OGH 15Os63/22m

OGH15Os63/22m27.7.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. Juli 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Mag. Marko, BA, BA, als Schriftführerin im Verfahren zur Auslieferung des * K* zur Strafverfolgung an die Vereinigten Staaten, AZ 9 HR 149/21x des Landesgerichts Wels, über den Antrag des Betroffenen auf Erneuerung des Verfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0150OS00063.22M.0727.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

 

Gründe:

[1] Mit Note vom 30. Juli 2021 übermittelten die Vereinigten Staaten das Ersuchen um Auslieferung des türkischen Staatsangehörigen * K* zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen angeführten, dem Betroffenen in der am 28. April 2021 zur Zahl * beim Bundesbezirksgericht Utah erhobenen Anklageschrift zur Last gelegten Straftaten, die die US‑amerikanischen Strafverfolgungsbehörden als Verschwörung zur Begehung von Geldwäschereistraftaten („Conspiracy to commit money laundering offences“ nach Titel 18 United States Code § 1956 (a)(1)(B)(i), (a)(2)(B)(i) und (h); Anklagepunkt 1./), Betrug im elektronischen Datenverkehr („Wire fraud“ nach Titel 18 United States Code § 1343; Anklagepunkte 2./ bis 11./) und Vereitelung eines offiziellen Verfahrens („Obstruction of an official proceeding“ nach Titel 18 United States Code § 1512 (c)(2); Anklagepunkt 12./) subsumierten (ON 49). Mit Note vom 23. Dezember 2021 übermittelten die amerikanischen Behörden – über entsprechendes Ersuchen (ON 61a) – ergänzende Informationen (ON 71).

[2] Mit Beschluss vom 28. Februar 2022, GZ 9 HR 149/21x-76, erklärte die Einzelrichterin des Landesgerichts Wels die Auslieferung des * K* zur Strafverfolgung an die Vereinigten Staaten hinsichtlich der strafbaren Handlungen des Betrugs im elektronischen Datenverkehr (Anklagepunkte 2./ bis 11./) und der Vereitelung eines offiziellen Verfahrens im Umfang der Punkte 12./a./ und f./ für zulässig, hingegen in Ansehung der Verschwörung zur Begehung von Geldwäschereistraftaten (Anklagepunkt 1./) und der Vereitelung eines offiziellen Verfahrens im Umfang der Punkte 12./b./ bis e./ und g./ für nicht zulässig.

[3] Nach Bekanntgabe dieser Entscheidung an die amerikanischen Behörden (ON 77) übermittelten diese am 10. März 2022 weitere ergänzende Informationen (ON 78).

[4] Der gegen den erstinstanzlichen Beschluss gerichteten Beschwerde des Betroffenen (ON 80) gab das Oberlandesgericht Linz mit Beschluss vom 19. Mai 2022, AZ 7 Bs 52/22d, nicht Folge, während es der Beschwerde der Staatsanwaltschaft (ON 79) Berechtigung zuerkannte und den angefochtenen Beschluss dahin abänderte, dass es die Auslieferung des * K* auch hinsichtlich des Vorwurfs der Verschwörung zur Begehung von Geldwäschereistraftaten (Anklagepunkt 1./) sowie der Vereitelung eines offiziellen Verfahrens im Umfang der Punkte 12./b./ bis e./ und g./ für zulässig erklärte.

[5] Mit Note vom 14. Juni 2022 gab das Bundesministerium für Justiz bekannt, dass es die Auslieferung des * K* an die Vereinigten Staaten von Amerika unter dem Vorbehalt der Spezialität bewilligt hat (ON 96).

Rechtliche Beurteilung

[6] Gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts Linz richtet sich der Antrag des * K* auf Erneuerung des Verfahrens gemäß § 363a StPO (per analogiam; RIS‑Justiz RS0122228).

[7] Dem Antrag kommt keine Berechtigung zu.

[8] 1./ Ein Antrag auf Erneuerung des Verfahrens kann auch im erweiterten Anwendungsbereich des § 363a StPO – dessen Wortlaut folgend – nur wegen einer Verletzung der MRK oder eines ihrer Zusatzprotokolle gestellt werden (RIS‑Justiz RS0132365; vgl Rebisant, WK-StPO §§ 363a–363c Rz 42). Demnach hat das Antragsvorbringen, soweit es sich auf nationale Grundrechte (Art 2 StGG, Art 7 B‑VG) und darüber hinaus auf Garantien der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (insbesondere dessen Art 49 Abs 3) bezieht, auf sich zu beruhen (RIS‑Justiz RS0132365 [T2]).

[9] 2./ Verfahren über die Auslieferung fallen als solche grundsätzlich nicht in den Schutzbereich des Art 6 MRK, weil in ihnen nicht über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage iSd Konvention entschieden wird (RIS‑Justiz RS0132638, RS0123200; Göth‑Flemmich/Riffel in WK² ARHG § 19 Rz 14, § 33 Rz 11). Gegenteiliges ist auch den vom Erneuerungswerber (isoliert) zitierten Aussagen des EGMR (9. 4. 2015, 30460/13, A.T. gegen Luxemburg) und des Verfassungsgerichtshofs (2. 7. 2016, SV 3/2015) nicht zu entnehmen (vgl bereits 14 Os 142/18s, 33/19p).

[10] Auf die unter dem Aspekt des Art 6 Abs 1 MRK behaupteten Begründungsdefizite (siehe dazu RIS‑Justiz RS0129981) und Rechtsfehler (vgl jedoch RIS‑Justiz RS0129606) des bekämpften Beschlusses ist daher nicht einzugehen.

[11] In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass das Oberlandesgericht Linz – in Entsprechung von Art 10 Abs 3 des Auslieferungsvertrags zwischen der Regierung der Republik Österreich und der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika (BGBl III 1999/216) – sehr wohl den Anscheinsbeweis für den Tatverdacht überprüft hat, nämlich ob sich aus den dem Auslieferungsersuchen angeschlossenen bzw ergänzend vorgelegten Unterlagen (ON 49, ON 71, ON 78) die begründete Annahme im Sinne einer einfachen Wahrscheinlichkeit („reasonable basis to believe“) ableiten lasse, der Betroffene habe die in Rede stehende Straftaten begangen (vgl BS 12 ff; BS 19 f; BS 20 f); dass es sich bei den „Urkunden, die ausreichende Angaben enthalten“ („documents setting forth sufficent information“) im Sinn des Art 10 Abs 3 lit c des Auslieferungsvertrags um jegliche schriftliche Unterlagen handeln kann, aus denen sich eine einfache Verdachtslage schlüssig ableiten lasse, und zwar ohne Beschränkung auf bestimmte Arten von Unterlagen (vgl im Übrigen zum Begriff des Beweismittels: Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 1.138 mwN), ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung und im Übrigen auch aus dem Sinn und Zweck der Regelung, nämlich gerade keine den Rechtsvorschriften des ersuchten Staates genügenden Schuldbeweise mehr zu verlangen (vgl EBRV 1083 BlgNR 20. GP  17, 21; vgl auch 14 Os 41/12d; 13 Os 89/15k; 14 Os 142/18s, 33/19p).

[12] 3./ Drohende fundamentale Verletzungen der Verfahrensgarantien des Art 6 MRK im ersuchenden Staat (im Sinn einer offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens; „flagrant denial of justice“) können allerdings ausnahmsweise auch im inländischen Auslieferungsverfahren releviert werden (RIS‑Justiz RS0123200; Göth‑Flemmich/Riffel in WK² ARHG § 19 Rz 14), soweit substantiierte Gründe, die eine drohende Verletzung von Art 6 MRK im ersuchenden Staat belegen, vorgebracht werden; der pauschale Einwand mangelnder Rechtsstaatlichkeit genügt nicht (RIS‑Justiz RS0123200 [T9]; Göth‑Flemmich/Riffel in WK² ARHG § 19 Rz 15).

[13] Indem der Erneuerungswerber die Erwägungen des Oberlandesgerichts Linz zur ausreichenden Möglichkeit der Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte im Hauptverfahren kritisiert (vgl BS 22 f), erneut behauptet, ihm seien „willkürlich Verfahrensrechte von der US‑Staatsanwaltschaft vorenthalten“ worden, insbesondere weil ihm ohne sachliche Rechtfertigung Akteneinsicht verweigert worden sei, und moniert, die ihm im amerikanischen Hauptverfahren zukommenden Rechte seien nicht ausreichend, bringt er keine substantiierten Gründe für die Annahme einer offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens in den Vereinigten Staaten vor. Gleiches giltfür den pauschalen Einwand, „dass US‑Staatsanwälte Angeklagten in erschreckend vielen Fällen entlastendes Beweismaterial vorenthalten“. Dass in den Vereinigten Staaten eine ausreichende Vorbereitung der Verteidigung für die Verhandlung mangels verfügbarer Dolmetscher und zufolge Fehlens entsprechender Möglichkeiten der Kontaktaufnahme mit den Verteidigern nicht möglich sei, wurde in der Beschwerde (ON 80) nicht vorgebracht (vgl aber RIS‑Justiz RS0122737 [T13]) und erschöpft sich zudem gleichfalls in einer bloßen Behauptung (vgl dazu im Übrigen ON 71 S 43).

[14] 4./ Unter dem Aspekt des Art 3 MRK kann eine Auslieferung für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn ein konkretes Risiko besteht, dass die betroffene Person im Empfangsstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt wird, welche die Schwelle zur unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung erreicht und daher mit Art 3 MRK unvereinbar ist (RIS Justiz RS0123229; Göth‑Flemmich/Riffel in WK² ARHG § 19 Rz 7 mwN). Die betroffene Person hat die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr einer Art 3 MRK nicht entsprechenden Behandlung schlüssig nachzuweisen, wobei der Nachweis hinreichend konkret sein muss. Dabei muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein reales, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko bestehen, die betreffende Person würde im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein (RIS‑Justiz RS0123229, RS0123201; Göth‑Flemmich/Riffel in WK² ARHG § 19 Rz 8 mwN).

[15] Der Nachweis konkreter Anhaltspunkte bzw stichhaltiger Gründe erscheint nur verzichtbar, wenn der ersuchende Staat eine ständige Praxis umfassender und systematischer Menschenrechtsverletzungen aufweist (RIS‑Justiz RS0123229 [T12]).

[16] Im ersuchenden Staat drohende Freiheitsstrafen können nur dann in ein Spannungsverhältnis zu Art 3 MRK treten, wenn sie in keiner Relation zur Schuld des Täters und zum Unrechtsgehalt der Tat stehen, wobei Fragen des geeigneten Strafmaßes grundsätzlich außerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention liegen und nach der Rechtsprechung des EGMR insoweit ein großer Beurteilungsspielraum der unterschiedlichen Strafrechtsordnungen in dieser kriminalpolitischen Frage akzeptiert wird (RIS‑Justiz RS0118079 [insb T4]).

[17] Das Oberlandesgericht Linz ging – aufgrund der Auslieferungsunterlagen und der ergänzenden Stellungnahme der amerikanischen Behörden – davon aus, dass die dem Betroffenen zur Last gelegten Taten jeweils mit Freiheitsstrafe bis zu 20 Jahren bedroht sind (BS 8 f), wobei er unter Berücksichtigung der „Federal Sentencing Guidelines“ eine tatsächlich zu verbüßende Strafe von 188 bis 235 Monaten („15 bis fast 20 Jahre“; BS 24) zu erwarten habe.

[18] Mit dem Vorbringen, angesichts des Kumulationsprinzips drohe mit Blick auf die 12 Anklagepunkte „eine theoretische Freiheitsstrafe von bis zu 240 Jahren“, dem Verweis auf die – vom Beschwerdegericht berücksichtigte (BS 24) – fehlende Verbindlichkeit der Strafbemessungsrichtlinien, dem Einwand, der Antragsteller wäre „dem Ermessen der US‑Behörden ausgeliefert“, und der Behauptung, „für Kapitalverbrechen“ werden „regelmäßig Freiheitsstrafen von mehr als 100 Jahren verhängt“, legt der Erneuerungswerber nicht fundiert dar, weshalb gerade in seinem Fall die Strafbemessungsrichtlinien nicht berücksichtigt werden sollten und ihn tatsächliche eine ernste Gefahr einer Verurteilung zu einer faktisch lebenslangen Freiheitsstrafe treffe. In dem vom Beschwerdegericht angenommenen Strafmaß kann – auch angesichts der hohen Schadenssummen – ein Grundrechtsverstoß nicht erblickt werden.

[19] Die Behauptung, die US‑Gerichte könnten den Grundsatz der Spezialität für den Betroffenen nachteilig auslegen, indem sie die bereits eingebrachte Anklage jederzeit durch die Einbeziehung weiterer inkriminierter Handlungen ergänzen und somit das Strafausmaß geradezu willkürlich erhöhen könnten, vermag – insbesondere mit Blick auf die im Auslieferungsvertrag normierten Verpflichtungen sowie die Stellungnahme der US‑amerikanischen Behörden (ON 71 S 40) – ein konkretes, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung nicht aufzuzeigen.

[20] Haftbedingungen verletzen Art 3 MRK, wenn sie erhebliches psychisches oder physisches Leid verursachen, die Menschenwürde beeinträchtigen oder Gefühle von Demütigung und Erniedrigung erwecken (vgl RIS‑Justiz RS0123229 [T4], RS0125074).

[21] Auch mit dem Vorbringen, das „US‑Strafvollzugssystem“ stelle „ein unmenschliches System“ dar, das „vom Gedanken der Vergeltung sowie der Profitmaximierung“ getragen werde, die Vereinigten Staaten weisen die höchste Inhaftierungsrate der Welt auf, das Strafjustizsystem leide an „systemischen Problemen“ und aufgrund der unmenschlichen Haftbedingungen seien psychische Erkrankungen von Häftlingen weit verbreitet, wird eine konkret den Antragsteller treffende ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ebensowenig dargetan wie eine in den USA herrschende Praxis ständiger Menschenrechtsverletzungen.

[22] Die den Betroffenen bei einer Inhaftierung in den Vereinigten Staaten treffenden, in der Beschwerdeentscheidung referierten Beschränkungen des Kontakts mit der Außenwelt und somit auch zu seiner Familie (BS 26 f) sind mit Art 3 EMRK nicht unvereinbar. Gleiches gilt für die behauptete drohende Isolierung in Haft (bloß) mangels Kenntnis der englischen Sprache.

[23] Stichhaltige, gegen die Annahmen des Beschwerdegerichts zu den Kontakt‑ und Unterstützungsmöglichkeiten in der Haft (BS 26 f) sowie zur Berücksichtigung religiöser Ernährungsweisen (BS 25) sprechende Gründe vermag der Erneuerungswerber nicht darzulegen.

[24] 5./ Der Schutz des Familienlebens im Sinn des Art 8 MRK kann unter bestimmten Umständen einer Auslieferung entgegenstehen, wenn die betroffene Person im Aufenthaltsstaat persönliche oder familiäre Bindungen hat, die ausreichend stark sind und durch die Auslieferung beeinträchtigt würden. Bei der zufolge Art 8 Abs 2 MRK erforderlichen Notwendigkeits‑ und Verhältnismäßigkeitsprüfung ist zu berücksichtigen, dass den Interessen der betroffenen Person das öffentliche Interesse des ersuchenden Staates an der Verfolgung bereits begangener Straftaten gegenübersteht, sodass eine Auslieferung nur unter außergewöhnlichen Umständen ungerechtfertigt oder unverhältnismäßig ist (RIS‑Justiz RS0123230; Göth‑Flemmich/Riffel in WK² ARHG § 22 Rz 6 mwN).

[25] Dass der Erneuerungswerber als türkischer Staatsangehöriger über entsprechende persönliche oder familiäre Bindungen in Österreich verfügt, wird mit dem Vorbringen, er habe seinen bisherigen Lebensmittelpunkt in (seinem Heimatland) der Türkei gehabt und auch seine Familie sei dort aufhältig, gerade nicht behauptet. Dass eine allfällige Überstellung zur Strafvollstreckung in die Türkei im Ermessen der amerikanischen Behörden liegt, stellt für sich keine Grundrechtsverletzung dar (vgl BS 27).

[26] Der Erneuerungsantrag war daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 363b Abs 2 Z 3 StPO).

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