OGH 9ObA74/23g

OGH9ObA74/23g18.10.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Parteien 1. A*, und 2. P*, beide vertreten durch Hoffmann und Brandstätter Rechtsanwälte KG in Innsbruck, gegen die beklagten Parteien 1. K* GmbH, *, 2. Mag. H*, 3. H*, und 4. C*, alle vertreten durch Mag. Dominik Kellerer, Rechtsanwalt in Schwaz, wegen 317.123,35 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 10.000 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. Juli 2023, GZ 13 Ra 8/23h‑91, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:009OBA00074.23G.1018.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der beklagten Parteien wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Die behauptete Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde vom Senat geprüft; sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO). Richtig ist, dass eine Rechtsrüge nicht dem Gesetz gemäß ausgeführt ist, wenn nicht dargelegt wird, aus welchen Gründen – ausgehend vom festgestellten Sachverhalt – die rechtliche Beurteilung der Sache unrichtig erscheint (RS0043603). Dies ist nach der Rechtsprechung etwa dann der Fall, wenn sie sich darauf beschränkt, allgemein die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen rechtlichen Beurteilung zu behaupten, ohne dies zu konkretisieren (RS0043603 [T12]) oder wenn sie sich mit den in der Entscheidung angeführten Argumenten gar nicht auseinandersetzt (RS0043603 [T9]). Dies ist hier nicht der Fall. Geht die Rechtsrüge nur teilweise nicht von den Feststellungen des Erstgerichts aus, ist sie nur hinsichtlich dieser Punkte nicht gesetzmäßig ausgeführt. Wird sie jedoch – wie hier – zumindest hinsichtlich irgendeiner Rechtsfrage gesetzmäßig ausgeführt, dann ist die materiell‑rechtliche Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung nach allen Richtungen hin zu prüfen (RS0043352 [T18]).

[2] 2.1. Gemäß § 337 Abs 1 ASVG verjährt der Ersatzanspruch des Versicherungsträgers gemäß § 334 in drei Jahren nach der ersten rechtskräftigen Feststellung der Entschädigungspflicht. Maßgebend für den Beginn des Laufes der Verjährungsfrist ist in diesem Fall der Zeitpunkt in dem über die Feststellung der Leistung des Versicherungsträgers eine Entscheidung vorliegt, die keinem weiteren Rechtszug unterliegt (RS0085010). Die Verjährungsfrist läuft dabei jeweils ab Eintritt der Rechtskraft (Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 337 ASVG Rz 2).

[3] 2.2. Nach den Feststellungen anerkannte der erstklagende Sozialversicherungsträger den Unfall des Versicherten mit Bescheid vom 16. 2. 2016 als Arbeitsunfall. Wann dieser Bescheid der Witwe des Versicherten zugestellt wurde, steht nicht fest. Die Rechtsmittelfrist betrug vier Wochen. Der zweitklagende Versicherungsträger anerkannte den Witwenpensionsanspruch der Ehegattin des Versicherten mit Bescheid vom 9. 2. 2016 und die Waisenpensionsansprüche der Söhne des Versicherten mit Bescheiden vom 12. 2. 2016 und 23. 2. 2016. Wann diese Bescheide zugestellt wurden, steht ebenfalls nicht fest. Die Rechtsmittelfristen betrugen jeweils drei Monate. Zuvor hatte die Zweitklägerin der Witwe des Versicherten mit zwei Schreiben vom 27. 1. 2016 mitgeteilt, dass die Anträge auf Zuerkennung der Witwen‑ und Waisenpension noch nicht endgültig erledigt werden konnten, jedoch jeweils vorläufige Leistungen ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs gewährt würden.

[4] 2.3. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, die mit der am 13. 2. 2019 eingebrachten Klage geltend gemachten Ansprüche der Sozialversicherungsträger seien nicht verjährt, weil für den Beginn des Laufes der Verjährungsfrist nicht auf die den Bescheiderlassungen vorangehende Gewährung einer vorläufigen Witwen- und Waisenpension (Schreiben vom 27. 1. 2016) abzustellen sei, entspricht der klaren Gesetzeslage, sodass keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO vorliegt (vgl RS0042656). Die in der außerordentlichen Revision umfangreich aufgearbeitete und in der Literatur strittige Frage, wann die Verjährung zu laufen beginnt, wenn Leistungen eines Sozialversicherungsträgers nicht bescheidmäßig, sondern durch „schlichte“ Leistungsgewährung zuerkannt werden, ist hier nicht relevant, weil es im vorliegenden Fall gerade nicht bei der schlichten Leistungserbringung ohne Bescheiderlassung blieb (vgl § 367 Abs 1 iVm § 222 Abs 1 und 2 ASVG). Aus der Entscheidung 9 ObA 113/18k lässt sich nichts Gegenteiliges ableiten. Zur Beurteilung der Verjährungsfrage bedurfte es keiner weiteren Feststellungen.

[5] 3.1. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der Dienstgeber oder ein ihm gemäß § 333 Abs 4 Gleichgestellter den Trägern der Sozialversicherung alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat. Nach § 335 Abs 1 ASVG ist § 334 ASVG allerdings (ua) auch dann anzuwenden, wenn der Dienstgeber eine juristische Person ist und der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig durch ein „Mitglied des geschäftsführenden Organes der juristischen Person […] verursacht worden ist“.

[6] 3.2. In der Entscheidung 9 ObA 102/22y (ecolex 2023/147, 236 [Mazal]) hat der Oberste Gerichtshof dazu ausgeführt, dass für die Einhaltung von Arbeitnehmerschutzvorschriften primär der Arbeitgeber verantwortlich ist. Er ist grundsätzlich Adressat der Arbeitnehmerschutzvorschriften. Die öffentlich‑rechtlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften, die als öffentlich‑rechtliche Arbeitsrechtsnormen dem Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit im Zusammenhang mit der Erbringung der Arbeitsleistung dienen, und sich grundsätzlich an den Arbeitgeber richten, geben die Rahmenbedingungen und die Mindestanforderungen für die Schutzmaßnahmen vor. Jeder Arbeitsunfall, der sich im Betrieb des Arbeitgebers ereignet, und jede Verletzung von Arbeitnehmerschutzvorschriften sind, unfallversicherungsrechtlich betrachtet, im weitesten Sinn der Sphäre des Arbeitgebers zuzurechnen. Es liegt daher im Verantwortungsbereich des Arbeitgebers, seinen Betrieb so zu organisieren, dass es zu keinen Gefahren für die in die Betriebsorganisation des Arbeitgebers eingegliederten Arbeitnehmer kommt. Letztlich verfügt nämlich nur der Arbeitgeber über jene innerbetrieblichen Befugnisse, um die Maßnahmen, die aus der Sicht des Arbeitnehmerschutzes erforderlich sind, durch Anordnung umzusetzen (9 ObA 102/22y Rz 45). Dieser grundsätzlichen Verpflichtung des Arbeitgebers, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer im Betrieb zu sorgen, wird der Arbeitgeber aber nicht schon etwa durch das Zur-Verfügung-Stellen von entsprechenden Sicherheitsausrüstungen oder der bloßen Erteilung der notwendigen Anweisungen, sondern erst dann gerecht, wenn er (auch) ein wirksames innerbetriebliches Kontrollsystem – zur Überprüfung der Einhaltung der Arbeitnehmerschutzvorschriften – einrichtet und auch tatsächliche entsprechende Kontrollhandlungen folgen. Für ein wirksames Kontrollsystem reicht es etwa nicht, dass auf einzelnen Baustellen Bauleiter bzw Vorarbeiter und Poliere mit der Überwachung der Einhaltung an Ort und Stelle verantwortlich sind bzw vom verwaltungsstrafrechtlich Verantwortlichen mindestens wöchentliche Kontrollen durchgeführt werden. Auch die bloße Erteilung von Anordnungen (Weisungen) und Schulungen ist nicht ausreichend. Für die Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems ist es vielmehr erforderlich, dass der Arbeitgeber aufzeigt, welche Maßnahmen im Einzelnen der unmittelbar Übergeordnete im Rahmen des Kontrollsystems zu ergreifen hat, um durchzusetzen, dass jeder in dieses Kontrollsystem eingebundene Mitarbeiter die arbeitnehmerschutzrechtlichen Vorschriften auch tatsächlich befolgt. Der Arbeitgeber hat auch dafür Sorge zu tragen, dass der Anordnungsbefugte Maßnahmen vorsieht, um das Funktionieren des Kontrollsystems insgesamt zu gewährleisten, das heißt sicherzustellen, dass die auf der jeweils übergeordneten Ebene erteilten Anordnungen (Weisungen) zur Einhaltung arbeitnehmerschutzrechtlicher Vorschriften auch an die jeweils untergeordnete, zuletzt also an die unterste Hierarchie-Ebene gelangen und dort auch tatsächlich befolgt werden (9 ObA 102/22y Rz 47). An diesen Grundsätzen ist festzuhalten.

[7] 3.3. Grobe Fahrlässigkeit iSd § 334 Abs 1 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RS0052197; RS0026555). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RS0030622). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen (RS0085332; RS0031127 [T22]). Bei der Einschätzung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insbesondere auch auf die Gefährlichkeit der Situation an (RS0022698). Bei der Bestimmung des jeweils nach Auffassung des Verkehrs als erforderlich zu erachtenden Maßes der Sorgfalt ist also die konkrete Situation zu berücksichtigen, sodass erhöhte Gefahr auch erhöhte Aufmerksamkeit erfordert (RS0022698 [T1]). § 334 Abs 3 ASVG schließt nicht aus, dass bei der Beurteilung der Frage, ob der auf Ersatz in Anspruch Genommene grob fahrlässig gehandelt habe, das Verhalten des Versicherten mit berücksichtigt wird (RS0085538).

[8] 3.4. Ob jemand einen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085228 [T1]) und stellt – von Fällen einer vom Obersten Gerichtshof im Sinne der Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0085228 [T15]). Die angefochtene Entscheidung, die das Fehlverhalten der Beklagten als grob fahrlässig beurteilte, bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.

[9] 3.5. Das Berufungsgericht warf den Erst‑ bis Drittbeklagten vor, dass diese kein entsprechendes innerbetriebliches Kontrollsystem eingerichtet, sondern die bloße Unterweisung und Kontrolle der Tätigkeit des Versicherten vor Ort ausschließlich dem Viertbeklagten überlassen hätten. Der den Erst‑ und Drittbeklagten anzulastende gravierendste Verstoß gegen die Arbeitnehmerschutzvorschriften sei aber jener gewesen, dass generell nicht dafür Sorge getragen worden sei, dass die Anlage vor dem Beginn jeglicher Reinigungsarbeiten und insbesondere vor dem Betreten stromlos geschaltet werde. Entgegen dem expliziten Inhalt des dem Viertbeklagten erst kurz vor dem tödlichen Arbeitsunfall im Sommer vor dem Unfall von einer Sicherheitsfachkraft überlassenen Dauer-Freigabescheins sei der Viertbeklagte dennoch der Meinung gewesen, das gänzliche Stromlossetzen der Anlage durch Bedienung des Hauptschalters wäre nicht erforderlich. Im Rahmen der der Erst‑ bis Drittbeklagten obliegenden Organisations- und Kontrollpflichten wäre es vor allem an ihnen gelegen gewesen, die Umsetzung der empfohlenen und sowohl im Begehungsprotokoll als auch im Dauer-Freigabeschein aufscheinenden Maßnahmen in die Wege zu leiten und dies auch entsprechend zu kontrollieren. Richtig sei zwar, dass der Unfall durch ein eigenes sorgloses Verhalten des Versicherten mitverursacht worden sei, doch diene die Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems gerade auch dazu, eigenmächtigen Handlungen von Arbeitnehmern gegen Arbeitnehmerschutzvorschriften entgegenzuwirken. Das sorglose Verhalten des Versicherten vermöge aber die Versäumnisse der Beklagten nicht aufzuwiegen. Auch wenn der hier zu beurteilende Reinigungsvorgang nicht § 59 Abs 1 AAV zu unterstellen und daher die Zuziehung einer ständig anwesenden Aufsichtsperson nicht notwendig gewesen sei, ergebe sich aus dem Dauer-Freigabeschein, dass das „Befahren der angeführten Bauteile“ (hier Einstieg in den Betonmischtrog zur Reinigung) ausnahmslos nur nach Information des lokalen Werksverantwortlichen unter Einhaltung der dargestellten Auflagen gestattet sei. Dieses Vier‑Augen‑Prinzip zur Risikominimierung sei aber nicht eingehalten worden. Die Zuziehung einer zweiten Person vor dem Einstieg in den Mischtrog hätte hier konkret verhindern können, dass der Versicherte nicht nur weisungswidrig die Staubschutzklappen öffnet und sich dazwischen stellt, sondern in dieser gefahrenexponierten Position auch noch Schremmarbeiten durchführt, ohne dass die Anlage gänzlich stromlos geschaltet sei. Der Viertbeklagte – als Aufseher im Betrieb – habe insbesondere deshalb grob fahrlässig gehandelt, weil er in mehrfacher Weise nicht nur die gesetzlichen Vorgaben zur Sicherung der Anlage im Fall deren Betretens im Zuge des Reinigungsvorgangs (§§ 59 Abs 1 AAV, 17 AM-VO) ignoriert und die Einhaltung jeglicher Sicherungsmaßnahmen allein dem Versicherten überlassen, sondern auch die Vorgaben im Dauer-Freigabeschein – allen voran die entscheidende des Stromabschaltens – ignoriert habe.

[10] 3.6. Diese – ausführlich begründete – Beurteilung des Berufungsgerichts ist jedenfalls vertretbar. Der Frage, ob die besonderen Umstände des Einzelfalls auch eine andere Entscheidung als jene des Berufungsgerichts gerechtfertigt hätten, kommt keine zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zu (RS0042405 [T6]). Die Beklagten vermögen in ihrer außerordentlichen Revision keine auffallende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts zur Darstellung zu bringen, die vom Obersten Gerichtshof im Sinne der Rechtssicherheit wahrgenommen werden müsste. Das festgestellte Verschulden des Versicherten am Zustandekommen des Arbeitsunfalls hat das Berufungsgericht den Beklagten ohnehin nicht zugerechnet, sondern bei Beurteilung deren Fehlverhaltens mitberücksichtigt. Die behaupteten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor.

[11] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.

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