OGH 9ObA76/24b

OGH9ObA76/24b21.11.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Hargassner und die Hofrätin Dr. Wallner‑Friedl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Arnaud Berthou (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei *, vertreten durch die Stanek Raidl Konlechner Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei *, vertreten durch Gerlach Rechtsanwälte in Wien, wegen Feststellung des aufrechten Dienstverhältnisses, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Juli 2024, GZ 7 Ra 15/24p‑33, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:009OBA00076.24B.1121.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1. Der – insgesamt auch für Dienstverhältnisse nach dem VBG geltende (vgl RS0028543 [T5]) – Grundsatz der Unverzüglichkeit der Entlassung besagt, dass der Arbeitgeber – bei sonstigem Verlust des Entlassungsrechts – die Entlassung ohne Verzug, das heißt sofort nachdem ihm der Entlassungsgrund bekannt geworden ist, aussprechen muss (RS0029131; RS0028965). Die Unterlassung der sofortigen Geltendmachung eines Entlassungsgrundes führt zur Verwirkung des Entlassungsrechts, wenn das Zögern nicht in der Sachlage begründet war (vgl RS0031571 [T4]). Diesem Grundsatz liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Arbeitgeber, der eine ihm bekannt gewordene Verfehlung des Arbeitnehmers nicht unverzüglich mit der Entlassung beantwortet, die Weiterbeschäftigung dieses Arbeitnehmers offenbar nicht als unzumutbar ansieht und auf die Ausübung des Entlassungsrechts im konkreten Fall verzichtet (RS0031799 [T12]; RS0029249 [T2]).

[2] 1.2. Der Unverzüglichkeitsgrundsatz darf jedoch nicht überspannt werden (vgl RS0029273 [T16]; RS0031587 [T1]). Entscheidend ist vor allem der Verständnishorizont des betroffenen Dienstnehmers: Für diesen muss das Verhalten des Dienstgebers gerechtfertigten Grund zur Annahme geben, dieser verzichte auf die Geltendmachung der Entlassungsgründe; dies trifft regelmäßig dann nicht zu, wenn das Zögern sachlich begründet ist und der Dienstgeber durch sein Verhalten nicht den Eindruck erweckt, er werde den Entlassungsgrund nicht wahrnehmen (RS0031799 [T25, T27]). In der Regel liegt kein (konkludenter) Verzicht auf die Geltendmachung von Kündigungs- oder Entlassungsgründen vor, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in unmissverständlicher Weise, zum Beispiel durch eine Suspendierung bis zur Klärung der tatsächlichen oder rechtlichen Lage, zeigt, dass er aus dem Verhalten des Arbeitnehmers Konsequenzen ziehen werde und eine Weiterbeschäftigung als unzumutbar ansehe; solche vorläufigen Maßnahmen können daher die Annahme eines Verzichts verhindern (vgl RS0028987; RS0031587 [T13]).

[3] 1.3. Ein Beendigungsgrund gilt als bekannt geworden, sobald der Auflösungsberechtigte über alle Einzelheiten Bescheid weiß, die er für eine fundierte Entscheidung benötigt (vgl RS0029321). Bei einem zweifelhaften Sachverhalt ist der Arbeitgeber verpflichtet, die zu seiner Klärung erforderlichen und zumutbaren Erhebungen ohne Verzögerung durchzuführen, will er nicht sein Entlassungsrecht verlieren. Diese Obliegenheit zur Nachforschung besteht dann, wenn dem Arbeitgeber konkrete Umstände zur Kenntnis gelangt sind, die die Annahme rechtfertigen, dass das Verhalten des Dienstnehmers eine Entlassung rechtfertigt (8 ObA 6/24a; RS0029345 [T6]).

[4] Der Kenntniserlangung durch den Arbeitgeber ist grundsätzlich die Kenntnisnahme durch seinen Stellvertreter oder durch einen ganz oder teilweise mit Personalagenden befassten leitenden Angestellten gleichzuhalten, wenn dieser dem Arbeitgeber oder seinem Stellvertreter von dem Entlassungsgrund nicht unverzüglich berichtet hat (RS0029321 [T4]). Bei juristischen Personen öffentlichen Rechts kommt es hingegen auf die Kenntnisnahme durch das Organ an, das die Entlassung zu beschließen hat; (selbst) die Kenntnis einzelner Mitglieder dieses Organs genügt nicht (RS0021588; RS0114477; vgl auch RS0029273).

[5] 1.4. Die Frage, ob dem Erfordernis der Unverzüglichkeit des Ausspruchs der Entlassung entsprochen wurde, hängt immer von den Umständen des Einzelfalls ab und stellt regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0031571 [T12]).

[6] 2. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass die Entlassung des Klägers verspätet ausgesprochen wurde, hält sich im Rahmen der dargelegten Rechtsprechung und des den Gerichten im Einzelfall notwendigerweise zukommenden Beurteilungsspielraums.

[7] 3. Die Revision zeigt dagegen keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[8] 3.1. Die Revisionswerberin behauptet gar nicht mehr, dass die Unternehmensstruktur oder die Notwendigkeit der Rechtsinformation eine Rolle gespielt hätten.

[9] Dem Argument der Revisionswerberin, die Geschäftsführerin * habe erst am 24. 3. 2022 volle Kenntnis des entlassungsrelevanten Sachverhalts gehabt, ist entgegenzuhalten, dass sie nach den Feststellungen bereits Ende Februar vor Antritt eines dreiwöchigen Urlaubs Kenntnis von einer Beschwerde von Mitarbeiterinnen gegenüber dem Kläger hatte. Darüber hinaus wussten auch der zweite Geschäftsführer und ein Prokurist bereits Ende Februar 2022 von den Vorfällen und Beschwerden der teilweise noch minderjährigen Lehrlinge, somit auch davon, dass es sich um keinen Einzelfall handelte. Anfang März 2022 erfuhr auch der zweite Prokurist von sexistischen Äußerungen des Klägers gegenüber den Lehrlingen. Sämtliche nötigen Informationen lagen den entscheidungsbefugten Organen bereits zu diesem Zeitpunkt vor. Dennoch hat die Beklagte wochenlang keine Schritte gesetzt, der Kläger wurde nie verwarnt. Die Dringlichkeit – insbesondere gerade der in der Revision hervorgehobene Umstand des Schutzes der persönlichen Integrität minderjähriger weiblicher Lehrlinge – war auch zumindest einem der beiden Prokuristen sowie einem Geschäftsführer bekannt. Es hätte der anwesende Geschäftsführer gemeinsam mit einem der beiden informierten Prokuristen die Entlassung aussprechen können. Wenn man schon der Meinung war, die auf Urlaub befindliche, jedoch telefonisch erreichbare weitere Geschäftsführerin in die Entscheidung miteinbeziehen zu müssen, hätte man diese kontaktieren können. Wieso selbst nach deren Rückkehr am 14. 3. 2022 wiederum mehr als eine Woche der Untätigkeit verstrich, legt die Beklagte nicht dar.

[10] 4. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 510 Abs 3 ZPO; § 2 Abs 1 ASGG).

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