OGH 7Ob77/23h

OGH7Ob77/23h28.6.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Minderjährigen J* D*, geboren am * 2013, *, vertreten durch die Mutter M* D*, sowie den Verein ifsBewohnervertretung Institut für Soziale Dienste, 6850 Dornbirn, Poststraße 2/4 (Bewohnervertreterin: Mag. R* A*), dieser vertreten durch Dr. Katharina Beeckmann, Rechtsanwältin in Salzburg, Einrichtungsleiterin: B* T*, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 21. März 2023, GZ 2 R 68/23z‑12, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00077.23H.0628.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Grundbuchsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Gegenstand des Revisionsrekursverfahrens ist ausschließlich die Auslegung des verfahrenseinleitenden Antrags und die Alterstypizität der von den Vorinstanzen grundsätzlich als Freiheitsbeschränkungen qualifizierten Maßnahmen.

Rechtliche Beurteilung

[2] 1.1 Auch im Verfahren nach dem HeimAufG muss der Antrag ausreichend bestimmt sein. Er muss zwar kein bestimmtes Begehren enthalten, jedoch hinreichend deutlich erkennen lassen, welche Entscheidung der Antragsteller anstrebt und aus welchem Sachverhalt er dies ableitet (vgl 7 Ob 161/21h). Die vom Gericht zu prüfende Freiheitsbeschränkung muss in diesem Sinn beschrieben sein.

[3] 1.2 Bei der Auslegung von Prozesshandlungen sind objektive Maßstäbe anzulegen und nicht die Auslegungsregeln für Rechtsgeschäfte (§§ 914 ff ABGB) heranzuziehen; insbesondere ist nicht der Parteiwille zu erforschen (RS0097531; RS0017881). Maßgebend ist damit der objektive Erklärungswert des Antrags (vgl 5 Ob 185/09f). Entscheidend ist, wie die Erklärung unter Berücksichtigung der konkreten gesetzlichen Regelung des Prozessrechts und der dem Gericht und Gegner bekannten Prozess‑ und Aktenlage objektiv verstanden werden muss (RS0037416). Auch die Auslegung von außerstreitigen Anträgen ist einzelfallbezogen (RS0041192 [T2]; RS0042828 [T10] = RS0044273 [T52]; 5 Ob 108/09g), und bildet daher – von Fällen krasser Fehlbeurteilungen abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG.

[4] 1.3 Der Verein begehrte mit Antrag vom 16. 2. 2023 „die Prüfung der Zulässigkeit der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen: Festhalten ab 15. 12. 2022“. Abgesehen davon, dass die inhaltlichen Ausführungen des verfahrenseinleitenden Antrags an keiner Stelle ein „Hinaustragen des Minderjährigen“ erwähnen, zielen sie im Übrigen ausschließlich darauf ab, dass das Erstgericht erheben soll, „ob die getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig im Bezug zur Gefahr waren; zum Zeitpunkt der Vornahme der Freiheitsbeschränkung eine ernstliche und erhebliche Fremd‑/Selbstgefährdung vorlag; ob diese mögliche Gefährdung durch gelinderte Mittel begrenzt werden hätte können und ob die Maßnahmen unter Einhaltung fachgemäßer Standards und unter möglichster Schonung des Minderjährigen durchgeführt wurden“.

[5] 1.4 Wenn die Vorinstanzen vor diesem Hintergrund den Antrag nach seinem Wortlaut zwar als zeitlich offen formuliert ansahen, aufgrund der konkreten inhaltlichen Ausführungen aber davon ausgingen, dass sich der Prüfungsgegenstand nur auf – zwischen 12. 12. 2022 und 16. 2. 2023 – bereits stattgefundene Eingriffe des Festhaltens beziehen würden und daher insoweit auf eine nachträgliche Überprüfung gerichtet seien, ist dies jedenfalls vertretbar.

[6] 1.5 Anders als im vorliegenden Fall ging in der vom Verein herangezogenen Entscheidung 7 Ob 161/21h der Prüfungsgegenstand aus dem verfahrenseinleitenden Antrag auch durch Auslegung nicht hinreichend deutlich hervor.

[7] 2.1 Mit dem 2. ErwSchG wurde in § 3 Abs 1a HeimAufG normiert, das alterstypische Freiheitsbeschränkungen an Minderjährigen keine Freiheitsbeschränkungen im Sinn des HeimAufG sind. Für die Alterstypizität ist als Orientierungshilfe darauf abzustellen, ob ein psychisch gesundes Kind von sorgsamen, verständigen Eltern in derselben Situation denselben Freiheitsbeschränkungen unterworfen würde. Falls ja, liegt tendenziell eine alterstypische Maßnahme vor (7 Ob 34/23k). Die Beurteilung der Alterstypizität einer Freiheitsbeschränkung hängt naturgemäß von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab, es ist nicht möglich dafür abstrakte Abgrenzungskriterien zu definieren.

[8] 2.2 Hier wurde der 9‑jährige Minderjährige in hocheskalierenden Situationen am 5. 12. 2022, 13. 1. 2023und 6. 2. 2023 (er wurde verbal ausfällig, stach einen Schulkollegen mit einer Gabel, schlug, biss und trat auf Schulkollegen und Betreuer ein) kurzfristig (für je zwei bis vier Minuten) an den Armen festgehalten. Nach den – auf dem Sachverständigengutachten aus dem Fachgebiet Forensik, Erwachsenen‑, Familien‑, Kinder‑ und Jugendpsychologie gründenden – Feststellungen stellt hier das Festhalten bei diesen Impulsdurchbrüchen – wie auch das Festhalten eines gesunden 9‑jährigen durch seine Eltern in einer vergleichbaren Situation – eine alterstypische Erziehungsmaßnahme dar. Dieses Festhalten in hocheskalierenden Situationen ist als notwendige Maßnahme zur Abwendung von Gefahr und Vermeidung schwerwiegender Konsequenzen für den Minderjährigen (aufgrund seines Verhaltens) sowie Gefährdung Dritter notwendig. Die Intervention durch ein Festhalten im Sinne des Deeskalationsprogramms ProDeMa wurde zur Beruhigung und zum Wohle des Minderjährigen sowie zur Abwehr „ernstlicher“ und „erheblicher“ Gefahr von gesundheitlichen Schäden Dritter durchgeführt und war in der Dauer von zwei bis vier Minuten im Verhältnis zur Abwendung der Gefährdung angemessen.

[9] 2.3 Bereits vor dem Hintergrund dieser – den Obersten Gerichtshof bindenden – Feststellungen ist die Ansicht der Vorinstanzen, das Vorgehen des Lehr‑ und Betreuungspersonals, den Minderjährigen in den hoch eskalierenden Situationen an den Händen festzuhalten, stelle eine alterstypische Freiheitsbeschränkung dar, nicht zu beanstanden. Gleiches gilt auch für die Beurteilung, dieses Festhalten sei als alterstypischer Zwang im Rahmen notwendiger Maßnahmen der Pflege und Erziehung zu sehen. Es kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass auch sorgsame, verständige Eltern – als Ausfluss einer konsequenten Haltung und Reaktion auf die Missachtung von Regeln – einen gesunden 9‑jährigen in vergleichbaren (hocheskalierenden) Situationen, in denen bloß verbale Ermahnungen nicht mehr ausreichen, zur Erreichung des Erziehungsziels, nämlich dem Aufzeigen des Unrechtsgehalts von Angriffen auf andere, an den Händen festhalten würden.

[10] 3. Dieser Beschluss bedarf keiner weiteren Begründung (§ 62 Abs 1 AußStrG).

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