OGH 8Ob136/22s

OGH8Ob136/22s16.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Tarmann‑Prentner und Mag. Korn und die Hofräte Dr. Stefula und Dr. Thunhart in der Rechtssache der klagenden Partei S*, vertreten durch Dr. Kathrin Hainbuchner, Dr. Katja Kaiser und Dr. Markus Hainbuchner, Rechtsanwälte in Kirchberg in Tirol, gegen die beklagte Partei M* GmbH, *, vertreten durch die ScherbaumSeebacher Rechtsanwälte GmbH in Graz, und die Nebenintervenientin auf Seiten der beklagten Partei A* GmbH, *, vertreten durch Mag. Max Verdino, Mag. Gernot Funder und Mag. Eduard Sommeregger, Rechtsanwälte in St. Veit an der Glan, wegen 7.000 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz vom 24. August 2022, GZ 4 R 111/22h‑35, mit welchem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 5. April 2022, GZ 23 Cg 21/21a‑30, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0080OB00136.22S.1216.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

 

Begründung:

[1] Der Kläger und seine damalige Ehefrau beauftragten die Beklagte mit der Lieferung und Montage eines Fertighauses, das ihnen im Jahr 2017 übergeben wurde. Das von der Nebenintervenientin errichtete Steildach des Hauses hat eine Neigung von 38 Grad und verfügt über keine Sicherheitsausstattung für Dachwartungsarbeiten. Nach der ÖNorm B 3417 wäre ein solches Dach mit Anschlagpunkten auszustatten gewesen, um ein gesichertes Arbeiten auf der Dachfläche zu ermöglichen. Die Verwendung solcher Anschlagpunkte erfordert eine Schutzausrüstung, die aus einem Drei-Punkte-Sicherheitsgurt sowie einem Sicherheitsseil besteht, das fachgerecht gekürzt werden muss, um vor einem Absturz schützen zu können.

[2] Als der Kläger die Beklagte darüber informierte, dass mehrere Dachziegel gebrochen waren, erklärte die Nebenintervenientin, dass der Kläger ein ortsansässiges Unternehmen mit der späteren Reparatur beauftragen solle. Als der Kläger am 7. 9. 2018 die gebrochenen Dachziegel selbst austauschen wollte, bemerkte er, dass keine Möglichkeit besteht, eine Absturzsicherung anzubringen. Dennoch begab er sich über eine Leiter auf das Dach und begann dort ohne Absturzsicherung mit den Arbeiten. Aus ungeklärter Ursache stürzte der Kläger vom Dach und ist seither querschnittgelähmt.

[3] Der Kläger begehrt von der Beklagten unter Berücksichtigung eines gleichteiligen Mitverschuldens 7.000 EUR sA für die Anschaffung eines behindertengerechten Fahrzeugs. Hätte die Beklagte das Dach nach dem Stand der Technik mit Anschlagpunkten versehen, hätte sich der Kläger absichern und den Unfall vermeiden können.

[4] Die Beklagte und die Nebenintervenientin wendeten ein, dass der Kläger aufgrund der fehlenden Sicherungsmöglichkeit von selbständigen Reparaturarbeiten Abstand nehmen hätte müssen. Das Verhalten der Beklagten sei für den Unfall nicht kausal gewesen, weil der Kläger weder über die erforderliche Fachkunde noch über eine entsprechende Schutzausrüstung verfügt habe, sodass er vorhandene Anschlagpunkte nicht nützen hätte können.

[5] Das Erstgericht wies die Klage ab. Die Beklagte habe ihre vertragliche Verpflichtung nicht vollständig erfüllt, weil sie das Dach mit Anschlagpunkten ausstatten hätte müssen. Ein Schadenersatzanspruch scheitere aber am fehlenden Rechtswidrigkeitszusammenhang, weil die Verwendung solcher Anschlagpunkte Professionisten vorbehalten sei. Diese Anschlagpunkte hätten aber nicht den Zweck, jedermann auch ohne besonderes Fachwissen das gefahrlose Betreten des Daches zu ermöglichen. Im Übrigen habe der Kläger auf eigene Gefahr gehandelt, weil ihm beim Besteigen des Daches bewusst gewesen sei, dass keine Absturzsicherung vorhanden war.

[6] Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Auch das Berufungsgericht verneinte aus den bereits vom Erstgericht genannten Gründen einen Rechtswidrigkeitszusammenhang und führte ergänzend aus, dass auch die Kausalität völlig offen sei, weil der Kläger kein Vorbringen erstattet habe, welche Sicherheitsvorkehrungen er getroffen hätte, wenn Anschlagpunkte am Dach vorhanden gewesen wären, und das Erstgericht dazu keine Feststellungen getroffen habe. Die Revision sei zulässig, weil der Frage des Schutzzwecks von Sicherheitseinrichtungen für Dachwartungsarbeiten eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme.

[7] Dagegen richtet sich die von der Beklagten und der Nebenintervenientin beantwortete Revision des Klägers, mit der er eine Abänderung des Urteils dahin anstrebt, dass der Klage stattgegeben werde; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[8] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.

[9] 1. Das Wesen des Rechtswidrigkeitszusammenhangs liegt darin, dass aufgrund eines rechtswidrigen Verhaltens nur für jene verursachten Schäden zu haften ist, welche die übertretene Verhaltensnorm nach ihrem Schutzzweck gerade verhindern sollte (RIS‑Justiz RS0022933). Bei Vertragsverletzungen ergibt sich der Rechtswidrigkeitszusammenhang aus den Interessen, die der Vertrag schützen sollte (RS0023150). Welche das sind, ist im Wege der Vertragsauslegung zu ermitteln (RS0017850). Der eingetretene Schaden steht im Rechtswidrigkeitszusammenhang der verletzten Vertragspflicht, wenn diese Verpflichtung gerade auch einen Schaden, wie er eingetreten ist, verhindern sollte (RS0045850 [T4, T9]).

[10] 2. Unstrittig ist, dass die Beklagte ihre vertragliche Verpflichtung nicht vollständig erfüllt hat, weil sie das Steildach entgegen dem Stand der Technik und der ÖNorm B 3417 ohne Anschlagpunkte, welche die Verwendung einer Absturzsicherung ermöglicht hätten, übergeben hat. Die Verpflichtung zur Montage von Anschlagpunkten soll Unfälle verhindern, die dadurch entstehen, dass bei Arbeiten am Dach keine Absturzsicherung verwendet wird. Der Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass diese Anschlagpunkte nur dem Schutz von Professionisten dienen würden, kann nicht gefolgt werden, weil gerade bei Einfamilienhäusern geringfügige Reparaturarbeiten fallweise von den Eigentümern selbst ausgeführt werden und auch Privatpersonen sich die benötigte Sicherheitsausrüstung beschaffen können. Durch den Unfall des Klägers, der das Dach ungesichert betreten hat, ist deshalb gerade jener Schaden eingetreten, den die Verpflichtung zur Montage von Anschlagpunkten verhindern sollte, weshalb der Rechtswidrigkeitszusammenhang zu bejahen ist.

[11] 3. Ein Handeln auf eigene Gefahr liegt vor, wenn sich jemand einer ihm bekannten oder zumindest erkennbaren Gefahr aussetzt, die ein anderer geschaffen hat (RS0023006). Dabei ist zwischen echtem und unechtem Handeln auf eigene Gefahr zu unterscheiden. Ein echtes Handeln auf eigene Gefahr ist nur gegeben, wenn dem Gefährder keine Schutzpflichten gegenüber demjenigen obliegen, der sich in den Gefahrenbereich begeben hat, sodass mangels Rechtswidrigkeit kein Schadenersatzanspruch besteht (RS0023006; RS0023101). Unechtes Handeln auf eigene Gefahr liegt demgegenüber vor, wenn der Schädiger Schutzpflichten gegenüber der sich selbst gefährdenden Person hat, sodass die Selbstgefährdung dem Schadenersatzanspruch nicht entgegensteht, sondern nur ein Mitverschulden begründen kann (RS0023101). Da die Beklagte durch die fehlende Sicherheitsausstattung ihre vertragliche Verpflichtung verletzt hat, ist das Verhalten des Klägers, der trotz Fehlens einer Sicherungsmöglichkeit das Dach betreten hat, als unechtes Handeln auf eigene Gefahr zu qualifizieren, das ein Mitverschulden begründen, aber den Schadenersatzanspruch nicht ausschließen kann.

[12] 4. Den Geschädigten, der einen Schadenersatzanspruch geltend macht, trifft die Beweislast für die Kausalität des schädigenden Verhaltens (RS0022686). Eine Unterlassung ist für den Schaden kausal, wenn die Vornahme der gebotenen Handlung den Eintritt des Schadens verhindert hätte (RS0022913). Der Kläger hat dazu vorgebracht, dass er sich absichern und den Unfall vermeiden hätte können, wenn am Dach Anschlagpunkte vorhanden gewesen wären, weil er Kletterkenntnisse gehabt habe und ein Kletterseil, das er zur Absicherung verwenden hätte können, vorhanden gewesen sei. Das Erstgericht hat dazu keine Feststellungen getroffen, sodass die Berechtigung des geltend gemachten Schadenersatzanspruchs noch nicht beurteilt werden kann und eine Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen unumgänglich ist.

[13] 5. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht Feststellungen treffen müssen, wie sich der Kläger verhalten hätte, wenn am Dach Anschlagpunkte vorhanden gewesen wären, welche die Verwendung einer Absturzsicherung ermöglicht hätten, und ob der Unfall dadurch vermieden worden wäre.

[14] 6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

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