OGH 10ObS18/24f

OGH10ObS18/24f12.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Nowotny als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Werner Hallas und Mag. Elisabeth Schmied (beide aus dem Kreis der Arbeitgeber) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei W*, vertreten durch Rechtsanwälte Estermann & Partner OG in Mattighofen, gegen die beklagte Partei Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84–86, wegen Anfechtung eines Vergleichs und Erwerbsunfähigkeits-, in eventu Alterspension, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 29. Jänner 2024, GZ 11 Rs 3/24 a‑37, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:010OBS00018.24F.0312.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Mit gerichtlichem Vergleich vom 4. Jänner 2021 im Verfahren zu 14 Cgs 162/20k des Erstgerichts verpflichtete sich die beklagte Sozialversicherungsanstalt der Selbständigen, dem Kläger die Erwerbsunfähigkeitspension ab 1. Juli 2020 zu gewähren.

[2] Zu diesem Stichtag (1. Juli 2020) lagen 535 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit vor. Nach diesem Stichtag erwarb der Kläger weitere Beitragsmonate, sodass im April 2022 541 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit vorlagen.

[3] Bereits im Sommer 2020, also während des zum Thema Feststellung der Erwerbsunfähigkeitspension laufenden Gerichtsverfahrens, rief der Klagevertreter bei der Beklagten an; im damals mit deren Jurist geführten Telefonat wurde nanches zu verschiedenen Pensionsformen angesprochen. Wer damals was sagte oder allenfalls gar zusagte, steht nicht fest. Jedenfalls war dem Klagevertreter im zweiten Halbjahr 2020 dem Grunde nach bekannt, dass es in Österreich die Möglichkeit einer abschlagsfreien Pension vor Erreichen des 65. Lebensjahres dann gibt, wenn zumindest 540 Beitragsmonate vorliegen.

[4] Am 4. Jänner 2021 war dem Klagevertreter jedoch weder vor noch während der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung bekannt, dass der – in der Tagsatzung anwesende – Kläger mittlerweile exakt 540 Beitragsmonate aufwies. Weder der Kläger noch der Klagevertreter sprachen das Thema der nun vorliegenden 540 Beitragsmonate an. Dass am 4. Jänner 2021 im Zuge der Tagsatzung, die zum gerichtlichen Vergleichsabschluss führte, ein Mitarbeiter der Beklagten wusste, dass mittlerweile 540 Beitragsmonate vorlagen, steht nicht fest. Insbesondere steht nicht fest, dass der Beklagtenvertreter den Vergleich im Wissen oder gar in der Absicht unterfertigte, dass der Kläger die Möglichkeit der Abschlagsfreiheit gehabt hätte. Am 4. Jänner 2021 dachte weder der Klagevertreter noch der Beklagtenvertreter in der Tagsatzung an eine vorzeitige Alterspensionsmöglichkeit bei langer Versicherungsdauer.

[5] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 27. Juli 2022 sprach die Beklagte aufgrund des Antrags des Klägers vom 4. April 2022 aus, dass die Erwerbsunfähigkeitspension ab 1. Juli 2022 als Korridorpension gebühre und die Pension ab 1. Juli 2022 einschließlich Frühstarterbonus 2.814,70 EUR betrage. Aufgrund der erstmaligen Inanspruchnahme der Erwerbsunfähigkeitspension zum Erststichtag 1. Juli 2020 bleibe der Abschlag bestehen.

[6] Der Kläger begehrt (zuletzt) – soweit noch revisionsgegenständlich – die (erkennbar gemeint) Aufhebung des am 4. Jänner 2021 vor dem Erstgericht zu 14 Cgs 162/20k geschlossenen Vergleichs und die Zahlung einer abschlagsfreien vorzeitigen Erwerbsunfähigkeitspension in gesetzlicher Höhe ab 1. Februar 2021, in eventu einer abschlagsfreien vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer in gesetzlicher Höhe von zumindest 3.255,87 EUR.

[7] Die Vorinstanzen wiesen die Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht folgte der in der Berufung erhobenen Beweisrüge nicht. Aufgrund der getroffenen Festellungen spreche der Kläger im Rahmen der Rechtsrüge einen (gemeinsamen) Irrtum über die Vergleichsgrundlage (zu Recht) nicht an. Eine arglistige Irreführung im Sinn eines vorsätzlichen Verschweigens trotz Kenntnis sei aus den getroffenen Feststellungen nicht ableitbar. Eine Verletzung der Aufklärungspflicht liege nicht vor.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die dagegen erhobene außerordentliche Revision des Klägers ist mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.

[9] 1.1. Eine mangelhafte und unzureichende Beweiswürdigung kann im Revisionsverfahren nicht angefochten werden. Ob die auf die Beweisrüge bezügliche Begründung des Berufungsgerichts richtig oder fehlerhaft ist, fällt in den Bereich der irrevisiblen Beweiswürdigung (RS0043371 [T12]). Diese Rechtsmittelbeschränkung kann auch nicht dadurch umgangen werden, dass ein unerwünschtes Ergebnis der Behandlung der Beweisrüge als Mangel des Berufungsverfahrens releviert wird (RS0043371 [T28]). Nur wenn sich das Berufungsgericht mit der Beweisfrage überhaupt nicht befasst hat (RS0043371 [T2]) oder sich mit der Beweisrüge nur unvollständig und sich mit gewichtigen Argumenten gar nicht auseinandersetzte („floskelhafte Scheinbegründung“; RS0043371 [T32]), ist das Berufungsverfahren mangelhaft. Hat das Berufungsgericht über eine Beweisrüge nachvollziehbare Überlegungen angestellt und im Berufungsurteil festgehalten, ist die Entscheidung mängelfrei (RS0043150).

[10] 1.2. Das Berufungsgericht ging auf die in der Berufung enthaltene Beweisrüge konkret ein und setzte sich auch mit den Argumenten des Klägers im Einzelnen auseinander. Entgegen der Auffassung des Klägers handelt es sich dabei nicht um „inhaltsleere Floskeln“. Der Hinweis auf bestimmte, seiner Ansicht nach für die Richtigkeit seiner Behauptungen sprechenden Beweisergebnisse und der Umstand, dass das Berufungsgericht diesen nicht folgte, vermögen eine Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens nicht zu begründen.

[11] 2. Eine Aktenwidrigkeit liegt nur bei einem Widerspruch zwischen dem Inhalt eines bestimmten Aktenstücks einerseits und dessen Zugrundelegung und Wiedergabe durch das (Rechtsmittel-)Gericht andererseits vor (RS0043347; RS0007258). Der Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit kann dagegen nicht als Ersatz für eine im Verfahren dritter Instanz generell unzulässige Beweisrüge herangezogen werden (RS0117019). Letzteres versucht die außerordentliche Revision jedoch, wenn das Ergebnis der Behandlung der Beweisrüge durch das Berufungsgericht als nicht nachvollziehbar dargestellt wird. Inwiefern das Berufungsgericht den Inhalt eines bestimmten Aktenstücks unrichtig wiedergegeben hätte, lässt sich dem Rechtsmittel nicht konkret entnehmen.

[12] 3.1. Der Kläger stützte sich in der Berufung im Rahmen der Rechtsrüge lediglich darauf, dass die Beklagte – sollte sie nicht auch über den wahren Sachverhalt (dass bei Abschluss des Vergleichs ein Abschlag von der Pension besteht, der auch nach späterem Erreichen von 540 Beitragsmonaten bestehen bleibe) geirrt haben – ihn arglistig (über diesen Umstand) getäuscht habe.

[13] Ausführungen dazu, aus welchen Gründen nach Ansicht des Klägers ein gemeinsamer (Geschäfts-)Irrtum über die Vergleichsgrundlage, also über etwas, was die Parteien zur Zeit des Vergleichsabschlusses als feststehend, unzweifelhaft und unstreitig angenommen haben (RS0032529; RS0032543), anzunehmen gewesen wäre, enthielt die Berufung hingegen nicht, sodass die Beurteilung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden ist. Soweit der Kläger die außerordentliche Revision auf das Vorliegen eines gemeinsamen Irrtums stützt, kann die in der Berufung in diesem Punkt nicht erhobene Rechtsrüge im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden (RS0043573 [T29, T33]; RS0043480). Auf die diesbezüglichen Rechtsausführungen ist somit nicht einzugehen (RS0043480 [T9, T16]).

[14] 3.2. Mit der Behauptung der (vorsätzlichen) Verheimlichung von für den Kläger wesentlichen Umständen, über die die Beklagte den Kläger aufzuklären gehabt hätte, geht die außerordentliche Revision nicht vom festgestellten Sachverhalt aus, sodass sie schon deswegen keine Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO zur Darstellung bringt.

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