OGH 7Ob34/23k

OGH7Ob34/23k24.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache der Bewohnerin L* P*, geboren * 2011, *, vertreten durch das Land Steiermark als Kinder‑ und Jugendhilfeträger (Bezirkshauptmannschaft Liezen, 8940 Liezen, Hauptplatz 12) und den Verein VertretungsNetz-Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 8010 Graz, Grazbachgasse 39 (Bewohnervertreterin Mag. C* L*), diese vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, EinrichtungsleiterV* B* und A* G* MSc, per Adresse *, vertreten durch die Müller und Schubert Rechtsanwälte OG in Salzburg, wegen nachträglicher Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung gemäß § 19a HeimAufG, über den Revisionsrekurs der Einrichtungsleiter gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Rekursgericht vom 28. November 2022, GZ 1 R 269/22v‑42, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Leibnitz vom 17. August 2022, GZ 22 Ha 1/21z‑35, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00034.23K.0524.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Die 11‑jährige Bewohnerin lebt seit Ende Mai 2019 in einer institutionalisierten Wohngemeinschaft für Kinder und Jugendliche. Die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung kommt dem Kinder‑ und Jugendhilfeträger zu.

[2] Die Bewohnerin erlitt eine komplexe traumatische Belastung in ihrer Ursprungsfamilie. Es kam zu Entwurzelung und Beziehungsabbrüchen durch mehrfache Wohnortwechsel, Misshandlung, Vernachlässigung, körperliche Gewalt und Missbrauch. Die Bewohnerin beobachtete darüber hinaus Gewalt an den Geschwistern. Die Schuld des Vaters wurde von der Mutter geleugnet, sodass es bei der Bewohnerin zu einem Leugnen der kindlichen Wahrnehmung kam. Jeder dieser Faktoren birgt das Potenzial einer Traumafolgestörung in sich. Aufgrund der Kumulation der Belastungen erlitt die Bewohnerin eine komplexe Traumafolgestörung.

[3] In der ersten Zeit nach dem Einzug in die Wohngemeinschaft bis Ende des Jahres 2020 kam es zu Aggressionsdurchbrüchen, meist ausgelöst durch interaktionelle Trigger, die zu Selbstverletzungen, Flashbacks und Intrusionen (aufdringliche, lästige Gedanken), aber auch zu einer hohen Ängstlichkeit führten. Aufgrund der komplexen Traumatisierung kam es weiters zu Entwicklungsdefiziten.

[4] Ende des Jahres 2020 zeigten sich bei ihr immer wieder Impulsdurchbrüche, Auto‑ und Fremdaggression und dissoziative Zustände. Aus fachlich-psychiatrischer Sicht leidet sie an einer Traumafolgestörung und war im Dezember 2020 ein Krankheitswert vorhanden. Sie litt an einer klinisch relevanten posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1).

[5] Am 29. Dezember 2020 kam es bei der Bewohnerin vermutlich aufgrund eines Konflikts mit einem Mitbewohner zu einem Impulsausbruch. Die Bewohnerin hatte eine Scherbe in der Hand und ließ sich von der Betreuerin verbal nicht beruhigen. Es bestand die Gefahr, dass sie sich selbst oder den Mitbewohner, den sie mit dem Umbringen bedrohte, verletze. Deshalberachtete eine Betreuerin die Trennung der Bewohnerin von der Gruppe durch kurzzeitiges Einschließen in deren Zimmer für erforderlich, um die Gefahr für die anderen Bewohner der Wohngemeinschaft abzuwenden. Allerdings wurde die Minderjährige, die die Scherbe bei sich hatte, gemeinsam mit einer anderen Bewohnerin in das Zimmer eingeschlossen und dabei nicht lückenlos beaufsichtigt. Nach kurzer Zeit wurde das Zimmer wieder aufgesperrt, weil sich die Bewohnerin in der Zwischenzeit beruhigt hatte.

[6] Durch das gemeinsame Einschließen der beiden Minderjährigen in einem Zimmer bestand die Gefahr, dass die Bewohnerin die andere Minderjährige verletzen wird. Die Dauer des Einschließens im Zimmer war angemessen, eine dauernde Aufsicht währenddessen wäre aber erforderlich gewesen.

[7] Der Verein beantragte die vorgenommene Freiheitsbeschränkung durch Versperren der Zimmertür am 29. Dezember 2020 nachträglich gemäß § 19a HeimAufG für unzulässig zu erklären. Er brachte – soweit für das Revisionsrekursverfahren relevant – vor, die Bewohnerin leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung und sei daher psychisch krank im Sinne des HeimAufG. Die von der Einrichtung veranlasste Maßnahme des „Hinderns am Verlassen des Zimmers mittels versperrter Zimmertür" sei unter § 3 Abs 1 HeimAufG zu subsumieren, weil der Bewohnerin dadurch ein Verlassen des Zimmers im zeitlichen Ausmaß von bis zu 15 Minuten unmöglich gemacht worden sei. Diese Maßnahme sei zur Gefahrenabwehr ungeeignet gewesen, weil man die fremdgefährdende Bewohnerin mit einer ihrer Mitbewohnerinnen ohne Aufsicht im selben Zimmer eingesperrt habe.

[8] Die Einrichtungsleiterbeantragten die Abweisung des Antrags und brachten – soweit für das Revisionsrekursverfahren relevant – vor, die bei der Bewohnerin bestehende posttraumatische Belastungsstörung weise nicht den Schweregrad einer psychischen Krankheit auf. Darüber hinaus sei die Bewohnerin lediglich wenige Minuten eingesperrt gewesen, sodass es sich um eine alterstypische pädagogische Freiheitsbeschränkung handle.

[9] Das Erstgericht erklärte die freiheitsbeschränkende Maßnahme nachträglich für unzulässig. Die Jugendwohngruppe, in der die Bewohnerin lebt, sei eine Einrichtung, in der zumindest drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden könnten. Die an der psychisch kranken Bewohnerin vorgenommene Freiheitsbeschränkung sei zwar zur Abwendung der bestandenen ernsten und erheblichen Gefahr für Leben und Gesundheit anderer Bewohner erfolgt. Allerdings sei sie zur Abwendung der Gefährdung nicht geeignet gewesen, weil es durch die fehlende Observanz zu einer Gefahrenerhöhung gekommen sei, zumal die Bewohnerindie Scherbe bei sich gehabt habe und mit einer weiteren Mitbewohnerin unbeobachtet im versperrten Zimmer verblieben sei.

[10] Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Einrichtungsleiterkeine Folge. Die Bewohnerin leide an einer neurologischen Störung mit Krankheitswert und sei daher psychisch krank im Sinn des HeimAufG. Entgegen der Ansicht der Rekurswerber stelle das Einsperren eines neunjährigen Mädchens in ein Zimmer auch keine alterstypische Freiheitsbeschränkung dar, die als Maßnahme im Rahmen der Pflege und Erziehung zu qualifizieren sei. Das Erstgericht habe auch zutreffend erkannt, dass zwar die Zulässigkeitsvoraussetzung der Selbst‑ oder Fremdgefährdung vorgelegen sei, aber dieEignung der Freiheitsbeschränkung zur Gefahrenabwehr nicht vorgelegen habe, weil es hier zu einer Gefahrenerhöhung durch das gemeinsame Einschließen der Bewohnerinnen ohne Aufsicht gekommen sei.

[11] Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht mit der Begründung zu, dass die Frage der Auslegung des Begriffs „psychisch krank" noch nicht Gegenstand höchstgerichtlicher Entscheidungen gewesen sei.

[12] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekursder Einrichtungsleiter mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[13] In der rechtzeitigen Revisionsrekursbeantwortung beantragt der Verein, dem Rechtsmittel der Einrichtungsleiter nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[14] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, er ist jedoch nicht berechtigt.

[15] 1. Dass es sich bei der Kinder‑ und Jugendwohngruppe, in der die Bewohnerin lebt, um eine Einrichtung handelt, in der wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können (gemäß § 2 Abs 1 HeimAufG), ist im Revisionsrekursverfahren nicht mehr strittig.

[16] 2.1. Nach § 3 Abs 1 HeimAufG liegt eine Freiheitsbeschränkung im Sinn dieses Bundesgesetzes vor, wenn eine Ortsveränderung einer betreuten oder gepflegten Person (Bewohner) gegen oder ohne ihren Willen mit physischen Zwangsmaßnahmen, insbesondere durch mechanische, elektronische oder medikamentöse Maßnahmen oder durch deren Anordnung unterbunden wird. Eine Beschränkung der körperlichen Bewegungsfreiheit liegt immer dann vor, wenn es einer Person unmöglich gemacht wird, ihren Aufenthalt nach ihrem freien Willen zu verändern (RS0075871 [T6, T19]). Dabei kommt es nur darauf an, ob der Bewohner nach den konkreten Verhältnissen den Bereich, in dem er sich aufhält, aufgrund seiner freien Entscheidung verlassen kann oder nicht (vgl RS0075871 [T7]).

[17] Da die Bewohnerin kurzzeitig in einem Zimmer eingesperrt wurde, liegt ohne Zweifel eine Freiheitsbeschränkung im Sinn von § 3 Abs 1 HeimAufG vor.

[18] 2.2. Mit dem 2. ErwSchG wurde in § 3 Abs 1a HeimAufG normiert, dass alterstypische Freiheitsbeschränkungen an Minderjährigen keine Freiheitsbeschränkungen im Sinn des HeimAufG sind. Für die Alterstypizität ist als Orientierungshilfe darauf abzustellen, ob ein psychisch gesundes Kind von sorgsamen, verständigen Eltern in derselben Situation derselben Freiheitsbeschränkung unterworfen werden würde. Falls ja, liegt tendenziell eine alterstypische Maßnahme vor. Dazu gehören etwa Gitterbetten bei Säuglingen, das Angurten eines Kleinkindes im Kinderwagen oder das Festhalten eines Kleinkindes zur Abwehr einer unmittelbar drohenden Gefahr (vgl Bürger/Herdega in GmundKomm2 § 3 HeimAufG Rz 7/1; ausf Dokalik/Mokrejs‑Weinhappel, Alterstypische Freiheitsbeschränkungen, iFamZ 2019, 105 [110 ff]).

[19] Entgegen der Ansicht der Einrichtungsleiter stellt das kurzzeitige Einsperren der damals neunjährigen Bewohnerin in ihrem Zimmer keine alterstypische Freiheitsbeschränkung dar, weil diese Maßnahme deutlich über eine bloße Erziehungsmaßnahme, wie etwa wenn ein Kind zum Hausaufgaben erledigen auf das Zimmer geschickt wird, hinausgeht (Bürger/Halmich, HeimAufG2 § 3 Rz 47; vgl auch Herdega/Bürger in Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht3 VII. HeimAufG Rz 64). Die Vorinstanzen haben die hier vorliegende Freiheitsbeschränkung an der Bewohnerin daher zu Recht auf ihre Zulässigkeit gemäß § 4 HeimAufG beurteilt.

[20] 3. Nach § 4 HeimAufG darf eine Freiheitsbeschränkung nur vorgenommen werden, wenn

1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet,

2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist sowie

3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs‑ oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann.

[21] 3.1. Materiell‑rechtliche Voraussetzung der Zulässigkeit einer Freiheitsbeschränkung ist zunächst das Vorliegen einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung (§ 4 Z 1 HeimAufG).

[22] 3.1.1. Für die Auslegung des unbestimmten Gesetzesbegriffs „psychisch krank“ sind in erster Linie die Regeln der medizinischen Wissenschaft und somit Erfahrungssätze maßgebend (Bürger/Herdega in GmundKomm2 § 4 HeimAufG Rz 2; vgl auch RS0075933 [T2]). Wesentlich ist das Vorliegen von Symptomen einer psychischen Erkrankung (7 Ob 11/15s mwN).

[23] 3.1.2. Ist es nicht eindeutig, dass die bei einem Bewohner festgestellten Verhaltensweisen auch Ausdruck einer psychischen Krankheit sind, dann sind – wie hier – nach Einholung eines für die Beantwortung dieser Frage berufenen Sachverständigen Feststellungen darüber zu treffen, nach welchen Kriterien in der medizinischen Wissenschaft das Vorliegen einer psychischen Krankheit beurteilt wird, wobei gegebenenfalls mehrere in ihrer Bedeutung nicht ganz zu vernachlässigende Richtungen darzustellen sind und zu klären ist, nach welcher dieser Richtungen die Verhaltensweisen, die beim Bewohner festgestellt wurden, die Annahme einer psychischen Krankheit rechtfertigen würden. Erst nach Vorliegen solcher Feststellungen kann das Gericht beurteilen, welche dieser Kriterien für die Annahme einer psychischen Krankheit im Sinn von § 4 Z 1 HeimAufG maßgebend sind und ob die betreffende Person daran leidet (Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II² § 4 HeimAufG Rz 8; vgl auch 3 Ob 552/92 = RS0075917 zu § 3 Z 1 UbG).

[24] 3.1.3. Nach den Feststellungen zeigten sich bei der Bewohnerin Ende des Jahres 2020 immer wieder Impulsdurchbrüche, Auto‑ und Fremdaggression und dissoziative Zustände. Aus fachlich‑psychiatrischer Sicht leidet sie an einer Traumafolgestörung, im Dezember 2020 war ein Krankheitswert vorhanden. Sie litt damals an einer klinisch relevanten posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1). Die Bewohnerin war daher im fraglichen Zeitraum psychisch krank im Sinn von § 4 Z 1 HeimAufG, weil ihre Störung krankheitswertig war und ihre Verhaltenssteuerung beeinträchtigte. Sekundäre Feststellungsmängel liegen in diesem Zusammenhang nicht vor.

[25] 3.1.4. Angesichts des Umstands, dass die Bewohnerin im Zuge eines Impulsdurchbruchs mit einer Scherbe in der Hand einen Mitbewohner mit dem Umbringen bedrohte, lag auch eine ernstliche (konkrete) und erhebliche Gefährdung von dessen Gesundheit vor (vgl RS0075921; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II² § 4 HeimAufG Rz 20 ff; Herdega/Bürger in Resch/Wallner, Handbuch3 VII. HeimAufG Rz 79 ff).

[26] Es besteht auch kein Zweifel, dass zwischen der psychischen Krankheit der Bewohnerin und ihrem fremdgefährdenden Verhalten ein Kausalzusammenhang besteht, war doch ein zum Krankheitsbild gehörender Impulsausbruch der Auslöser für die massive Bedrohung ihres Mitbewohners.

[27] 3.2. Dass die von der Einrichtung getroffene Maßnahme zur Gefahrenabwehr ungeeignet (§ 4 Z 2 HeimAufG) war, bestreiten die Revisionsrekurswerber zu Recht nicht mehr.

[28] 3.3. Die Vorinstanzen haben daher die an der Bewohnerin vorgenommene freiheitsbeschränkende Maßnahme zutreffend gemäß § 19a HeimAufG für nachträglich unzulässig erklärt.

[29] 4. Dem Revisionsrekurs ist somit keine Folge zu geben.

Stichworte