European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0150OS00050.24B.0904.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Fachgebiet: Medienrecht
Spruch:
Das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 20. Juli 2017, AZ 18 Bs 116/17s, verletzt § 6 Abs 2 Z 3a MedienG.
Gründe:
[1] In der Medienrechtssache der Antragstellerin * Z* gegen die Antragsgegnerin * M* GmbH, AZ 93 Hv 108/16g des Landesgerichts für Strafsachen Wien, sprach dieses Gericht mit Urteil vom 20. Jänner 2017 (ON 11) aus, dass durch die Veröffentlichung nachangeführter Postings am 12. September 2016 auf der Website www.u*.at zu einem dort am 11. September 2016 veröffentlichten Artikel mit der Überschrift „P*‑Schreiberin Z* auf Foto-Safari bei FPÖ‑Wahlkampf‑Auftakt: Auf der Suche nach den 'hässlichsten Menschen'?“, und zwar
1./ eines Postings von „C*“, in dem sinngemäß behauptet wurde, die Antragstellerin sei eine geeignete Zielscheibe und man solle auf diese schießen, und
2./ eines Posting von „h*“, in dem die Antragstellerin mit den Worten „dumm“, „Larve“ und „Pestbeule“ benannt und gleichzeitig bedauert wurde, dass es keine Gaskammern mehr gäbe,
in einem Medium in Bezug auf die Antragstellerin der objektive Tatbestand der Beschimpfung und Verspottung nach § 115 Abs 1 (erster und zweiter Fall) StGB hergestellt wurde. Es verpflichtete die Antragsgegnerin nach § 6 Abs 1 MedienG zur Zahlung von Entschädigungen jeweils in Höhe von 1.000 Euro sowie gemäß § 8a Abs 6 MedienG zur Urteilsveröffentlichung.
[2] Nach den erstrichterlichen Feststellungen (US 4 ff) ist die Antragstellerin Journalistin bei der Wochenzeitschrift „P*“ und die Antragsgegnerin Medieninhaberin (mit Sitz in Wien) der Website www.u*.at. Auf dieser Website, die seit 2009 online ist, werden durchschnittlich sechs bis zehn Artikel pro Tag und rund 3.000 Artikel im Jahr veröffentlicht. Alle Beiträge auf der Website werden von Journalisten „ohne Entgelt ehrenamtlich“ geschrieben. Die Antragsgegnerin verfügte im Jahr 2016 über ein Jahresbudget von zirka 80.000 Euro. Zum Betrieb der Website sind bei ihr zwei Personen in der Verwaltung angestellt.
[3] Die * M* GmbH bietet auf ihrer Website die Möglichkeit an, von ihr veröffentlichte Artikel zu kommentieren, somit ein grafisch unterhalb des jeweiligen Artikels platziertes Posting zu erstellen. Dazu muss sich der Poster mit E‑Mail-Adresse und Passwort auf der Website registrieren. Von der Medieninhaberin erfolgt hinsichtlich jedes Postings eine technische Freigabe, jedoch keine inhaltliche Prüfung desselben etwa auf das Vorliegen ehrenbeleidigender, verhetzerischer oder sonst strafrechtlich relevanter Inhalte. Eine Durchsicht der veröffentlichten Postings durch die Medieninhaberin zwecks allfälliger Entfernung von in diesem Sinn verpönten Inhalten ist nicht vorgesehen. Die Antragsgegnerin weist Poster auf ihrer Website allerdings darauf hin, dass beleidigende, strafrechtlich relevante und hetzerische Inhalte nicht erwünscht seien.
[4] Am 11. September 2016 wurde auf der Website www.u*.at folgender Artikel mit der Überschrift „P*‑Schreiberin Z* auf Foto-Safari bei FPÖ‑Wahlkampf-Auftakt: Auf der Suche nach den 'hässlichsten Menschen'?“ veröffentlicht:
„'Es sind die hässlichsten Menschen Wiens, ungestalte, unförmige Leiber, strohige, stumpfe Haare, ohne Schnitt, ungepflegt, Glitzer-T-Shirts, die spannen, Trainingshosen, Leggins, Pickelhaut, schlechte Zähne, ausgeleierte Schuhe'
So beschrieb * Z*, langjährige Redakteurin beim Magazin p* und davor Kandidatin der KPÖ Graz, im Vorjahr die Besucher einer freiheitlichen Veranstaltung vor der Wien-Wahl. Dafür fand sogar der linkslastige Presserat deutliche Worte und urteilte: Eine derartig intensive, pauschale Häufung negativer Attribute ist für sich betrachtet eine eindeutige Diskriminierung dieser Menschen.
Journalistinnen-Preis für Hass-Schreiberin
Zwischen der Beleidigung der FPÖ‑Wähler und der Verurteilung durch den Presserat erhielt Z* noch schnell den '5. Wiener Journalistinnenpreis' In der Begründung wurde dezidiert ihre 'Haltung' genannt. Wie aus dem Text hervorgeht, war mit diesem Wort hauptsächlich ihre verbissene Ablehnung der FPÖ gemeint.
Z* erneut auf Foto-Safari
Schon damals war zu befürchten, dass selbst die deutliche Verurteilung des Presserats kein Umdenken nach sich ziehen würde – weder bei Z* noch bei ihrem Arbeitgeber, p*-Herausgeber * R*, selbst ein Meister der linken Hetze. Der Beweis dafür wurde im Zuge des Wahlauftakts von FPÖ‑Bundespräsidentschaftskandidat * H* in W* am 10. September 2016 erbracht.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Entgleisung entdeckten U*-Leser * Z* hochkonzentriert mit ihrer Telefon-Kamera mitten im Publikum. Fotografiert hat sie von dort aus ganz offensichtlich nicht die Bühne, sondern Menschen: Bürger, die * H* und die FPÖ unterstützen – Bürger wie jene, die Z* vor einem Jahr als die 'hässlichsten Menschen Wiens' bezeichnet hat.
Wann kommt Kampagne gegen Hass im p*?
Das p* ist übrigens jenes Medium, das derzeit besonders intensiv gegen Hass im Netz (nicht gegen Hass im p*) kämpft.
Wandere aus, solange es noch geht“
[5] Dieser Artikel war mit einem Foto der Antragstellerin, die gerade mit ihrem Mobiltelefon in eine Menschenmenge fotografiert, illustriert. Grafisch unterhalb dieses Textes bestand die Möglichkeit, Kommentare zu diesem Artikel zu posten.
[6] Am 12. September 2016 um 18:30 Uhr wurde folgendes Posting von „h*“ veröffentlicht:
„P*-Schreiberin Z* diese dumme person kann einem nur leid tun. warscheinlich ist sie zu dumm, einen eimer wasser auszuschütten, den säuft sie lieber selbst aus!!! jetzt habe ich einen vorteil, ich habe das bild mit diese larve ausgedruckt und in meinen keller gehangen, der erfolg war sofort sichtbar, habe keine ratten mehr!!!!!!!
Wie kann man sich so weit herunterlassen?? schade, das es keine gaskammern mehr gibt!!!
lassen wir uns von so einer PESTBEULE nicht die wahl verderben.
In österreich ein kreuz bei * h* in deutschland ein kreuz bei AfD.
DEUTSCHLAND DEN DEUTSCHEN GOTT MIT
UNS!!!!!!!!!!!!“
[7] Am selben Tag um 18:41 Uhr wurde folgendes Posting von „C*“ veröffentlicht:
„Bild der Zielperson mit Erfolg ausgedruckt…
…und wurde erfolgreich als Zielscheibe verwendet – STOP
Nach dem Leermachen des Glock‑Magazines war leider noch ein Teil die Nase der Zielperson erkennbar – STOP
Die Schrotflinte hat dann die Nase auch noch weggeputzt – STOP
Allen Kameraden viel Erfolg bei eigenen Schießübungen – STOP
ÖSTERREICH DEN ÖSTERREICHERN – FÜR ÖSTERREICH“.
[8] Die Antragstellerin ist im Artikel vom 11. September 2016 und in den Postings vom 12. September 2016 für jeden erkennbar. Der Artikel sowie die inkriminierten Postings wenden sich an Personen mit einer politisch rechten Gesinnung, die diese Grundhaltung bestätigt wissen wollen. Ihnen ist die Antragstellerin und deren berufliche Tätigkeit bekannt und sie hegen eine tiefe Abneigung gegen diese.
[9] Der angesprochene Leser entnimmt dem ersten Posting, dass die Antragstellerin ein „dummes, hässliches und somit verachtenswertes linkes Weibsbild sei, welches genauso wie die Juden vergast gehöre“, dem zweiten Posting wiederum, dass der Antragstellerin mit körperlicher Gewalt begegnet gehöre.
[10] Hinsichtlich der Urheberschaft der inkriminierten Postings führte das Erstgericht aus, dass nicht festgestellt werden kann, wer die inkriminierten Postings verfasst hat, also „weder, ob von einer zur Antragsgegnerin gänzlich außenstehenden Person, vom Artikelverfasser selbst oder von einer Person, welche regelmäßig Artikel für die Antragsgegnerin verfasst“. Es gelangte zur Überzeugung, dass die Postings von keinen der Antragsgegnerin zurechenbaren Personen stammen (US 12 iVm US 4 und 7).
[11] Nach den weiteren Urteilsannahmen forderte der Vertreter der Antragstellerin die Antragsgegnerin am 23. September 2016 schriftlich auf, die inkriminierten Postings zu löschen und der Antragstellerin Namen und Anschrift deren Verfasser bekanntzugeben. Die Antragsgegnerin löschte einige Stunden nach Erhalt dieses Schreibens die beiden inkriminierten Postings und verständigte den Vertreter der Antragstellerin am 29. September 2016 schriftlich davon. Weiters wurden diesem die E‑Mail-Adressen betreffend die beiden Poster mitgeteilt.
[12] Bereits vor dem Artikel vom 11. September 2016 hatte die Antragsgegnerin nach den erstrichterlichen Urteilsannahmen auf ihrer Website www.u*.at insgesamt vier – im Urteil auszugsweise wiedergegebene – Artikel veröffentlicht, die sich mit der Antragstellerin und ihrer beruflicher Tätigkeit, insbesondere mit deren im September 2015 veröffentlichten Artikel über die Teilnehmer an einer Wahlkampfveranstaltung der FPÖ, beschäftigten, nämlich am 9. September 2015 mit der Überschrift „P*-Redakteurin beleidigt freiheitliche Wähler: Anzeige beim Presserat“, am 10. September 2015 mit der Überschrift „'FPÖ‑Hasserin' Z* hat KPÖ‑Vergangenheit“, am 22. Oktober 2015 mit der Überschrift „Beleidigendes Z*‑Geschreibsel wird mit Journalistinnen-Preis belohnt“, und am 19. November 2015 mit der Überschrift „Presserat rügt beleidigendes Z*-Geschreibsel“. Auch diese Artikel führten jeweils zu – im Urteil wiedergegebenen – Postings mit Beleidigungen und Beschimpfungen der Antragstellerin.
[13] In rechtlicher Hinsicht (vgl US 11 ff) erachtete das Erstgericht den objektiven Tatbestand der Beschimpfung und Verspottung nach § 115 Abs 1 (erster und zweiter Fall) StGB und somit den Anspruchstatbestand des § 6 Abs 1 MedienG als erfüllt. Das Vorliegen des von der Antragsgegnerin geltend gemachten Ausschlussgrundes nach § 6 Abs 2 Z 3a MedienG verneinte das Erstgericht mit der Begründung, dass die gebotene Sorgfalt nicht eingehalten worden sei. Denn bei der Beantwortung der Frage, ob die Medieninhaberin (oder die ihr zurechenbaren Personen) die ihre Haftung ausschließende gebotene Sorgfalt habe walten lassen, seien insbesondere folgende Faktoren zu berücksichtigen: 1./ der Medieninhaber: das Bestehen personeller oder organisatorischer Vorkehrungen zur Verhinderung ehrenbeleidigender, strafrechtlich relevanter Postings im Zusammenhang mit der unternehmerischen Größe oder Marktmacht des Medieninhabers, die Anzahl der täglich veröffentlichten Artikel, die journalistische Zielsetzung und die vorrangigen Themen; 2./ der dem Posting zugrundeliegende Artikel: dessen Inhalt und Aufmachung, eine allfällige Vorberichterstattung, die Zielsetzung des Artikels im Sinn einer Anregung zu einer Diskussion oder bereits eines Mittels zur Herabwürdigung des Antragstellers; 3./ das Posting selbst: sein konkreter Inhalt, ob dieser für jeden augenscheinlich als Ehrenbeleidigung erkennbar ist oder nicht, der Urheber und dessen Bezug zum Antragsteller; 4./ der Antragsteller: seine Person im Zusammenhang mit dem zugrundeliegenden Artikel, das Handeln als „public figure“, das rechtliche Agieren des Antragstellers in Bezug auf das Posting, insbesondere eine Kontaktaufnahme mit dem Medieninhaber. Nach Ansicht des Erstgerichts werde dem Medieninhaber unter dem Aspekt des § 6 Abs 2 Z 3a MedienG jedenfalls mehr abverlangt, als dies die Bestimmungen der §§ 16 ff ECG in Ansehung von Diensteanbietern tun.
[14] Fallbezogen sei insbesondere zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin eine juristische Person sei, die seit acht Jahren als Medieninhaberin der Website www.u*.at tätig sei und täglich mindestens sechs Artikel veröffentliche, der den Postings zugrundeliegende Artikel bewusst Antipathien gegen die Person der Antragstellerin schüre, die inkriminierten Postings zu Gewalthandlungen gegen die Antragstellerin aufriefen und diese selbst als Journalistin in der Medienwelt tätig und bekannt sei. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin bereits zuvor durch die Antragstellerin betreffende Veröffentlichungen beleidigende und beschimpfende Postings hervorgerufen habe.
[15] Das Oberlandesgericht Wien gab der gegen dieses Urteil erhobenen Berufung der Antragsgegnerin wegen Nichtigkeit mit Urteil vom 20. Juli 2017, AZ 18 Bs 116/17s (ON 20), Folge, hob das angefochtene Urteil auf und wies die Anträge auf Zuerkennung einer Entschädigung und Urteilsveröffentlichung ab.
[16] Das Berufungsgericht kam zum Ergebnis, dass das Erstgericht – ausgehend von den erstrichterlichen Sachverhaltsannahmen – den geltend gemachten Ausschlussgrund des § 6 Abs 2 Z 3a MedienG zu Unrecht verneint habe (US 10 ff). Es stützte sich im Wesentlichen auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs AZ 15 Os 14/15w, 15/15t, die (unter anderem) auf die Entscheidung EGMR 10. 10. 2013, Bsw 64569/09, Delfi AS gegen Estland, Bezug nimmt, und hielt fest, dass im vorliegenden Fall eines an den Medieninhaber ergangenen Hinweises auf einen Persönlichkeitsrechte verletzenden Inhalt in seinem Medium die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt am Kriterium des Zeitpunkts der Kenntnis vom rechtswidrigen Inhalt und daran anschließend an der Unverzüglichkeit der Löschung desselben durch den Medieninhaber zu prüfen sei. Unter Hinweis auf die Entscheidung AZ 6 Ob 178/04a betreffend die Haftung des Betreibers eines „Online-Gästebuchs“ für dort veröffentlichte Inhalte Dritter sowie die Bestimmungen der §§ 16 ff ECG verneinte es eine generelle Überwachungspflicht des Medieninhabers für von Dritten auf seiner Website geposteten Inhalten und gelangte ausgehend davon zur Überzeugung, dass die Medieninhaberin die nach § 6 Abs 2 Z 3a MedienG gebotene Sorgfalt eingehalten habe, weil sie die inkriminierten Postings noch am Tag der Kenntnisnahme entfernt habe.
[17] Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit Urteil vom 5. September 2023, Bsw 4222/18, Z* gegen Österreich, eine durch das angeführte Urteil des Oberlandesgerichts Wien bewirkte Verletzung der Antragstellerin Z* in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art 8 MRK festgestellt.
Rechtliche Beurteilung
[18] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht das Urteil des Oberlandesgerichts Wien vom 20. Juli 2017, AZ 18 Bs 116/17s, mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[19] Nach § 6 Abs 2 Z 3a MedienG besteht ein Entschädigungsanspruch nach Abs 1 leg cit nicht, wenn es sich um die Abrufbarkeit auf einer Website handelt, ohne dass der Medieninhaber oder einer seiner Mitarbeiter oder Beauftragten die gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen hat.
[20] Dieser Ausschlussgrund gilt für (wie vorliegend) Äußerungen (vom Medieninhaber [§ 1 Abs 1 Z 8 MedienG] oder dessen Mitarbeitern oder Beauftragten [vgl § 1 Abs 1 Z 11 MedienG] verschiedener) Dritter auf einer Website und setzt voraus, dass der Medieninhaber oder die ihm zurechenbaren Personen die gebotene Sorgfalt nicht vernachlässigt haben (vgl Berka in Berka/Heindl/Höhne/Koukal, Praxiskommentar MedienG4 § 6 Rz 41 ff; Rami in WK² MedienG § 6 Rz 26, 27/3; EBRV 784 BlgNR 22. GP 9).
[21] Bei der Bestimmung der gebotenen Sorgfalt sind einerseits die Vielfalt an Websites, auf denen Äußerungen zugänglich gemacht werden, die rasche Entwicklung elektronischer Medien und deren technische Gegebenheiten, die Verkehrsauffassung sowie die Besonderheiten des Internets zu berücksichtigen. Andererseits sind die Sorgfaltsanforderungen – unter Anlegung eines objektiv-individuellen Maßstabs – an die Diversität real existierender Medieninhaber abzustimmen. Und schließlich ist – unter dem Blickwinkel des Art 10 MRK – auf den Beitrag, den Diskussionsforen im Internet zu einer offenen und lebendigen Diskussion gesellschaftlich wichtiger Fragen in einer demokratischen Öffentlichkeit leisten, Bedacht zu nehmen (RIS‑Justiz RS0130105).
[22] Die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt verlangt vom Medieninhaber jedenfalls, bei Kenntnis von der Veröffentlichung einer den Entschädigungstatbestand des § 6 Abs 1 MedienG verwirklichenden Äußerung auf seiner Website diese unverzüglich zu entfernen (vgl auch § 16 ECG idF vor BGBl I 2023/182 und nunmehr Art 6 DSA‑Verordnung [Verordnung {EU} 2022/2065 über einen Binnenmarkt für digitale Dienste und zur Änderung der Richtlinie 2000/31/EG ]; EBRV 784 BlgNR 22. GP 9; Berka in Berka/Heindl/Höhne/Koukal,Praxiskommentar MedienG4 § 6 Rz 43c f; Rami in WK² MedienG § 6 Rz 28). Bezugspunkt dieser Kenntnis ist zum einen in tatsächlicher Hinsicht die Existenz des entsprechenden Inhalts auf der Website, wofür Wissentlichkeit iSd § 5 Abs 3 StGB erforderlich ist, und zum anderen dessen Rechtswidrigkeit, die bereits dann anzunehmen ist, wenn diese für den Medieninhaber wie für jedermann leicht erkennbar ist (vgl § 9 Abs 2 erster Halbsatz StGB). Ist die Rechtsverletzung zwar nicht offenkundig, wird sie aber gegenüber dem Medieninhaber in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht substantiiert beanstandet, so trifft diesen – zur Einhaltung der gebotenen Sorgfalt – die Obliegenheit zur unverzüglichen (Veranlassung einer) juristischen Überprüfung der behaupteten Rechtsverletzung. Die sodann gegebenenfalls notwendige Entfernung der Äußerung hat unverzüglich zu erfolgen, worunter Handeln ohne schuldhafte Verzögerung zu verstehen ist. Dabei ist einerseits auf die Schwere der Rechtsverletzung und die Dringlichkeit der Reaktion abzustellen und sind andererseits auch Umstände aus der Sphäre des Medieninhabers zu berücksichtigen, etwa ob es sich um eine professionell und auf kommerzieller Basis betriebene Website handelt, ob der Medieninhaber durch Art und Präsentation eigener Inhalte ein besonderes Risiko einer Rechtsverletzung gesetzt hat oder er sonst, etwa aufgrund früherer Vorkommnisse, mit dieser rechnen musste (vgl zu allem 15 Os 14/15w, 15/15t; 15 Os 26/18i; Berka in Berka/Heindl/Höhne/Koukal, Praxiskommentar MedienG4 § 6 Rz 43c).
[23] Die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt nach § 6 Abs 2 Z 3a MedienG verlangt jedoch vom Medieninhaber in bestimmten Fällen weitergehende Überwachungs- und Überprüfungspflichten hinsichtlich auf seiner Website von Dritten veröffentlichter Inhalte. So wie auch die Haftungsprivilegien der §§ 13 ff ECG idF vor BGBl I 2023/182 (nunmehr Art 4 ff DSA‑Verordnung) ua dann nicht gelten, wenn ein Diensteanbieter Persönlichkeitsrechte verletzende Postings durch eigenes Verhalten provoziert oder ihm – etwa aufgrund vorangegangener Postings – die Gefahr von Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch einzelne Nutzer bekannt ist (vgl RIS‑Justiz RS0118525 [T7, T8]; 6 Ob 188/16i), so treffen auch den Medieninhaber (dem zudem eine inhaltliche Gestaltungsmacht über die von ihm betriebene Website und somit stets eine aktive Rolle zukommt; § 1 Abs 1 Z 8 lit c MedienG) in bestimmten Fällen weitergehende Überwachungs- und Prüfpflichten zur Hintanhaltung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen (vgl Berka in Berka/Heindl/Höhne/Koukal, Praxiskommentar MedienG4 § 6 Rz 43d; RIS‑Justiz RS0130692). Da derartige, dem Schutz der Persönlichkeitsrechte (Art 8 MRK) dienende Sorgfaltsanforderungen in einem Spannungsverhältnis zum Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung (Art 10 MRK) stehen, bedarf es einer Abwägung zwischen dem Recht des von der Äußerung Betroffenen auf Achtung seines Privatlebens und Schutz seines guten Rufes nach Art 8 MRK und dem durch Art 10 MRK garantierten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung.
[24] Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR 10. 10. 2013 und 16. 6. 2015, Bsw 64569/09, Delfi AS gegen Estland; EGMR 2. 2. 2016, Bsw 22947/13, Magyar Tartalomszolgaltatok Egyesülete und Index.hu Zrt gegen Ungarn; EGMR 15. 5. 2023, Bsw 45581/15, Sánchez gegen Frankreich; vgl auch RIS‑Justiz RS0130692 und die vorliegende Entscheidung in der Beschwerdesache Z* gegen Österreich) sind für die Abwägung der widerstreitenden Interessen nach Art 8 MRK und Art 10 MRK, welche für die Beurteilung der Haftung für Kommentare Dritter im Internet erforderlich ist, folgende Kriterien maßgeblich: der Kontext der Kommentare, die vom Medieninhaber ergriffenen Maßnahmen zur Verhinderung oder Löschung diffamierender Kommentare, die Haftung des Verfassers der Kommentare als Alternative zur Haftung des Medieninhabers sowie die Folgen des innerstaatlichen Verfahrens für den Medieninhaber, der Inhalt der Kommentare (nämlich insbesondere, ob es sich um Hassrede [„hate speech“] oder Aufstachelung zu Gewalt [„incitement to violence“] handelt). Bei der erforderlichen Abwägung berücksichtigt der EGMR auch die Größe und Reichweite desNachrichtenportals sowie das Ausmaß des wirtschaftlichen Interesses an den Kommentaren und den Umstand, ob sich der die Kommentare auslösende Artikel auf eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse bezog und ober Persönlichkeitsrechte verletzende Kommentare provoziert hat.
[25] Beinhalten Kommentare Dritter Hassreden oder gegen die physische Integrität von Individuen gerichtete Drohungen, können Internetportale ohne Verstoß gegen Art 10 MRK haftbar gemacht werden, wenn sie keine Maßnahmen ergriffen haben, um offensichtlich rechtswidrige Kommentare unverzüglich zu entfernen, und zwar auch ohne zuvor erfolgte Verständigung durch das mutmaßliche Opfer oder Dritte.
[26] Das Oberlandesgericht Wien hat die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt nach § 6 Abs 2 Z 3a MedienG im Wesentlichen deshalb bejaht, weil die Medieninhaberin die inkriminierten Postings unverzüglich nach Kenntniserlangung gelöscht hat. Gegenständlich hätte aber der Ausschlussgrund des § 6 Abs 2 Z 3a MedienG dem Medieninhaber – nach Maßgabe der obigen Ausführungen, insbesondere aber mit Blick auf den Kontext sowie den (Hassrede und Aufstachelung zu Gewalt gegen die Antragstellerin umfassenden) Inhalt der inkriminierten Kommentare und den Umstand, dass die Medieninhaberin (wiederholt) bewusst Antipathien gegen die Beschwerdeführerin geschürt hat – weitergehende Überwachungs- und Überprüfungspflichten abverlangt. Indem das Berufungsgericht somit nicht sämtliche zur Beurteilung der Frage der Einhaltung der gebotenen Sorgfalt nach § 6 Abs 2 Z 3a MedienG relevanten Prüfungskriterien berücksichtigt hat, verletzt dessen Entscheidung – entgegen der auf Host‑Provider und nicht auf Medieninhaber abstellenden Äußerung der Antragsgegnerin (vgl dazu Koukal in Berka/Heindl/Höhne/Koukal, Praxiskommentar MedienG4 § 1 Rz 30h)§ 6 Abs 2 Z 3a MedienG.
[27] Da die Gesetzesverletzung der Medieninhaberin, der gemäß § 41 Abs 6 MedienG die Rechte des Angeklagten zukommen, nicht zum Nachteil gereicht, war die Gesetzesverletzung lediglich festzustellen (§ 292 letzter Satz StPO iVm § 41 Abs 1 MedienG).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)