignet waren, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren anzeigepflichtigen Krankheit, nämlich der durch den Erreger SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankung COVID-19 unter Menschen herbeizuführen, indem sie trotz Aufenthalts in einem besonders betroffenen Gebiet innerhalb von 14 Tagen vor der Tat demonstrativ in Richtung der maximal einen Meter entfernten Beamten ***** und ***** hustete sowie die zu (I) geschilderten Handlungen, sohin letztlich auch gegen ***** setzte, die einen engen körperlichen Kontakt erforderlich und notwendig machten.
Gegen den Freispruch wendet sich die Berufung der Staatsanwaltschaft Klagenfurt wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe zum Nachteil der Angeklagten.
Zunächst ist zu bemerken, dass sich Schuld- und Freispruch stets auf die Tat (also das unter Anklage gestellte historische Geschehen) und nicht auf die rechtliche Kategorie (strafbare Handlung) beziehen. Daher erweist sich der Freispruch vom Vorwurf des nach der Anklage (ON 3, AS 7 in ON 9) tateinheitlich und solcherart ideell zu (I) konkurrierenden demonstrativen Hustens, Schlagens und Tretens in Richtung der maximal einen Meter entfernten Beamten trotz Aufenthalts in einem besonders betroffenen Gebiet innerhalb von 14 Tagen vor der Tat als verfehlt (Unzulässigkeit des Subsumtionsfreispruchs), aber prozessual bedeutungslos. Vielmehr wäre die weitere Deliktseignung nicht in den Schuldspruch aufzunehmen und dies in den Gründen zu erörtern gewesen (RIS-Justiz RS0115553, RS0120128 [T7], RS0091051; Ratz in WK² StGB Vor §§ 28–31 Rz 20, Ratz, WK-StPO § 281 Rz 523, Lendl, WK-StPO § 259 Rz 1; zur Idealkonkurrenz strafbarer Handlungen vgl RIS-Justiz RS0124174).
Mit ihrer aus § 281 Abs 1 Z 9 lit a StPO (richtig: §§ 489 Abs 1 iVm § 281 Abs 1 Z 10 StPO; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 563, 565 und 647, Hager/Meller/Hetlinger, Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung3 74 Rz 3b) erhobenen Berufung strebt die Staatsanwaltschaft die Unterstellung des festgestellten Sachverhalts auch nach § 178 StGB an.
Ihr kommt keine Berechtigung zu.
Rechtliche Beurteilung
Soweit hier von Bedeutung stellte das Erstgericht Folgendes fest:
Die Angeklagte wurde wenige Stunden nach dem Vorfall negativ auf COVID-19 getestet. Weil sie nicht an COVID-19 erkrankt (US 8) und nicht mit dem SARS-CoV-2 Erreger infiziert war, konnte keine Übertragung des Erregers (US 5) bzw Ansteckung mit der Krankheit (US 6) durch sie bzw durch das Husten erfolgen. Eine Übertragung oder Ansteckung mit der Krankheit durch die Angeklagte war nicht möglich (US 6). Aufgrund der unmittelbaren Nähe, des Aufenthalts in einem geschlossenen Raum und des unmittelbaren Anhustens in einem Abstand von weniger als einem Meter wäre bei Infizierung der Angeklagten eine Übertragung der Krankheit möglich gewesen.
Die Angeklagte war nicht in Kenntnis, ob sie mit dem SARS-CoV-2-Erreger infiziert war oder nicht, hielt es jedoch im Zeitpunkt der Äußerung und des Hustens ernstlich für möglich, dass sie dadurch die Erkrankung COVID-19 auf die Beamten überträgt und somit eine Verbreitung der Krankheit herbeiführt und fand sich damit auch zumindest billigend ab (US 5).
Entgegen der Berufungsannahme hat das Erstgericht damit nicht alle für die Unterstellung des Sachverhalts (auch) nach § 178 StGB erforderlichen Feststellungen getroffen:
Wer eine Handlung begeht, die geeignet ist, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit unter Menschen herbeizuführen, ist zu bestrafen, wenn die Krankheit ihrer Art nach zu den wenn auch nur beschränkt anzeige- oder meldepflichtigen Krankheiten gehört (§ 178 StGB).
Das Vergehen der vorsätzlichen Gefährdung von Menschen durch übertragbare Krankheiten ist dem siebten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs (Gemeingefährliche strafbare Handlungen und strafbare Handlungen gegen die Umwelt) zugeordnet. Gemeingefährlich ist eine Handlung dann, wenn sie eine Gefahr für Leib oder Leben einer größeren Zahl von Menschen herbeiführt (Leukauf/Steininger/Tipold StGB4 Vorbem §§ 169 – 187 Rz 2).
§ 178 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt (12 Os 90/01; EBRV 30 BlgNR XIII.GP 322; zur Einordnung als potenzielles Gefährdungsdelikt Schwaighofer in SbgK § 178 Rz 2, Leukauf/Steininger/Tipold StGB4 Vorbem §§ 169 – 187 Rz 3; zur Einordnung als abstrakt potenzielles Gefährdungsdelikt Murschetz in WK2 StGB § 179 Rz 1, Flora in SbgK [2009] § 178 Rz 3, Leukauf/Steininger/Tipold, StGB4 § 178 Rz 8). Beim abstrakten Gefährdungsdelikt genügt die bloße gedankliche (theoretische) Möglichkeit, dass das Rechtsgut beeinträchtigt werden könnte (Kienapfel/Höpfel/Kert, AT15 Z 9 Rz 35). Es erfordert die abstrakte Eignung der Tathandlung zur Herbeiführung der umschriebenen Gefahr (Leukauf/Steininger/Tipold StGB4 Vorbem §§ 169 – 187 Rz 3). Beim potenziellen Gefährdungsdelikt ist der Tatbestand erfüllt, wenn die typische Eignung eines bestimmten Verhaltens zur Herbeiführung einer konkreten Gefahr im Einzellfall festgestellt wurde (Kienapfel/Höpfel/Kert, AT15 Z 9 Rz 37).
Für die Strafbarkeit genügt die typische Eignung zur Herbeiführung der Gefahr der Verbreitung einer wenn auch nur beschränkt anzeige- oder meldepflichtigen Krankheit (Murschetz in WK2 StGB § 179 Rz 1, Flora in SbgK [2009] § 178 Rz 3). Das mit der Handlung verbundene generelle Infektionsrisiko für andere Menschen muss im Urteil festgestellt werden. Der Täter ist solcherart strafbar, wenn die typische Eignung seines Verhaltens zur Verbreitung der Krankheit festgestellt wird (Schwaighofer in SbgK § 178 Rz 1, Flora in SbgK [2009] § 178 Rz 3).
Tatbildlich ist jede Handlung, die geeignet ist, die Gefahr einer Verbreitung, dh der Zunahme des Ausdehnungsbereichs der ansteckenden Krankheit, herbeizuführen. Eine konkrete Ansteckung oder Ansteckungsgefahr einer Person ist nicht erforderlich (zur Abgrenzung zum konkreten Gefährdungsdelikt sh Murschetz in WK2 StGB § 179 Rz 2; EBRV 30 BlgNR XIII.GP 322).
Krankheit setzt den Eintritt einer Funktionsstörung, die Krankheitswert im medizinischen Sinn hat, voraus. So kann nicht bloß die manifeste Erkrankung, sondern auch die Infektion nach Lage des Falles Krankheitswert besitzen (Flora in SbgK [2009] § 178 Rz 12). Eine übertragbare Krankheit im Sinn des § 178 StGB ist eine solche, bei der ein Krankheitserreger unmittelbar oder mittelbar von einem Individuum auf ein anderes übergehen kann (EBRV 30 BlgNR XIII.GP 322). Notwendig ist solcherart das Vorliegen eines Krankheitserregers eines nicht notwendigerweise selbst (bereits) erkrankten Individuums (Fabrizy, StGB13 § 178 Rz).
Entgegen der Berufungsargumentation wird im Gegenstand zufolge der hier nicht vorliegenden Infizierung der Angeklagten mit dem Krankheitserreger SARS-CoV-2 nicht einmal eine bloß theoretische Möglichkeit der Rechtsgutsbeeinträchtigung in Form der Verbreitung der Krankheit COVID-19 geschaffen. Die Handlung ist abstrakt nicht geeignet, die Gefahr der Verbreitung einer Krankheit herbeizuführen. Die erforderliche Gefährdungseignung ist dann gegeben, wenn der Täter selbst infiziert ist (ebenso im Ergebnis Cohen, CuRe 2020/24, Cohen, JSt 2020, 204, Ayasch, ZfG 2020, 53 [54]; in diesem Sinn auch Rebisant, GRAU 2020/22, 74 [76], Birklbauer in Resch, Corona-HB1.02 Kap 16 Rz 20).
Das Husten, Schlagen und Treten einer hier nicht mit dem Erreger SARS-CoV-2 infizierten Angeklagten im unmittelbaren Nahbereich anderer Personen ist nicht geeignet, die Gefahr der Verbreitung der anzeigepflichtigen Krankheit COVID-19 unter Menschen herbeizuführen, mag sich die Angeklagte auch unmittelbar zuvor in einem Risikogebiet aufgehalten haben. Eine sozial inadäquate Gefährlichkeit wird dadurch mangels Vornahme einer gefährlichen Handlung nicht geschaffen; eine Gefahrenquelle nicht eröffnet.
Die treffende Berufungsargumentation, wonach sich die objektive Bedingung der Strafbarkeit bloß auf die Anzeige- oder Meldepflicht der Krankheit bezieht (EBRV 30 BlgNR XIII.GP 322), ändert am Erfordernis einer objektiven Gefährdungseignung nichts.
Dieses Ergebnis stützt auch die ganz herrschende Lehre zu Sexualkontakten HIV-Infizierter, die mittlerweile auf die Viruslast abstellt. Ist aufgrund der geringen Virenanzahl eine Übertragung von AIDS ausgeschlossen, fehlt es auch dort an der (potenziellen) Gefahr der Verbreitung, sodass Strafbarkeit ausscheidet (Murschetz in WK2 StGB § 179 Rz 6 mwN; Flora in SbgK [2009] § 178 Rz 15 ff mit Judikaturhinweisen 11 Os 171/97 und 12 Os 90/01 zu ungeschütztem Verkehr).
Die Berufungsannahmen, wonach Strafbarkeit auch gegeben sei, wenn es im Einzelfall zu keiner Gefährdung komme, § 178 StGB einem „Vorbeugungsgedanken“ entspreche und eine Infektion der Angeklagten im Gegenstand keine Voraussetzung für die Strafbarkeit sei, weil die Infektionswahrscheinlichkeit steigernde Umstände (hier: Aufenthalt in einem besonders gefährdeten Risikogebiet, naher Körperkontakt) diese begründe, leitet die angestrebte rechtliche Konsequenz nicht methodisch korrekt aus dem Gesetz ab. Sie vernachlässigt den Wortlaut und die Systematik des Gefährdungsdelikts ebenso wie die ratio legis. § 178 StGB soll die Gesamtbevölkerung vor der Ansteckung mit besonders gefährlichen übertragbaren Krankheiten schützen und dient solcherart der Epidemie- und Pandemiebekämpfung (Murschetz in WK2 StGB § 179 Rz 1, Flora in SbgK [2009] § 178 Rz 5). Handlungen, die in keinem Fall zu einer Ansteckung mit einer solchen Krankheit führen können, sind solcherart weder vom Wortlaut noch vom Schutzzweck der Norm umfasst.
Die von der Berufungswerberin vorgenommene Abstraktion, die sich über das Nichtvorliegen einer Infektion der Angeklagten hinwegsetzt und sich damit von der Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit entfernt, ginge über die Grenzen des möglichen Wortsinns hinaus. Dies würde das strenge Gesetzlichkeitsprinzip (nulla poena sine lege) des § 1 Abs 1 StGB (vgl Art 7 Abs 1 MRK) überschreiten und insoweit zu einer unzulässigen Erweiterung der Strafbarkeit führen.
Letztlich vernachlässigt die Berufungsargumentation auch das gewaltentrennende Organisationsprinzip des Art 94 B-VG, weil das Gericht dadurch in die Kompetenz der Verwaltungsbehörde eingreifen würde. Nicht jedes Verhalten, das die mittels Verordnungen jeweils festgelegten Verhaltensanordnungen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus missachtet, begründet gerichtliche Strafbarkeit (zur ultima-ratio Funktion des Strafrechts Höpfel in WK2 StGB § 1 Rz 54;zur Sanktionierung nach den verwaltungsstrafrechtlichen Bestimmungen in diesen Fällen Rebisant, GRAU 2020/22, 74 [76], Birklbauer in Resch, Corona-HB1.02 Kap 16 Rz 22, Cohen, CuRe 2020/24, Cohen, JSt 2020, 204).
Weil die
Subsumtionsrüge solcherart nicht vom Urteilssachverhalt (US 5, 6 und 8) ausgeht, der nicht alle für die Unterstellung des Sachverhalts auch unter das Vergehen nach § 178 StGB erforderlichen Feststellungen enthält, verfehlt sie den Bezugspunkt materiell-rechtlicher Nichtigkeit (RIS-Justiz RS0099810).
Ferner enthalten die Urteilskonstatierung auch keine Feststellungen zur Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit (US 5 f „Übertragung“ „Ansteckung“). Wenn der Angeklagte – wie hier positiv festgestellt (US 5) – von seiner Infektion nichts weiß, fehlt überdies der Vorsatz (Murschetz in WK2 StGB § 179 Rz 7, Flora in SbgK [2009] § 178 Rz 30).
Für den Erfolg der Berufung wegen Nichtigkeit erfordert es hinsichtlich jener Tatbestandsmerkmale, zu denen das Urteil keine Konstatierungen enthält (hier: zur Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit), unter Berufung auf derartige Feststellungen indizierende und in der Hauptverhandlung vorgekommene Verfahrensmängel einen Feststellungsmangel (Z 9 lit a) geltend zu machen. Wurden Tatbestandsmerkmale – wie hier die subjektive Tatseite – (ausdrücklich) verneint, ist insoweit ein Begründungsmangel geltend zu machen (RIS-Justiz RS0127315; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 397/1, Ratz, WK-StPO § 288 Rz 1 f). Diesen Anfechtungsrahmen verlässt die Berufung gänzlich, indem sie weder Begründungsmängel aufzeigt noch Feststellungsmängel prozessförmig geltend macht.
Solcherart verfehlt die Berufung wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe gesamthaft die prozessförmige Darstellung.
Oberlandesgericht Graz, Abteilung 1
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