OGH 5Ob146/23s

OGH5Ob146/23s9.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Jensik als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Wurzer und Mag. Painsi, die Hofrätin Dr. Weixelbraun‑Mohr und den Hofrat Dr. Steger als weitere Richter in der Familienrechtssache des Antragstellers Ing. J* B*, vertreten durch Mag. Hans‑Peter Pflügl, Rechtsanwalt in Herzogenburg, gegen die Antragsgegnerin M* H*, vertreten durch Dr. Peter Vögel, Rechtsanwalt in Wien, wegen Unterhalts, über den Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 17. Mai 2023, GZ 23 R 194/23m‑24, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Tulln vom 6. April 2023, GZ 15 FAM 49/22m‑18, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0050OB00146.23S.0409.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin ist schuldig, dem Antragsteller binnen 14 Tagen die mit 1.000,75 EUR (darin 166,79 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsrekursverfahrens zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Antragsteller hat sich mit gerichtlichem Vergleich vom 14. 10. 2015 dazu verpflichtet, seiner Tochter, der Antragsgegnerin, ab 1. 1. 2015 bis auf weiteres, längstens bis zu ihrer Selbsterhaltungsfähigkeit einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von 780 EUR zu zahlen.

[2] Die Antragsgegnerin hat im Schuljahr 2018/2019 an einer privaten höheren Lehranstalt in St. Pölten die Diplomprüfung für die Schulform Kolleg für Design – Nachhaltige Produktentwicklung abgelegt und mit gutem Erfolg bestanden. Danach begann sie ab 30. 9. 2019 ein Fernstudium an der Internationalen Hochschule Erfurt für den Studiengang Kommunikationsdesign; das ist ein Vollzeit‑Bakkalaureatstudium mit einer Regelstudienzeit von sechs Semestern. Die durchschnittliche Studiendauer konnte nicht festgestellt werden. Als Studienende ist in der Immatrikulationsbescheinigung der Antragsgegnerin der 30. 3. 2023 angeführt.

[3] Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des Erstgerichts befand sich die Antragsgegnerin in ihrem achten Semester, ein Semester davon nahm sie als Urlaubssemester in Anspruch. Die Antragsgegnerin hatte bis dahin 50 von 180 ECTS‑Punkten erreicht, im ersten Semester (WS 2019/2020) 5, im zweiten Semester (SS 2020) 25, im dritten Semester (WS 2020/2021) 5, im vierten Semester (SS 2021) 5, im fünften Semester (W 2021/2022) 5, im sechsten Semester (SS 2022) 0 und im siebten Semester (WS 2022/2023) 5.

[4] Die Antragsgegnerin war während ihres Studiums teilweise berufstätig, von 4. 11. 2021 bis 31. 3. 2022 als Arbeiterin, von 1. 4. bis 20. 5. 2022 als geringfügig Beschäftigte und von 2. 8. bis 31. 10. 2022 als Angestellte. Während dieses letzten Zeitraums erzielte sie Einkünfte von 5.241,70 EUR. Seit 1. 12. 2021 ist sie zur Ausübung des Gewerbes „Werbegrafik‑Designer“ berechtigt, die Höhe der daraus erzielten Einkünfte konnte nicht festgestellt werden.

[5] Der Antragsteller beantragte, ihn ab dem Zeitpunkt des Endes der Regelstudienzeit, sohin ab 1. 4. 2023, von seiner Geldunterhaltsverpflichtung für seine Tochter zu entheben.

[6] Das Erstgericht wies den Antrag ab.

[7] Der festgestellte Sachverhalt führe zu keinem Erlöschen des Unterhaltsanspruchs. Die Antragsgegnerin habe in sieben Semestern rund 27 % des Studiums absolviert, daher sei noch von einer ernsthaften und zielstrebigen Betreibung des Studiums auszugehen. Die Antragsgegnerin habe zwar neben ihrem Studium Einkünfte erzielt, deren Höhe reiche aber nicht aus, um ihren notwendigen Unterhalt zu decken.

[8] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Antragstellers Folge und erklärte die Unterhaltsverpflichtungdes Antragstellers ab 1. 4. 2023 für erloschen.

[9] Bei der Beurteilung der Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit eines Hochschulstudiums des Unterhaltsberechtigten sei auf die Durchschnittsstudiendauer für einzelne Studienabschnitte abzustellen. Dies setze implizit auch eine Prognose voraus, ob der Studienabschluss insgesamt innerhalb einer angemessenen Dauer möglich sein werde. Bei nicht zielstrebiger Betreibung eines Studiums trete Selbsterhaltungsfähigkeit ein.

[10] Ein zielstrebiger Studienerfolg sei zwar nicht bereits dann zwingend zu verneinen, wenn nach schlichtem Dividieren die pro Semester erreichten ECTS‑Punkte nicht stets jenen Punkten entsprechen, die bei einer durchschnittlichen Studiendauer im rechnerischen Durchschnitt auf ein Semester entfielen. Es könnten deutlich unterdurchschnittliche Studienerfolge ja auch durch spätere bessere Erfolge ausgeglichen werden. Bei der Antragsgegnerin verhalte es sich aber umgekehrt. Sie habe in den ersten beiden Semestern insgesamt 25 ECTS‑Punkte erreicht und in den folgenden fünf Semestern insgesamt nur 25 Punkte. Das entspreche einem Schnitt von rund 7 ECTS‑Punkten pro inskribiertem Semester, bei einer Schnittbildung der ersten beiden erfolgreichen Semester mit je 12,5 ECTS‑Punkten entfalle auf jedes der folgenden fünf Semester ein Schnitt von nur mehr 5 ECTS‑Punkten. Diese Leistung erreiche nicht einmal die Voraussetzung für den Bezug der Familienbeihilfe, die mit 8 ECTS‑Punkten pro Semester ohnehin sehr niedrig sei.

[11] Nach der Grundidee des Bachelor-/ Masterstudiensystems sollten in der Regel 25 Arbeitsstunden ausreichen, um einen ECTS‑Punkt zu erreichen und eine positive Prüfung abzulegen. Bei der Antragsgegnerin komme man bei rund 7 ECTS‑Punkten auf rund 175 Lernstunden pro Semester, somit rund 4,3 Wochen zu 40 Arbeitsstunden, was bei einem Unterhaltspflichtigen unzweifelhaft zur Anspannung führte. Entgegen der Rechtsansicht des Erstgerichts sei daher nicht davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin ihr Fernstudium ernsthaft und zielstrebig betreibe.

[12] Der Anspruch auf Unterhalt erlösche zwar trotz Erreichens der durchschnittlichen Studiendauer dann nicht, wenn besondere Gründe vorlägen, die ein längeres Studium gerechtfertigt erscheinen ließen. Das wäre etwa bei der notwendigen Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses der Fall. Die Antragsgegnerinsei hier in den vergangenen Jahren zwar in unterschiedlichem Ausmaß (teils geringfügig, teils offenbar vollzeitbeschäftigt) und im Rahmen unterschiedlicher Beschäftigungsverhältnisse erwerbstätig gewesen. Ein Vorbringen dahin, dass diese Erwerbstätigkeit neben ihrem Studium aus welchen Gründen immer erforderlich oder etwa zum Erwerb einer Zusatzqualifikation sinnvoll gewesen sei, habe sie aber nicht erstattet. Wenn die Antragsgegnerin als besonderen Grund für die Überschreitung der Studiendauer die Corona‑Pandemie anführe, sei dies hier jedenfalls verfehlt, weil die Antragsgegnerin ein Fernstudium absolviere, bei dem Präsenz gerade nicht erforderlich sei. Durch corona‑bedingte Lockdowns und Zugangsbeschränkungen zu Hörsälen, Bibliotheken oder ähnliches haben sich auf die konkrete Studiendauer der Antragsgegnerin nicht auswirken können.

[13] Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs über Antrag der Antragsgegnerin nachträglich zu. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs sei für die Beurteilung der Zielstrebigkeit eines Hochschulstudiums die durchschnittliche Dauer des Studiums maßgeblich. Die daher erforderlichen Feststellungen zur durchschnittlichen Studiendauer hätten im vorliegenden Fall eines Fernstudiums aber nicht getroffen werden können.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die Antragsgegnerin zeigt in ihrem Revisionsrekurs keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG auf. Der vom Antragsteller beantwortete Revisionsrekurs ist daher entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Zulassungsausspruch des Rekursgerichts nicht zulässig und zurückzuweisen.

[15] 1. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs hat ein noch nicht selbsterhaltungsfähiges studierendes Kind so lange Anspruch auf Unterhalt, als es sein Studium ernsthaft und zielstrebig betreibt. Ein Unterhaltsberechtigter studiert in der Regel ernsthaft und zielstrebig, solange die durchschnittliche Gesamtstudiendauer nicht überschritten wird (RS0083694; RS0110596; RS0117107; RS0110600). Dabei ist grundsätzlich auf die durchschnittliche Studiendauer für einzelne Studienabschnitte abzustellen (RS0083694 [T10]).

[16] Diese Rechtsprechung, nach der die Studienzeit in den einzelnen Studienabschnitten als „Richtschnur“ für die Beurteilung der Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit eines Studiums bedeutsam ist, setzt implizit eine Prognose dahin voraus, ob der Studienabschluss insgesamt innerhalb einer angemessenen Dauer möglich sein wird (RS0083694 [T11]). Eine Überprüfung des angemessenen Studienfortgangs ist daher auch während des Studiums vor Ablauf der Studienhöchstdauer unerlässlich (RS0083694 [T12]).

[17] Bei der Beurteilung der Frage, ob das Studium ernsthaft und zielstrebig betrieben wird, ist nur der tatsächliche Studienfortgang ex post zu betrachten (RS0110600 [T8]). Ein zielstrebiger Studienerfolg ist dabei nicht zwingend bereits dann zu verneinen, wenn nach schlichtem Dividieren die pro Semester erreichten ECTS‑Punkte nicht (stets) jenen Punkten entsprechen, die bei einer durchschnittlichen Studiendauer im rechnerischen Durchschnitt auf ein Semester entfallen (RS0110600 [T15]; vgl auch RS0120928 [T3]).

[18] Bei in Studienabschnitten gegliederten Studien bieten die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 lit b FLAG für die Gewährung von Familienbeihilfe eine grobe Orientierung für die Frage, ob ein Studium zielstrebig und ernsthaft betrieben wird (RS0083694 [T25]; RS0110600 [T9]; RS0047687 [T7]; RS0120928). Fehlt eine Gliederung in Studienabschnitte – wie dies bei einem Bachelor- oder Masterstudium der Fall ist –, hat die erforderliche Kontrolle des periodischen Studienfortgangs durch eigenständige Beurteilung der vom Unterhaltswerber erbrachten Leistungen zu erfolgen (RS0120928 [T6]).

[19] 2. Die Frage, ob ein nicht selbsterhaltungsfähiges studierendes Kind seinen Unterhaltsanspruch verliert, weil es sein Studium nicht ernsthaft und zielstrebig betreibt, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden (RS0008857 [T1]; RS0109289 [T2]; RS0047580 [T3]). Eine erhebliche Rechtsfrage wird dadurch daher in der Regel nur dann aufgeworfen, wenn eine erhebliche Fehlbeurteilung vorliegt.

[20] Eine solche vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung durch das Rekursgericht zeigt die Antragsgegnerin nicht auf. Die Ansicht des Rekursgerichts, dass die Antragsgegnerinihr Studium ex post betrachtet nicht (mehr) zielstrebig verfolgt hat, begegnet im Einzelfall keinen Bedenken.

[21] Es kommt nach der Rechtsprechung auf den ex post zu betrachtenden Studienfortgang unter Berücksichtigung der durchschnittlichen bzw angemessenen Studiendauer an (1 Ob 43/23i [Fernstudium zur Vorbereitung auf die Berufsreifeprüfung]). Kann die zur Beurteilung der Unterhaltspflicht grundsätzlich erforderliche Durchschnittsstudiendauer – wie hier – nicht festgestellt werden, muss (und darf) auf andere Kriterien zurückgegriffen werden, die geeignet sind, die Angemessenheit der Studiendauer zu beurteilen. Eine Negativfeststellung zur durchschnittlichen Studiendauer geht alsonur insoweit zu Lasten des Antragstellers, als er nicht schon dadurch die für die Unterhaltsbemessung maßgebliche, zu seinen Gunsten ausschlaggebende Änderung der Verhältnisse (Eintritt der Selbsterhaltungsfähigkeit der Antragsgegnerin) unter Beweis stellen konnte (10 Ob 30/22t; RS0006348).

[22] Das Rekursgericht stellte zu diesem Zweck auf die von der Antragsgegnerin in den bisherigen Semestern durchschnittlich erreichten ECTS‑Punkte, die Vorgaben des § 2 Abs 1 lit b FLAG und die aus der Wertigkeit eines ECTS‑Punktes errechnete im Semester durchschnittlich aufgewandteLernzeit ab. Die Auffassung des Rekursgerichts, dass der nach diesen Kriterien bemessene Studienfortgang – im (relevanten) Entscheidungszeitpunkt erster Instanz (2 Ob 102/20v; RS0006801) ex post betrachtet – nicht ausreichend sei, um davon ausgehen zu können, dass die Antragsgegnerin ihr Studium ernsthaft und zielstrebig betreibe, ist nicht korrekturbedürftig.

[23] 3. Der Anspruch auf Unterhalt erlischt trotz Erreichen der durchschnittlichen Studiendauer nicht, wenn besondere Gründe vorliegen, die ein längeres Studium gerechtfertigt erscheinen lassen (RS0083694 [T5, T29]; RS0110596 [T5]; RS0047687 [T1]), wie etwa bei Krankheit oder wenn der Unterhaltsberechtigte zur Ausübung einer Nebenbeschäftigung gezwungen ist (10 Ob 30/22t mwN).

[24] Das Rekursgericht hat die von der Antragsgegnerin ins Treffen geführte COVID‑19‑Pandemie nicht als solchen besonderen Grund gelten lassen, weil sich die damit verbundenen Einschränkungen auf deren Fernstudium nicht ausgewirkt hätten. Mit ihren abstrakten Ausführungen zu der angeblich notorischen Verlangsamung in allen Bereichen der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens zeigt die Antragsgegnerin auch in diesem Zusammenhang keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung des konkreten Einzelfalls durch das Rekursgericht auf.

[25] 4. In Gesamtbetrachtung der festgestellten Studienfortschritte und Lebensumstände hat das Rekursgericht somit den Ermessensspielraum, der ihm bei der nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilenden Frage der ernsthaften und zielstrebigen Betreibung eines Studiums eingeräumt ist, nicht überschritten. Allein der Umstand, dass ein gleichgelagerter (oder ähnlicher) Sachverhalt vom Obersten Gerichtshof noch nicht beurteilt worden sein mag, bedeutet noch nicht, dass eine Rechtsfrage von der im § 62 Abs 1 AußStrG umschriebenen Bedeutung vorliegt (RS0110702; RS0107773; RS0102181). Das gilt insbesondere, wenn – wie hier – der Streitfall bereits mit Hilfe vorhandener Grundsätze höchstgerichtlicher Rechtsprechung gelöst werden kann und vom Rekursgericht auch so gelöst wurde (RS0107773 [T3]; RS0042742 [T13]; RS0042656 [T48]).

[26] 5. Der Revisionsrekurs der Antragsgegnerin ist daher mangels Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.

[27] Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 Abs 2 AußStrG. Der Antragsteller hat in der Revisionsrekursbeantwortung auf die Unzulässigkeit des Rechtsmittels hingewiesen (RS0129381; RS0122774).

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