OGH 10Ob5/23t

OGH10Ob5/23t21.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Faber und die Hofräte Mag. Schober, Mag. Thunhart und Dr. Annerl als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Kinder 1. Ma*, geboren *2006, 2. Mi*, geboren *2006, 3. M*, geboren *2014, alle *, vertreten durch das Land Wien als Kinder- und Jugendhilfeträger (Magistrat der Stadt Wien – Amt für Jugend und Familie, Rechtsvertretung Bezirke 13, 14, 15, 1150 Wien, Gasgasse 8–10), wegen Unterhaltsvorschuss, über den Revisionsrekurs der Mi* gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 25. Oktober 2022, GZ 44 R 231/22d-208, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 10. Mai 2022, GZ 26 Pu 116/18x-184, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0100OB00005.23T.0221.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichts einschließlich seiner unangefochtenen in Rechtskraft erwachsenen Teile zu lauten hat:

„Die dem Kind Mi* mit Beschluss des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 19. Mai 2020, GZ 26 PU 116/18x-131, in Verbindung mit den Berichtigungsbeschlüssen vom 3. Juni 2020, GZ 26 PU 116/18x-140, und vom 4. Juni 2020, GZ 26 PU 116/18x-145, zuletzt für die Zeit vom 1. Dezem ber 2018 bis 30. Juni 2023 gewährten monatlichen Unterhaltsvorschüsse von 255 EUR werden

a) von 1. November 2021 bis 31. Dezember 2021 auf monatlich 168 EUR

b) von 1. Jänner 2022 bis 30. Juni 2023 auf monatlich 210 EUR herabgesetzt.

Höchstgrenze bleibt der Richtsatz für pensionsberechtigte Halbwaisen gemäß §§ 293 Abs 1 lit c sublit bb erster Fall, 108 f ASVG.“

Die Änderung der Auszahlungsanordnung und die Beschlussfassung über den Einbehalt der zu Unrecht ausgezahlten Vorschussbeträge bleiben dem Erstgericht vorbehalten.

 

Begründung:

[1] Der Vater wurde zuletzt aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 7. April 2020 gegenüber der mj Mi* (idF nur: „Kind“) ab 1. August 2018 bis auf weiteres zu monatlichen Unterhaltsleistungen von 255 EUR verpflichtet (ON 128).

[2] Daraufhin wurden die dem Kind gemäß §§ 34 Z 1 UVG gewährten Unterhaltsvorschüsse nach § 19 Abs 2 UVG mit (berichtigtem) Beschluss des Erstgerichts vom 19. Mai 2020 für den Zeitraum 1. August 2018 bis 31. Oktober 2018 und 1. Dezember 2018 bis 30. Juni 2023 auf die Titelhöhe von monatlich 255 EUR erhöht (ON 131, 140, 145).

[3] Das Kind verfügt seit 1. Oktober 2021 über ein anrechenbares Nettoeinkommen von monatlich 726 EUR (inklusive anteiliger Sonderzahlungen).

[4] Mit dem angefochtenen Beschluss setzte das Erstgericht die dem Kind gewährten Unterhaltsvorschüsse im Zeitraum von 1. November 2021 bis 31. Dezember 2021 auf monatlich 168 EUR (insofern rechtskräftig) und im Zeitraum von 1. Jänner 2022 bis 30. Juni 2023 auf monatlich 177 EUR herab. Das Kind verfüge über ein Eigeneinkommen, weswegen sich ein geringerer Unterhaltsanspruch gegenüber dem Vater ergebe, der sich nach der Richtwertformel (Differenz des Eigeneinkommens zum Ausgleichszulagenrichtsatz multipliziert mit dem Regelbedarf dividiert durch den Ausgleichszulagenrichtsatz) berechne und zu einer Herabsetzung des Unterhaltsvorschusses nach § 19 Abs 1 UVG führe. Die angenommenen Beträge entsprächen auch den Lebensverhältnissen des nicht betreuenden Elternteils.

[5] Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Kindes, der sich gegen die Herabsetzung der Unterhaltsvorschüsse im Zeitraum von 1. Jänner 2022 bis 30. Juni 2023 wendete, teilweise Folge und änderte den Beschluss des Erstgerichts dahin ab, dass es die im Zeitraum 1. Jänner 2022 bis 30. Juni 2023 gewährten Unterhaltsvorschüsse auf monatlich 185 EUR herabsetzte. Der vom Kind geforderten und auf den Ergebnissen einer Kinderkostenanalyse 2021 beruhenden Heranziehung des vom Senat 43 des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien empfohlenen Regelbedarfssatzes von 570 EUR monatlich sei zu erwidern, dass der Kinderkostenanalyse eine andere Fragestellung zugrunde liege und die nunmehr empfohlenen Regelbedarfssätze nicht nachvollziehbar gewichtet seien. Stattdessen seien die bisherigen Regelbedarfssätze anzusetzen, wobei eine seither eingetretene Teuerung durch Erhöhung von monatlich 8 EUR zu berücksichtigen sei.

[6] Den Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht nachträglich zu, weil zur Anwendung der vom Senat 43 des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien empfohlenen Regelbedarfssätze keine Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs vorliege.

[7] Dagegen richtet sich der Revisionsrekurs des Kindes mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Herabsetzung der Unterhaltsvorschüsse auf monatlich 210 EUR.

[8] Die anderen Parteien haben sich am Revisionsrekursverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig; er ist auch berechtigt.

[10] 1.1. Wird der Unterhaltsbeitrag herabgesetzt oder tritt ein Fall des § 7 Abs 1 UVG ein, ohne dass es zur gänzlichen Versagung der Vorschüsse käme, so hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Vorschüsse entsprechend herabzusetzen (§ 19 Abs 1 UVG). Nach § 7 Abs 1 Z 1 hat das Gericht die Vorschüsse ganz oder teilweise zu versagen, soweit sich in den Fällen der §§ 3 und 4 Z 1 aus der Aktenlage ergibt, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht nicht (mehr) besteht oder, der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht entsprechend, zu hoch festgesetzt ist.

[11] 1.2. Im vorliegenden Verfahren ist nicht strittig, dass die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht der gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht mehr entspricht und aufgrund des nunmehrigen Eigeneinkommens des Kindes zu hoch festgesetzt ist. Nach dem § 19 Abs 1 iVm § 7 Abs 1 Z 1 UVG sind daher auch die Vorschüsse entsprechend herabzusetzen. Insbesondere bei eigenen Einkünften des Unterhaltsberechtigten ist zu prüfen, in welcher Höhe die im Exekutionstitel festgesetzte Unterhaltspflicht herabzusetzen wäre (RS0076314). Dabei ist nach den Umständen des Einzelfalls vom materiellen Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Unterhaltspflichtigen auszugehen (RS0042675).

[12] 2.1. Der – vom Erstgericht nach der Prozentwertmethode berechnete – Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber dem Vater unter Außerachtlassung eines Eigeneinkommens ist der Höhe nach nicht strittig. Der Anspruch auf Unterhalt mindert sich insoweit, als das Kind eigene Einkünfte hat oder unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse selbsterhaltungsfähig ist (§ 231 Abs 3 ABGB). Eigeneinkommen vermindert den gesamten (in Geld und Betreuung im weitesten Sinn bestehenden) Unterhaltsanspruch (RS0047440), sodass dieses nicht bloß vom Geldunterhaltsanspruch abgezogen werden kann. Bei einfachen Lebensverhältnissen ist das Eigeneinkommen des Minderjährigen seit der Entscheidung eines verstärkten Senats zu 1 Ob 560/92 auf die Leistungen des geldunterhaltspflichtigen und des betreuenden Elternteils im Verhältnis zwischen dem Durchschnittsbedarf der Altersgruppe, der der Minderjährige angehört, und dessen Differenz zur Mindestpensionshöhe anzurechnen (RS0047565). Die verbleibende Unterhaltspflicht wird damit ausgehend von der Mindestpensionshöhe abzüglich Kindeseinkommen, multipliziert mit der Geldbedarfsquote (Regelbedarf dividiert durch Mindestpensionshöhe), berechnet („Richtwertformel“; RS0047565 [T7, T8]; RS0047440 [T14]). Diese Berechnungsmethode bildet freilich nur eine Orientierungshilfe, die nach den besonderen Umständen des Einzelfalls nach oben oder unten korrigiert werden kann (RS0047565 [T1]; vgl auch Stabentheiner/Reiter in Rummel/Lukas, ABGB4 § 231 [Stand 1. 7. 2015, rdb.at] Rz 46).

[13] 2.2. Auch die Berücksichtigung des Eigeneinkommens des Kindes und die Bemessung des Unterhaltsanspruchs nach diesen Grundsätzen sind im vorliegenden Fall nicht strittig. Der Revisionsrekurs zieht vielmehr ausschließlich die Höhe des vom Rekursgericht im Rahmen der Richtwertformel angenommenen Regelbedarfs (488 EUR) der Höhe nach in Zweifel.

[14] 3.1. In der Rechtsprechung wird der Regelbedarf als der neben der Betreuung durch den haushaltsführenden Elternteil bestehende Bedarf verstanden, den jedes Kind einer bestimmten Altersstufe in Österreich (an Nahrung, Kleidung, Wohnung und zur Bestreitung weiterer Bedürfnisse, wie etwa kulturelle und sportliche Betätigung, sonstige Freizeitgestaltung und Urlaub) ohne Rücksicht auf seine konkreten Lebensumstände zur Bestreitung eines dem Durchschnitt gleichaltriger Kinder entsprechenden Lebensaufwands hat (RS0047395 [T3]).

[15] 3.2. In der Praxis wurden dafür Regelbedarfssätze herangezogen, deren Grundlage die Kinderkostenanalyse des Statistischen Zentralamtes nach der Konsumerhebung 1964 war und die entsprechend dem Lebenshaltungskostenindex aufgewertet (4 Ob 333/97t; Kolmasch, Regelbedarfssätze, Lexis Briefings in lexis360.at [Stand Jänner 2023]; Limberg in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 § 231 [Stand 1. 8. 2022, rdb.at] Rz 6; vgl auch 6 Ob 154/99m) und jährlich vom Landesgericht für Zivilrechtssachen veröffentlicht (Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht10 [2022] 135; vgl Gitschthaler, Unterhaltsbemessung, EF-Z 2022/62, 143; Regelbedarfsssätze 2023, Zak 2023/7; zu den damaligen Beträgen s zB Barth, iFamZ 2021, 262 und Kolmasch, Tabelle: Regelbedarfssätze, Lexis Briefings in lexis360.at [Stand Jänner 2023]) werden. Auch der höchstgerichtlichen Rechtsprechung wurden die solcherart veröffentlichten Beträge zugrunde gelegt (vgl etwa 4 Ob 67/21p ErwGr 3.2.; 1 Ob 207/15w ErwGr 3.).

[16] 3.3. An ihrer Aussagekraft wurden in der Literatur zum Teil jedoch gravierende Zweifel geäußert (Kolmasch, Regelbedarfssätze, Lexis Briefings in lexis360.at [Stand Jänner 2023]; ders, Neues im Kindesunterhaltsrecht, Zak 2008/39 [26]; Pöhlmann, Mogelpackung Regelbedarf, ÖA 2007, 96; ders, Der Regelbedarf – eine [un-]brauchbare Mogelpackung, ÖA 2005, 223; Weitzenböck, Die Kinderkostenanalyse und ihre [möglichen] Auswirkungen auf die Unterhaltsjudikatur, ÖA 2004, 293), die (nicht nur, aber) auch darauf gründeten, dass die zugrunde liegende Datenlage für zu wenig aktuell gehalten wurde (Pöhlmann, ÖA 2007, 100 f; ders, ÖA 2005, 229 f; Weitzenböck, ÖA 2004, 295).

[17] 3.4. Ende 2021 veröffentlichte das Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz eine neue Kinderkostenanalyse, deren Grundlage Ergebnisse der Konsumerhebungen 2014/15 und 2019/20 waren. Dabei wurden die Kinderkosten über jenes Einkommen ermittelt, das zusätzlich erforderlich ist, um im Verhältnis zu einem kinderlosen Vergleichshaushalt auf dasselbe Wohlstandsniveau zu kommen (Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht10 [2022] 135 f). Da dies nicht mit der unterhaltsrechtlichen Realität übereinstimmt, weil (in aller Regel) das Familieneinkommen ab der Geburt eines Kindes nicht (um diesen Faktor) steigt, wurden die Durchschnittsbedarfssätze von einem Rechtsmittelsenat des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien nach Befassung und im Namen zahlreicher im Unterhaltsrecht tätigen Rechtsprechungsorgane ab 1. Jänner 2022 noch einmal überarbeitet und angepasst (s die Empfehlung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom März 2022 zu 43 Nc 5/22w; vgl auch Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht10 [2022] 135; Limberg in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 § 231 [Stand 1. 8. 2022, rdb.at] Rz 6). Die so ermittelten Werte werden – der bisherigen Übung entsprechend – jährlich vom Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien nach dem Verbraucherpreisindex valorisiert (zuletzt etwa in der Neuberechnung zum 1. Jänner 2023 vom Dezember 2022 zu 43 Nc 13/22x) und veröffentlicht (s zB Kolmasch, Tabelle: Regelbedarfssätze, Lexis Briefings in lexis360.at [Stand Jänner 2023]).

[18] 3.5. Da diese Werte auf der aktuell vorhandenen Datengrundlage beruhen, sind sie nach Ansicht des erkennenden Senats besser als die bisher herangezogenen Sätze geeignet, den Regelbedarf realistisch darzustellen. Die dagegen erhobene Kritik, der Kinderkostenanalyse 2021 läge eine andere Fragestellung zugrunde, übergeht, dass dies gleichermaßen auf die Kinderkostenanalyse 1964 zutrifft. Gerade zu diesem Zweck wurden die aus der Kinderkostenanalyse 2021 entnommenen Werte überarbeitet und entsprechend angepasst.

[19] 3.6. Soweit das Rekursgericht den neuen Sätzen entgegen hält, dass sie nicht linear mit zunehmendem Alter des Kindes stiegen, sondern „auffällige“ Sprünge aufwiesen, ist dies mit der geänderten Datenlage zu erklären. Ziel der neuen Sätze war es, die heutigen Verhältnisse bestmöglich abzubilden, und diese Verhältnisse haben sich nicht bloß darin verändert, dass der altersbedingte Bedarf völlig linear gestiegen ist. Dieser Umstand spricht daher ncht gegen die Heranziehung von auf aktuelleren Werten beruhenden Regelbedarfssätzen.

[20] 4.1. Ausgehend von den neuen Regelbedarfssätzen ergibt sich im vorliegenden Fall ein Regelbedarf von 570 EUR. Unter Zugrundelegung des konkreten Eigeneinkommens (726 EUR) legt die Richtwertformel hier als Richtschnur einen verbleibenden Unterhaltsanspruch von rund 210 EUR monatlich nahe.

[21] 4.2. Anhaltspunkte, die für eine Erhöhung oder Verminderung dieses Betrags sprechen, sind im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Geht man davon aus, dass ein monatlicher Bedarf in Höhe des Ausgleichszulagenrichtsatzes (ca 1.141 EUR) besteht, ergibt sich, dass der nach Abzug des Eigeneinkommens verbleibende (Rest-)Bedarf des Kindes in etwa gleichteilig durch den in Geld und durch den in Betreuung im weitesten Sinn bestehenden Unterhaltsanspruch gedeckt wird. Der Unterhaltspflichtige wird durch den zu leistenden Geldunterhalt auch (weiterhin) nicht über seine Leistungsfähigkeit hinaus belastet.

[22] 4.3. Der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen den Vater ist seit 1. Jänner 2022 daher – dem Rekurs des Kindes folgend – mit 210 EUR zu bemessen. Gemäß dem § 19 Abs 1 iVm § 7 Abs 1 Z 1 UVG sind ab diesem Zeitpunkt auch die Unterhaltsvorschüsse entsprechend auf diesen Betrag (und nicht einen niedrigeren) herabzusetzen. Die entsprechenden weiteren Anordnungen, auch in Ansehung eines Übergenusses, wird das Erstgericht zu treffen haben.

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