European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0070OB00131.24A.1023.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht
Spruch:
Die Akten werden dem Berufungsgericht zurückgestellt.
Begründung:
[1] Der Kläger begehrt die Feststellung der Versicherungsdeckung für sich und seine drei mitversicherten Familienangehörigen für die Geltendmachung von immateriellen Schadenersatzansprüchen in Höhe von je 2.840 EUR und von materiellen Schadenersatzansprüchen in Form von Feststellungsbegehren (bewertet mit je 10.000 EUR) gegen ein Labor aufgrund einer von diesem verursachten Datenschutzverletzung.
[2] Die Beklagte beantragt Klageabweisung.
[3] Das Erstgericht wies die Klagebegehren ab.
[4] Das Berufungsgericht bestätigte das Urteil, sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteigt und ließ die Revision nicht zu.
Rechtliche Beurteilung
[5] Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers.
1. Allgemeines zur Zusammenrechnung
[6] 1.1. Die Frage der Zusammenrechnung nach § 55 Abs 1 JN stellt sich, wenn mehrere Ansprüche mit einer Klage geltend gemacht werden, sei es, dass mehrere Ansprüche gegenüber einer Partei erhoben werden (objektive Klagenhäufung oder Anspruchshäufung; § 55 Abs 1 Z 1 JN) oder die Durchsetzung mehrerer Ansprüche (je eines Anspruchs) von mehreren Parteien (und/oder) gegenüber mehreren Parteien mit einer Klage verfolgt werden (subjektive Klagenhäufung oder Parteienhäufung; § 55 Abs 1 Z 2 JN).
[7] 1.2. Die Nicht-Zusammenrechnung ist der Regelfall, von der § 55 Abs 1 JN Ausnahmen normiert. Im Zweifel ist somit nicht zusammenzurechnen (RS0122950; RS0110872 [T8]). Das Vorliegen der Ausnahmen hat der Kläger zu behaupten; es sind allein dessen Behauptungen (und nicht die Behauptungen der Gegenseite oder die getroffenen Feststellungen) maßgeblich (RS0042741; RS0106759).
[8] 1.3. Findet keine Zusammenrechnung statt, ist die Revisionszulässigkeit für jeden einzelnen Entscheidungsgegenstand gesondert zu beurteilen (RS0130936; RS0042642).
2. Subjektive Klagenhäufung
[9] 2.1. Bei subjektiver Klagenhäufung (Parteienhäufung) sind die von mehreren Parteien oder gegen mehrere Parteien erhobenen Ansprüche (nur dann) zusammenzurechnen, wenn sie materielle Streitgenossen nach § 11 Z 1 ZPO sind (§ 55 Abs 1 Z 2 JN). Dies ist der Fall, wenn sie hinsichtlich des Streitgegenstands in Rechtsgemeinschaft stehen oder aus demselben tatsächlichen Grund oder solidarisch berechtigt oder verpflichtet sind (RS0035615 [T25]; 6 Ob 145/23a).
[10] 2.2. Eine Rechtsgemeinschaft bloß bezüglich eines nur eine Vorfrage bildenden Sachanspruchs oder Rechtsanspruchs reicht nicht aus, um eine materielle Streitgenossenschaft annehmen zu können (RS0035355). Eine Berechtigung oder Verpflichtung aus demselben tatsächlichen Grund im Sinn des § 11 Z 1 ZPO setzt einen einheitlichen rechtserzeugenden Sachverhalt voraus. Wo für einen Streitgenossen noch weitere rechtserzeugende Tatsachen für die Ableitung des Anspruchs hinzutreten, ist keine materielle Streitgenossenschaft gegeben (vgl RS0035450). Ansprüche von und gegen (bloß) formelle Streitgenossen im Sinn des § 11 Z 2 ZPO sind hingegen nicht zusammenzurechnen (RS0035615), und zwar selbst dann nicht, wenn die geltend gemachten Forderungen in einem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang stehen (RS0035615 [T26]; 5 Ob 174/20d).
[11] 2.3. Eine Abtretung von Forderungen vermag weder die anspruchsbegründenden Tatsachen noch den Rechtsgrund derselben zu verändern (ausführlich 3 Ob 2/11g). Daher sind mehrere gleichartige Forderungen verschiedener Gläubiger, die einem einzelnen abgetreten wurden, nicht zusammenzurechnen (3 Ob 2/11g; RS0110982 [T2]; Gitschthaler in Fasching/Konecny 3 § 55 JN Rz 22). Tritt der Sozialversicherungsträger, der an mehrere bei einem Unfall verletzte Personen Leistungen erbracht hat und dafür in einer einheitlichen Klage Ersatz begehrt, als Legalzessionar auf, so werden die von den einzelnen Versicherten auf ihn übergegangenen Ansprüche bei der Beurteilung der Revisionszulässigkeit ebenfalls nicht zusammengerechnet (RS0042727).
[12] 2.4. Soweit in einem Rechtsschutzversicherungs-vertrag auch eine Mitversicherung anderer Personen vorgesehen ist, handelt es sich um eine Versicherung für fremde Rechnung im Sinn der §§ 74 ff VersVG. Dabei hat der Versicherungsnehmer das formelle Verfügungsrecht über die sachlich (materiell) dem Versicherten zustehende Forderung (vgl RS0080863; RS0080792 [T6]). Da der Versicherungsnehmer gemäß §§ 74 ff VersVG ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend macht, liegt der Fall einer – zulässigen – gesetzlichen Prozessstandschaft vor (7 Ob 220/20h).
[13] 2.5. Der Kläger macht im vorliegenden Fall – zulässigerweise – nicht nur seinen Deckungsanspruch, sondern auch die Deckungsansprüche von drei weiteren (mitversicherten) Familienmitgliedern gegen die Beklagte geltend. Wenn Forderungen verschiedener Gläubiger, die einem von ihnen abgetreten wurden, nur zusammenzurechnen sind, wenn die Voraussetzungen des § 55 Abs 1 Z 2 JN vorliegen, muss dies auch für den vorliegenden Fall einer gesetzlichen Prozessstandschaft gelten, bei der der Kläger als Versicherungsnehmer die Rechte der Mitversicherten im eigenen Namen geltend macht.
[14] Eine Zusammenrechnung der Ansprüche des Klägers und der einzelnen Mitversicherten kann daher nur erfolgen, wenn die Voraussetzungen des § 11 Z 1 ZPO vorliegen. Dies ist hier nicht der Fall: Der Versicherungsnehmer und die aus demselben Versicherungsvertrag berechtigten Mitversicherten bilden keine Rechtsgemeinschaft im Sinn von § 11 Z 1 ZPO. Aber auch eine Berechtigung aus demselben tatsächlichen Grund im Sinn des § 11 Z 1 ZPO liegt nicht vor, weil jeder Streitgenosse noch weitere rechtserzeugende Tatsachen für die Ableitung seines Deckungsanspruchs behaupten muss.
3. Objektive Klagenhäufung
[15] 3.1. Bei objektiver Klagenhäufung (Anspruchshäufung) ist dann zusammenzurechnen, wenn die (von einer einzelnen Partei gegen eine einzelne Partei geltend gemachten) Ansprüche in einem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang stehen. Ein tatsächlicher Zusammenhang wird bejaht, wenn alle Klageansprüche aus demselben Klagesachverhalt abzuleiten sind (RS0042766). Ein rechtlicher Zusammenhang liegt vor, wenn die Ansprüche aus demselben Vertrag oder derselben Rechtsnorm abgeleitet werden, aber eben nicht, wenn die Ansprüche ein unterschiedliches rechtliches Schicksal haben können (6 Ob 145/23a; vgl auch RS0037648 [T18]).
[16] 3.2. Wenn – wie hier – Ansprüche aus einem Versicherungsvertrag geltend gemacht werden, die behauptetermaßen aus einem Schadensfall („Datenleck“ des Labors) resultieren, liegt der von § 55 Abs 1 Z 1 JN geforderte Zusammenhang vor. Die Deckungsansprüche für die Geltendmachung der behaupteten materiellen und immateriellen Schäden sind daher nicht getrennt zu beurteilen.
4. Ergebnis
[17] Zusammengefasst bedarf es im vorliegenden Fall getrennter Bewertungsaussprüche für den Kläger (Versicherungsnehmer) und die einzelnen Mitversicherten. Die Akten waren daher an das Berufungsgericht zur Ergänzung des Bewertungsausspruchs zurückzustellen. Die weitere Vorgehensweise ergibt sich aus § 508 ZPO.
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