European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0110OS00024.22X.0503.000
Spruch:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.
Der Berufung wird nicht Folge geben.
Dem Angeklagten fallen die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.
Gründe:
[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * S* mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (I), mehrerer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und eines solchen Verbrechens nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster und vierter Fall StGB (II) sowie der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (III) schuldig erkannt.
[2] Danach hat er zu nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten
I) von Anfang 2004 bis Mitte 2006 in S* in wiederholten Angriffen mit der * 1996 geborenen B*, sohin einer unmündigen Person, außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen vorgenommen und von ihr an sich vornehmen lassen, indem er ihre entblößte Vagina streichelte und stimulierte sowie sie veranlasste, mit ihrer Hand an seinem nackten Penis zu reiben;
II) von Mitte 2006 bis 18. Dezember 2010 in S* in wiederholten Angriffen mit der * 1996 geborenen B*, sohin einer unmündigen Person, dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlungen unternommen, indem er sie vaginal digital penetrierte und sie veranlasste, den Oralverkehr bis zum Samenerguss bei ihm durchzuführen sowie sein Ejakulat zu schlucken, wodurch B* in besonderer Weise erniedrigt wurde und eine Anorexia nervosa sowie eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) samt einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung mit wiederholt teils schwerer depressiver Symptomatik, sohin eine an sich schwere Körperverletzung verbunden mit einer länger als vierundzwanzig Tage dauernden Gesundheitsschädigung, erlitt;
III) von Anfang 2004 bis Ende 2011 in S* und in A* mit einer mit ihm in absteigender Linie verwandten minderjährigen Person, nämlich seiner leiblichen Tochter B*, geschlechtliche Handlungen vorgenommen und von ihr an sich vornehmen lassen (US 3 und 6), und zwar
‑ durch die zu I) und II) beschriebenen Tathandlungen,
‑ indem er sie in zwei oder drei Angriffen im Jahr 2011 vaginal digital penetrierte und sie veranlasste, den Oralverkehr bis zum Samenerguss bei ihm durchzuführen sowie sein Ejakulat zu schlucken sowie
‑ indem er sie in einem Angriff im Jahr 2011 veranlasste, mit ihrer entblößten Vagina auf seinem nackten erigierten Penis zu reiben.
[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 4, 5, „9 lit a, b und c“, 10 und 11 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten.
Rechtliche Beurteilung
[4] Der Verfahrensrüge (Z 4) zuwider wurden durch die Abweisung der in der Hauptverhandlung gestellten Beweisanträge Verteidigungsrechte nicht verletzt.
[5] Der Antrag auf „ergänzende kontradiktorische“ Vernehmung der Zeugin B* „auf die Art und Weise, dass man auf elektronischem Wege ihr Gesicht sehen kann, […] insbesondere durch Frage, wann die Tathandlungen geschehen sind, aufgrund der Auslandseinsätze bzw. Inlandseinsätze des Angeklagten, aufgrund der persönlichen Betreuung der Großmutter väterlicherseits und hinsichtlich der Frage, was die leibliche Mutter außerhalb der Saison gemacht hat, insbesondere auch hinsichtlich der Frage des Aufenthalts im umgebauten Büro des Großvaters väterlicherseits. Weiters hinsichtlich der Diskussionen in der Familie bezüglich des Gewichts, insbesondere wegen der Bypassoperation der Mutter sowie über den möglichen Drogenkonsum, dem vorliegenden Medikamentenmissbrauch, nach der Zeugin und der Verantwortung des Angeklagten und der Befunder des Landeskrankenhauses Klagenfurt sowie der Privatklinik Villach“ (ON 29 S 23), lässt nicht erkennen, inwiefern diese Umstände für die Schuldfrage oder die Subsumtionsfrage von Bedeutung sein sollten (RIS‑Justiz RS0118444; Ratz, WK-StPO § 281 Rz 327). Vor allem aber wurde nicht dargelegt, weshalb das Tatopfer – entgegen der in der kontradiktorischen Vernehmung abgegebenen Erklärung (ON 13 S 23) – auf die ihm gemäß § 156 Abs 1 Z 2 StPO zustehende Aussagebefreiung verzichten sollte (RIS-Justiz RS0111315 [T13], RS0117928). Ob diese Erklärung ausreichend und unbedenklich ist, entscheidet das erkennende Gericht (ON 29 S 24; erneut RIS‑Justiz RS0111315).
[6] Ebenso wenig war dem Antrag auf Vernehmung des Dr. * P* „zur Klärung der Fragen, wie die Aussagen der Zeugin B* gegen den Angeklagten entstanden sind, wie viele Gespräche es diesbezüglich gab und wie die Reaktion der Zeugin auf ihr Coming-out war und in welchem körperlichen und psychischen Zustand sie beim Coming-out war […]“ (ON 29 S 26), zu entnehmen, weshalb das Beweisthema geeignet sein sollte, die Lösung der Schuld- oder der Subsumtionsfrage zu beeinflussen. Das Beweisbegehren zielte vielmehr auf bloße Erkundungsbeweisführung ab (RIS-Justiz RS0118444 [T6]).
[7] Die in der Nichtigkeitsbeschwerde als Versuch einer Antragsfundierung nachgetragenen Ausführungen sind prozessual verspätet und damit unbeachtlich (RIS-Justiz RS0099117, RS0099618).
[8] Entgegen der Mängelrüge sind die Feststellungen zum Zeitpunkt der Taten, soweit sie zur Beurteilung der Verjährung, des Schutzalters des Opfers und des nach dem Günstigkeitsvergleich anzuwendenden materiellen Rechts erforderlich sind, somit im rechtlich relevanten Umfang, weder undeutlich (Z 5 erster Fall) noch widersprüchlich (Z 5 dritter Fall). Sie lassen vielmehr den Beginn als auch das Ende des deliktischen Verhaltens unzweifelhaft erkennen (US 5 f; vgl im Übrigen RIS-Justiz RS0098557).
[9] Soweit die Rüge nicht näher bezeichnete Feststellungen, „die eine Verurteilung nach sich ziehen“, als aktenwidrig und widersprüchlich „zu den Aussagen des Angeklagten“ kritisiert, wird ein Mangel im Sinne des § 281 Abs 1 Z 5 StPO nicht deutlich und bestimmt bezeichnet (§§ 285 Abs 1, 285a Z 2 StPO).
[10] Weshalb Feststellungen „zu Fragen betreffend die Bulimie und der Drogensucht“ sowie zu den Umständen, unter welchen die erste Aussage von B* zustande kam und zum Verhältnis zwischen Opfer und Angeklagtem, für die rechtsrichtige Subsumtion erforderlich gewesen wären, leitet die weitere Kritik (nominell Z 5, der Sache nach Z 9 lit a) nicht methodengerecht aus dem Gesetz ab (RIS-Justiz RS0116565).
[11] Die gegen die Annahme der Qualifikation nach § 206 Abs 3 erster Fall StGB gerichtete Behauptung der Subsumtionsrüge (Z 10), die vom Erstgericht konstatierte posttraumatische Belastungsstörung sei keine schwere Gesundheitsschädigung im Sinne des § 84 Abs 1 StGB, orientiert sich nicht an der Gesamtheit der (auch im Spruch unter Punkt II wiedergegebenen) Feststellungen zur schweren Körperverletzung mit einer länger als vierundzwanzig Tage dauernden Gesundheitsschädigung der B* (US 6 – RIS-Justiz RS0099810).
[12] Die bloß nominell angeführten Nichtigkeitsgründe der „Z 9 lit a, b und c“ wurden nicht deutlich und bestimmt bezeichnet (§§ 285 Abs 1, 285a StPO).
[13] Schließlich wendet die Rüge (Z 10, nominell Z 11) zum Schuldspruchpunkt II ein, dass die Delikts-qualifikation des § 206 Abs 3 vierter Fall StGB erst mit dem Sexualstrafrechtsänderungsgesetz 2013 (BGBl I 2013/116 mit 1. August 2013) eingeführt wurde, womit die Anwendung dieser Bestimmung „gegen §§ 1 und 61 StGB in eklatanter Weise“ verstoße.
[14] Der in § 61 zweiter Satz StGB angeordnete Günstigkeitsvergleich ist für jede Tat (im materiellen Sinn) gesondert vorzunehmen (RIS‑Justiz RS0089011). Das Ergebnis dieser Prüfung ist entweder, dass– streng fallbezogen in einer konkreten Gesamtschau der möglichen Unrechtsfolgen (RIS‑Justiz RS0119085 [insbesondere T1], RS0119545 [T1], RS0089014) – die Strafgesetze zur Tatzeit günstiger oder jene zum Urteilszeitpunkt zumindest gleich günstig für den Täter sind (vgl RIS‑Justiz RS0112939; zur Auslegung des Begriffs Strafgesetz in § 61 StGB: Ratz, WK‑StPO § 288 Rz 36).
[15] Da hier ein und dieselbe (von mehreren) Taten nach § 206 Abs 1 StGB – darüber hinaus – sowohl dem ersten als auch dem vierten Fall des § 206 Abs 3 StGB unterstellt wurde (vgl US 2: „die“ Verbrechen nach § 206 Abs 1 StGB und „das“ Verbrechen nach § 206 Abs 1 und Abs 3 erster und vierter Fall StGB), bewirken diese beiden (kumulativen) Qualifikationsnormen (= strafbaren Handlungen) gleich strenge Strafsätze (jeweils fünf bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe). Zur Tatzeit war diese (eine Tat) – obwohl das Tatzeitrecht die Qualifikation des Abs 3 vierter Fall (idgF) noch nicht kannte – ebenfalls bereits mit fünf bis fünfzehn Jahren Freiheitsstrafe bedroht, und zwar (nur, aber immerhin) nach Abs 3 erster Fall. Bei Gegenüberstellung von Tat- und Urteilsgesetzen – in vollem Umfang (RIS‑Justiz RS0091798: also auch unter Heranziehung solcher Kriterien, die dem Tatzeitrecht in dieser besonderen Form fremd waren) – zeigt sich somit (auch mit Blick auf ideal konkurrierend verwirklichte weitere, zu jeder Zeit mildere Strafsätze), dass die Subsumtion nach Urteilszeitrecht in ihrer fallkonkreten Gesamtauswirkung nicht ungünstiger ist als jene nach Tatzeitrecht (in ähnlichen Konstellationen jüngst 11 Os 81/21b, 11 Os 125/21y und 11 Os 143/21w in Fortschreibung von RIS‑Justiz RS0091798, RS0119085 [T4, T5] und RS0088953), womit der reklamierte Verstoß „gegen §§ 1 und 61 StGB“ nicht vorliegt.
[16] Soweit einzelne weitere der vom Schuldspruch II umfassten, gleichartigen Taten nach Urteilszeitrecht (ebenfalls) § 206 Abs 3 vierter Fall StGB erfüllen, nach Tatzeitrecht aber – mit Blick auf die (richtigerweise – RIS‑Justiz RS0120828) bloß einmalige Begründung der Erfolgsqualifikation des § 206 Abs 3 erster Fall StGB – keine in § 206 Abs 3 StGB normierte Qualifikation tragen, hat sie das Erstgericht übrigens zutreffend dem Tatzeitgesetz (in Gestalt des seither unverändert gebliebenen Grundtatbestands des § 206 Abs 1 StGB) unterstellt (der jeweils ideal konkurrierend begründete, ohnedies mildere Strafsatz des § 212 Abs 1 Z 1 StGB [Schuldspruch III] blieb ebenfalls zwischen Tat‑ und Urteilszeitpunkt unverändert.
[17] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher zu verwerfen (§ 288 Abs 1 StPO).
[18] Das Erstgericht verhängte über den Angeklagten eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Dabei wertete es als erschwerend das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen mit mehreren Vergehen und als mildernd den bisher ordentlichen Lebenswandel (§ 34 Abs 1 Z 2 StGB).
[19] Die Berufung des Angeklagten wendet zwar zutreffend ein, dass mildernd zudem zu berücksichtigen ist, dass die Taten schon vor längerer Zeit begangen wurden (§ 33 Abs 1 Z 18 StGB). Demgegenüber ist allerdings zusätzlich die Tatbegehung als Volljähriger und als Angehöriger (§ 33 Abs 2 Z 1 und 2 StGB) erschwerend. Zur vom Berufungswerber angesprochenen Gewichtung der Strafzumessungsgründe ist festzuhalten, dass dem Erschwerungsgrund des § 33 Abs 1 Z 1 StGB hier erhöhte Bedeutung zukommt, weil er einerseits in beiden Varianten verwirklicht wurde und andererseits der Deliktszeitraum von Anfang 2004 bis Ende 2011 außerordentlich lang ist (Ebner in WK2 StGB § 33 Rz 4).
[20] Davon ausgehend und zufolge des Vorliegens der in § 32 Abs 2, Abs 3 StGB genannten erschwerenden Momente entspricht eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren dem exorbitanten Unrechts‑ und Schuldgehalt der Taten sowie generalpräventiven Erfordernissen. Dass das Opfer zum Angeklagten (angeblich) „kein schlechtes Verhältnis“ hatte, war dem weiteren Vorbringen zuwider (im Rahmen allgemeiner Strafbemessungserwägung) nicht als mildernd heranzuziehen.
[21] Der Berufung gegen den Ausspruch über die Strafe war demnach nicht Folge zu geben.
[22] Das Schöffengericht sprach der Privatbeteiligten gemäß § 369 Abs 1 StPO 5.000 Euro zu (US 3). Dieser vom Erstgericht in freier Überzeugung (Spenling, WK‑StPO § 369 Rz 6 mwN) zuerkannte Betrag bedarf mit Blick auf die erfolglos bekämpften Feststellungen, wonach der Angeklagte B* durch strafbare Handlungen zu einer geschlechtlichen Handlung missbrauchte (vgl § 1328 StGB) und die daraus resultierenden Folgen keiner Änderung.
[23] Der bloß aus einer Bestreitung des Schuldvorwurfs bestehenden Berufung gegen des Ausspruchs über die privatrechtlichen Ansprüche war daher nicht Folge zu geben.
[24] Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.
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