OGH 1Ob3/24h

OGH1Ob3/24h8.4.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofrätin und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der M*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Eigentümergemeinschaft der Liegenschaft EZ * KG *, vertreten durch Dr. Thomas Hofer‑Zeni, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 14. November 2023, GZ 44 R 477/23g‑17, mit dem der Rekurs der Eigentümergemeinschaft gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Liesing vom 22. August 2023, GZ 17 P 94/23h‑9, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0010OB00003.24H.0408.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Erwachsenenschutzrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Rekursgericht wird die Entscheidung über den Rekurs gegen den erstgerichtlichen Beschluss unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

 

Begründung:

[1] Die Betroffene ist Eigentümerin von Anteilen an einer Liegenschaft, mit denen Wohnungseigentum an einer Wohnung verbunden ist. Die für sie eingerichtete Erwachsenenvertretung erfasst auch die Verwaltung dieser Wohnung. Für die Liegenschaft besteht eine Gebäudeversicherung.

[2] Das Erstgericht „ersuchte“ den Versicherer mit „Beschluss“, die Versicherungspolizze „in der Weise zu sperren, dass bis auf Widerruf eine Vertragskündigung, Minderung der Versicherungssumme oder Auszahlung ohne gerichtliche Zustimmung nicht erfolgen könne“. Diesem „Ersuchen“ kam der Versicherer nach und übermittelte dem Erstgericht eine Bestätigung über die Sperre.

[3] Das Rekursgericht wies den dagegen von der Eigentümergemeinschaft erhobenen Rekurs zurück, weil der Beschluss des Erstgerichts nicht in deren rechtlich geschützten Interessen eingreife. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ es nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[4] Gegen die Zurückweisung des Rekurses richtet sich deraußerordentliche Revisionsrekurs der Eigentümergemeinschaft. Er ist entgegen dem Ausspruch des Rekursgerichts zulässig und auch berechtigt.

[5] 1. Das Verfahren über den Revisionsrekurs ist einseitig:

[6] Nach § 68 AußStrG ist die Einholung einer Revisionsrekursbeantwortung nur für Beschlüsse vorgesehen, mit denen „über die Sache“ oder über die Kosten entschieden wurde (RS0120860). Unter „Beschluss über die Sache“ wird jede Entscheidung über den Verfahrensgegenstand, sei diese meritorisch oder zurückweisend, verstanden (RS0120860 [T21, T23]). Eine solche Entscheidung liegt nicht vor, wenn das Rekursgericht den Rekurs mangels Beschwer zurückgewiesen hat (RS0120614 [T4]).

[7] 2. Der Beschluss des Rekursgerichts über die Zurückweisung des Rekurses mangels Beschwer ist nur unter den Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG anfechtbar (RS0120565 [T4]). Die Entscheidung muss daher von der Lösung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung abhängen. Eine solche zeigt die Eigentümergemeinschaft mit ihrem Vorbringen, dass sie als Versicherungsnehmerin Partei des Versicherungsvertrags sei, auf:

[8] 2.1. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist ein Eingriff in die geschützte Rechtssphäre (RS0006497; RS0006641). Für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels bedarf es der materiellen Beschwer, die nur dann vorliegt, wenn die rechtlich geschützten Interessen des Rechtsmittelwerbers durch die Entscheidung unmittelbar beeinträchtigt werden, also in seine Rechtssphäre nachteilig eingegriffen wird (RS0118925).

[9] 2.2. Der Oberste Gerichtshof hat in älteren Entscheidungen zu vergleichbaren Beschlüssen Stellung genommen (vgl 9 Ob 7/04a; 7 Ob 54/04y; 7 Ob 123/04w ua):

[10] Soweit derartige „Ersuchen“ überhaupt Anordnungen enthielten, könne die gewünschte „Sperre der Versicherungspolizze“ nur dahin verstanden werden, dass zuwiderlaufende Handlungen der Betroffenen ohne gerichtliche Zustimmung ohne Wirkung bleiben sollten. Ein Eingriff in die geschützte Rechtsspähre Dritter sei damit nicht verbunden.

[11] Diesen Entscheidungen lagen jeweils Rechtsmittel des Versicherers zugrunde; die insofern ausdrücklich gegenteilige Entscheidung zu 8 Ob 32/04w wurde mehrfach abgelehnt (7 Ob 266/04z; 7 Ob 268/04v).

[12] Zu 9 Ob 24/06d wurde bei einer mit der vorliegenden vergleichbaren Sachlage unter Hinweis auf diese Rechtsprechung auch die Beschwer der Eigentümergemeinschaft verneint. Eine eigenständige Begründung enthält dieser Beschluss nicht.

[13] 2.3. Diese Entscheidungen legten den gerichtlichen Anordnungen jeweils das Verständnis zugrunde, dass sie – wenn überhaupt – verbindliche Wirkung nur im Verhältnis zwischen dem Pflegebefohlenen und dem Versicherer entfalteten und daher nur so zu verstehen seien, dass zuwiderlaufende Handlungen der Pflegebefohlenen ohne Wirkung bleiben sollten. Dass in einem solchen Fall dem Versicherer als Vertragspartner des Pflegebefohlenen die Beschwer fehlt, mag zutreffen (vgl RS0123647 zur fehlenden Rechtsmittellegitimation des Vertragspartners im Verfahren über die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung eines Vertrags). Das kann aber aus den nachstehend genannten Gründen nicht auf den Fall übertragen werden, dass die Eigentümergemeinschaft als Partei des Versicherungsvertrags einschreitet und geltend macht, dass die Anordnung des Pflegschaftsgerichts in ihre Rechte aus diesem Vertrag eingreift.

[14] 3. Grundlage für die von der Eigentümergemeinschaft bekämpfte Anordnung ist § 133 AußStrG, der auch in Angelegenheiten des Erwachsenenschutzes anzuwenden ist.

[15] 3.1. Danach hat das Gericht, wenn ein Erwachsenenvertreter bestellt ist, die erforderlichen Maßnahmen zur Sicherung der Vermögenswerte des Pflegebefohlenen zu setzen und diesen bei der Verwaltung des Vermögens in geeigneter Form zu überwachen, die Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der von ihm vorgenommenen oder beabsichtigten Rechtshandlungen zu prüfen und ihm erforderlichenfalls bindende Weisungen zu erteilen (RS0126331). Verfügt der Betroffene über Vermögen, kann das Gericht auf dieser Grundlage Sicherungsmaßnahmen treffen, die auch in bestehende Verträge eingreifen können (6 Ob 14/04h). Solche Anordnungen sind dann, wie generell im Verfahren außer Streit ergangene Entscheidungen, der materiellen und formellen Rechtskraft fähig (RS0007171) und binden sowohl die Betroffenen als auch die Gerichte (vgl 5 Ob 164/13y).

[16] 3.2. Nach ihrem Wortlaut verfügt die erstgerichtliche Anordnung eine Sperre des Versicherungsscheins derart, dass weder eine Vertragskündigung, Minderung der Versicherungssumme oder Auszahlung ohne gerichtliche Zustimmung erfolgen kann, und verpflichtet den Versicherer zur Meldung von Prämienrückständen. Ist der Pflegebefohlene Alleineigentümer des versicherten Objekts und (daher) auch Versicherungsnehmer, betrifft eine solche Sicherungsmaßnahme ausschließlich seine Sphäre als Vertragspartner des Versicherers (so schon 6 Ob 14/04h). Anders verhält es sich aber dann, wenn – wie hier nach dem Vorbringen der Rechtsmittelwerberin – eine Gebäudeversicherung für eine im Mit- und Wohnungseigentum stehende Liegenschaft zu beurteilen ist.

[17] 3.3. Nach § 2 Abs 5 WEG bilden alle Wohnungseigentümer zur Verwaltung der Liegenschaft die Eigentümergemeinschaft. In Angelegenheiten der Verwaltung der Liegenschaft kann die Eigentümergemeinschaft Rechte erwerben und Verbindlichkeiten eingehen sowie klagen und geklagt werden. Ihre Rechtsfähigkeit (und damit ihre Parteifähigkeit) besteht – abgesehen von den Fällen des § 18 Abs 2 WEG – nur in Angelegenheiten der Verwaltung (RS0108020).

[18] 3.4. Durch Verwaltungshandlungen werden Geschäfte der Gemeinschaft besorgt. Der Abschluss von Versicherungsverträgen gehört zu den Angelegenheiten der ordentlichen Verwaltung (§ 28 Abs 1 Z 4 WEG). Die Eigentümergemeinschaft ist daher Versicherungsnehmerin, die einzelnen Wohnungseigentümer sind (Mit‑)Versicherte. Damit liegt eine Versicherung für fremde Rechnung vor (§ 74 Abs 1 VersVG; RS0017123 [T3]), bei der die materielle Berechtigung des Versicherten und die formelle Verfügungsberechtigung des Versicherungsnehmers auseinanderfallen (RS0080863). Der Versicherte kann ohne Zustimmung des Versicherungsnehmers über seine Rechte nur dann verfügen, wenn er im Besitz des Versicherungsscheins ist. Der Versicherte hat also grundsätzlich kein eigenes Klage- bzw Verfügungsrecht, aufgrund dessen er den Anspruch auf die Versicherungsleistung gegen den Versicherer ohne Zustimmung des Versicherungsnehmers durchsetzen kann (vgl RS0080792 [T3]). Insoweit handelt es sich beim Verhältnis des Versicherungsnehmers zum Versicherten um eine Art gesetzliches Treuhandverhältnis (RS0080862; RS0080792) bzw beim Versicherungsvertrag um einen unechten Vertrag zu Gunsten Dritter (RS0080792 [T9]).

[19] 3.5. Die Eigentümergemeinschaft als Versicherungsnehmerin ist damit die Vertragspartnerin des Versicherers. Ihr kommt das formelle Verfügungsrecht über die sachlich dem Versicherten zustehende Forderung zu (7 Ob 192/13f). Demgegenüber kanndie Betroffene als (mit‑)versicherte Wohnungseigentümerin bei einer Versicherung für fremde Rechnung im Sinn der §§ 74 ff VersVG grundsätzlich nicht über die Rechte aus dem Vertrag verfügen. Die auf den Versicherungsvertrag bezogenen Aufträge an den Versicherer greifen unmittelbar in Rechte der Eigentümergemeinschaft als Vertragspartner des Versicherers ein. Insbesondere verhinderten sie eine im Rahmen der ordentlichen Verwaltung auch ohne Zustimmung der Betroffenen möglicheÄnderung des Vertrags oder die mit einem Neuabschluss bei einem anderen Versicherer verbundene Kündigung dieses Vertrags. Eine Auslegung dahin, dass diese Wirkungen in Wahrheit nicht bestünden und der Versicherer letztlich nur über die bestehende Erwachsenenvertretung informiert würde, ist nachdem eindeutigen Wortlaut des Beschlusses nicht möglich.

[20] 3.6. Dieser (behauptete) Eingriff in die Rechte der Eigentümergemeinschaft begründetihre Beschwer und damit ihre Rekurslegitimation. Soweit der Entscheidung 9 Ob 24/06d eine gegenteilige Auffassung zugrunde liegt, kann sie nicht aufrecht erhalten werden.

[21] 4. Aus diesem Grund ist dem außerordentlichen Revisionsrekurs Folge zu geben. Da es dem Obersten Gerichtshof verwehrt ist, nach Aufhebung eines Zurückweisungsbeschlusses eine Sachentscheidung über den Rekurs gegen den erstgerichtlichen Beschluss zu fassen (RS0007037), ist dem Rekursgericht die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Eigentümergemeinschaft aufzutragen. Dieses wird über die Berechtigung der vom Erstgericht verfügten Anordnung inhaltlich abzusprechen haben.

[22] 5. Die diese Entscheidung tragenden Erwägungen können wie folgt zusammengefasst werden:

Die Behauptung, dass eine Anordnung des Pflegschaftsgerichts an einen Versicherer in die Rechte der Eigentümergemeinschaft als Versicherungsnehmerin eingreift, begründet die Rekurslegitimation der Eigentümergemeinschaft.

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