OGH 4Ob211/23t

OGH4Ob211/23t19.12.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Kodek als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher und MMag. Matzka sowie die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag.Waldstätten als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen V*, geboren * 2016, vertreten durch die Eltern *, diese vertreten durch die Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, wegen pflegschaftsgerichtlicher Genehmigung einer Klage, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 5. Oktober 2023, GZ 3 R 218/23s‑34, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0040OB00211.23T.1219.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Nach ständiger Rechtsprechung (RS0031108 [T12, T13, T15, T16]) sind nach § 1325 ABGB von einem Schädiger auch die Kosten der Vermehrung der Bedürfnisse aufgrund notwendiger Beiziehung einer Pflegeperson zu ersetzen. Wenn ein Dritter aufgrund familienrechtlicher Verpflichtungen Leistungen an oder für den Geschädigten erbringt, um dessen vermehrte Bedürfnisse zu befriedigen, geschieht dies nach ständiger Rechtsprechung (vgl RS0022789) nicht zu dem Zweck, den Schädiger zu entlasten. In einem solchen Fall ist der Schaden nicht objektiv-abstrakt zu berechnen, sondern der tatsächliche Pflegebedarf konkret zu ermitteln und sodann der objektive Wert der von dritter Seite erbrachten Sach- oder Arbeitsleistung der Vergütung zugrunde zu legen.

[2] Es ist daher festzustellen, welche Kosten die Befriedigung dieser Bedürfnisse durch professionelle Kräfte erforderte. Zu den Zeiten tatsächlicher Pflegeleistungen kommt noch jene Zeit, die die Person, die den Verletzten pflegt, sonst außer Haus als Freizeit verbringen würde und auf die sie nunmehr verzichtet. Die Zeit, die die Pflegeperson jedenfalls beim Verletzten anwesend wäre (insbesondere während der Nacht und der Hausarbeit) ist hingegen nicht zu berücksichtigen, weil sie keinen konkreten Schaden bewirkt (RS0022789 [T3, T5, T6]). Fiktiv ist nicht der Schaden, sondern lediglich die Berechnungsmethode, weil bei einer derartigen Berechnung Leistungen durch professionelle Kräfte zugrunde gelegt werden, die in dieser Form nicht erbracht werden. Auch wenn als Kläger die die Pflege tatsächlich ausübenden Eltern auftreten, umfasst der Ersatzanspruch die Bruttolohnkosten, weil es auf den objektiven Wert der Pflegeleistung ankommt, den der Schädiger zu ersetzen hat (5 Ob 241/21h mwN; RS0030213 [T10]; RS0031691 [T2, T6]).

[3] 2.1. Wird die Genehmigung der beabsichtigten Klagsführung eines Minderjährigen begehrt, hat das Pflegschaftsgericht eingehend zu prüfen, ob diese im wohlverstandenen Interesse des Kindes liegt oder daraus mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Vermögensnachteil droht, etwa durch Belastung mit Prozesskosten (RS0048156; vgl RS0048176). Bei der Frage, wann die Erhebung einer Klage zu genehmigen oder die Genehmigung zu versagen ist, ist eine grobe Vorprüfung der Erfolgsaussichten anzustellen (vgl RS0048142). Dabei ist nicht unter Vorwegnahme des Zivilprozesses zu untersuchen, ob der Anspruch besteht, sondern vielmehr – untermöglichst vollständiger Erhebung der Tatsachengrundlagen und deren Beweisbarkeit sowie umfassender rechtlicher Beurteilung des Sachverhalts (RS0108029 [T3]), jedoch ohne abschließende Beurteilung der Tat- und der Rechtsfrage (RS0048156 [T8]; RS0108029 [T9]) – unter Einbeziehung aller Eventualitäten (lediglich) das Prozessrisiko abzuwägen (RS0108029). Es ist zu prüfen, ob die konkret zu beurteilende Klage mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein wird (RS0048142; RS0108029 [T3, T13]). Maßgebend ist, ob in vergleichbaren Fällen ein verantwortungsbewusster gesetzlicher Vertreter den Klageweg beschreiten würde (RS0108029), was jedenfalls dann nicht anzunehmen ist, wenn die Erfolgsaussichten gering sind und deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit ein erheblicher Vermögensnachteil des Betroffenen durch die Belastung mit Prozesskosten droht (2 Ob 120/17m mwN).

[4] 2.2. Vertretungshandlungen oder Einwilligungen des gesetzlichen Vertreters dürfen in der vorgelegten Form nur genehmigt, nicht aber abgeändert werden (RS0048113); eine (bloß) teilweise Genehmigung der Klagsführung ist nicht möglich (RS0048113 [T4]).

[5] 2.3.  Ob eine Prozessführung im Interesse des Pflegebefohlenen liegt, ist eine Ermessensentscheidung des Pflegschaftsgerichts (RS0048207 [T1]), die sich am konkreten Einzelfall zu orientieren hat (vgl RS0048142 [insb T4]). Die Frage der Genehmigungsfähigkeit einer Klage ist demnach – als eine von den spezifischen Umständen des Einzelfalls abhängige Ermessensentscheidung – grundsätzlich nicht revisibel (vgl 7 Ob 246/09s; 6 Ob 83/15x). Eine erhebliche Rechtsfrage läge nur dann vor, wenn dem Rekursgericht eine Fehlbeurteilung unterlaufen wäre, die aus Gründen der Rechtssicherheit korrigiert werden müsste (vgl RS0044088).

[6] 3.1. Den Antrag des schwerst geschädigt zur Welt gekommenen Minderjährigen, eine neuerliche – dritte – Klage gegen eine Spitalsbetreibergesellschaft wegen ärztlicher Schlechtbehandlung im Zuge der Geburt auf Zahlung von weiteren 725.343,19 EUR (davon Kosten von 343.918 EUR für Pflege, 230.295,72 EUR für Heilbehandlung und 128.875,57 EUR für Hausumbau) zu genehmigen, wiesen die Vorinstanzen übereinstimmend ab.

[7] 3.2. Dies wurde vom Rekursgericht zusammengefasst damit begründet, dass einerseits die Kostendeckung der Rechtsschutzversicherung angesichts der Ausschöpfung der Deckungssumme wegen der bereits anhängigen Klagen des Minderjährigen, aber auch der von den Eltern selbst angestrengten Klagen auf „Trauerschmerzengeld“, entgegen den Behauptungen der Vertreter des Minderjährigen fraglich sei. Andererseits seien die Stundensätze von für die konkreten Bedürfnisse des Minderjährigen notwendigen professionellen Pflegehilfen, die nach der Rechtsprechung (auch nach § 273 ZPO) ausgemessen und regelmäßig zugesprochen würden, mit nicht mehr als 20 EUR deutlich niedriger als der vom Minderjährigen beanspruchte Satz von 47 EUR. Insgesamt ergebe sich ein beträchtliches Risiko einer kostenschädlichen Überklagung.

[8] 3.3. Diese Beurteilung hält sich im Rahmen der dargelegten Rechtsprechung und des den Gerichten im Einzelfall notwendigerweise zukommenden Entscheidungsspielraums.

[9] 4. Der Revisionsrekurs zeigt dagegen keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[10] 4.1. Insbesondere kann mit dem Beharren darauf, dass der angesprochene Pflegekosten-Stundensatz doch angemessen sei, die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht begründet werden. Dass der Pflegebedarf nach den oben dargelegten Leitlinien konkret zu ermitteln ist, haben die Vorinstanzen ebenso wenig in Zweifel gezogen wie dessen vom Minderjährigen ins Treffen geführte Ausmaß. Daraus folgt aber nicht, dass ein Pflegekostenstundensatz „konkret zu berechnen“ wäre. Warum die Bezugnahme auf Rechtsprechung unter Heranziehung auch des § 273 ZPO als angemessen erachtete, tatsächlich zugesprochene Sätze dem – so der Revisionsrekurs – „Grundgedanken des österreichischen Schadenersatzrechtes“ widersprechen sollte, ist nicht nachvollziehbar (vgl etwa RS0022789 [T14, T18]).

[11] 4.2. Auf die im Rechtsmittel angesprochene Frage der Zumutbarkeit der Einholung vorprozessualer privater ärztlicher Stellungnahmen bzw Gutachten im Rahmen der pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung kommt es nicht entscheidungsrelevant an (RS0088931 [T2, T4, T17]).

[12] 5. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Beschluss nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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