European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00047.22A.0420.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der mangels Anfechtung bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile und der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen die mit 2.479,39 EUR (darin 286,23 EUR USt; 762 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] An einem Sonntagvormittag gegen 9:00 Uhr startete der Beklagte auf seiner Liegenschaft im Burgenland ein Fahrzeug der Marke Ferrari und ließ den Motor im Stand laufen. Nach etwa einer halben Stunde begab sich der auf der Nachbarliegenschaft wohnende Kläger zum Beklagten, um diesen auf den ihn störenden Lärm hinzuweisen. Er läutete heftig an der Hauseingangstür, wodurch die [erwachsene] Tochter des Beklagten wach wurde. Sie öffnete die Eingangstür einen Spalt, woraufhin der Kläger diese aufdrückte und zielstrebig zur Garage ging, in der sich der Beklagte mit einem Bekannten aufhielt, ohne dass die Tochter des Beklagten ihm zu verstehen gegeben hätte, dass er hereinkommen dürfe. In der Garage ging der Kläger sehr aufgebracht auf den Beklagten zu und fragte ihn, ob es denn notwendig sei, an einem Sonntagvormittag so lauten Lärm zu machen. Er meinte, dass er nicht schlafen könne und er die Polizei anrufen und ihn anzeigen würde, wenn das so weitergehe. Der Beklagte äußerte daraufhin nur „Was willst du, du Trottel, ich bring dich um!“. Danach versetzte er dem Kläger mit beiden Händen einen Stoß, durch den dieser zu Sturz kam. Dabei verletzte sich der Kläger an der linken Hand. Nachdem er aufgestanden war und im Begriff war hinauszugehen, kam der Beklagte neuerlich auf ihn zu und stieß ihn gegen eine Wand.
[2] Mit rechtskräftigem Endbeschluss des Bezirksgerichts Neusiedl am See wurde erkannt, dass der Kläger dadurch, dass er sich an diesem Sonntagvormittag Zutritt zur Liegenschaft des Beklagten verschaffte, den ruhigen Besitz des Beklagten an der Liegenschaft gestört hat.
[3] Ein gegen den Beklagten wegen dieses Vorfalls geführtes Strafverfahren wurde vom Strafgericht „nach Bezahlung eines Geldbetrages von 8.000 EUR zuzüglich 200 EUR Pauschalkosten an den Bund und Schadensgutmachung an [den Kläger] in der Höhe von 2.000 EUR sowie der Feststellung, ihm dem Grunde nach für künftige aus dem Vorfall resultierende Schäden zu haften“, gemäß §§ 199 iVm 200 und 209 StPO eingestellt.
[4] Der Kläger begehrte vom Beklagten zuletzt die Zahlung eines Schadenersatzbetrags von insgesamt 10.667,30 EUR sA, und zwar 9.000 EUR restliches Schmerzengeld, 1.267,30 EUR Pflege- und Haushaltskosten und 400 EUR Behandlungskosten, sowie die Feststellung der Haftung des Beklagten für sämtliche [zukünftigen] vorfallskausalen Schäden. Zwischen der Besitzstörungshandlung des Klägers und dem Mitverschuldenseinwand bestehe kein Rechtswidrigkeitszusammenhang.
[5] Der Beklagte bestritt und wandte insbesondere ein Mitverschulden des Klägers an den erlittenen Verletzungen wegen Provokation ein. Der Kläger haberechtswidrig sein Grundstück betreten und sei aggressiv auf ihn zugegangen, wodurch er sich bedroht gefühlt habe. Er habe versucht, ihn von sich fernzuhalten.
[6] Das Erstgerichtverpflichtete den Beklagten zur Zahlung von 9.372 EUR sA (8.000 EUR restliches Schmerzengeld, 1.072 EUR Pflege- und Haushaltskosten, 300 EUR Behandlungskosten). Mit dem in Rechtskraft erwachsenen Teil des Ersturteils wies es das Zahlungsmehrbegehren von 1.295,30 EUR sA (1.000 EUR Schmerzengeld, 195,30 EUR Pflege- und Haushaltskosten, 100 EUR Behandlungskosten) sowie das Feststellungsbegehren ab. Eine diversionelle Erledigung im Strafverfahren entfalte prozessual zwar keine Bindungswirkung für das Zivilverfahren. Die Erklärung, mit dem vom (Straf-)Gericht unterbreiteten Diversionsangebot unter den festgelegten Prämissen einverstanden zu sein, sei aber materiell‑rechtlich als konstitutives Anerkenntnis anzusehen. Ungeachtet dessen hafte der Beklagte dem Kläger aber sowieso dem Grunde nach zur Gänze für die Folgen des Vorfalls. Keinesfalls habe der [gemeint] Beklagte das Recht gehabt, sich gegen das besitzstörende Betreten seiner Liegenschaft mit einem tätlichen Angriff zur Wehr zu setzen, zumal kein Grund ersichtlich sei, warum behördliche Hilfe zu spät gekommen wäre. Im festgestellten Verhalten des Klägers könne im Übrigen keine derartige Provokation erblickt werden, die ein Mitverschulden begründen würde.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten gegen den klagestattgebenden Teil des Ersturteils teilweise Folge, hielt die Verpflichtung zur Zahlung von 5.581,33 EUR sA aufrecht und wies das darüber hinausgehende Zahlungsbegehren [ds 3.790,67 EUR] ab. Der Einstellungsbeschluss des Strafgerichts verweise nicht nur auf die Bereitschaft des Beklagten, dem Kläger Schadenersatz von 2.000 EUR zu leisten, sondern auch darauf, dass dieser die Haftung für künftige Schäden anerkannt habe. Inwieweit daraus ein konstitutives Anerkenntnis abzuleiten sei, könne aber dahingestellt bleiben, weil unabhängig davon aus dem Verhalten des Beklagten eine Haftung für die dem Kläger verursachten Schäden abzuleiten sei. Eine Notwehrsituation verneinte es, bejahte aber ein Mitverschulden des Klägers, weil dieser durch das Eindringen in das Haus des Beklagten und sein aufgebrachtes Verhalten die Abwehrhandlung des Beklagten veranlasst habe. Werde der Schädiger nämlich durch den Verletzten provoziert, sei ein Mitverschulden des Verletzten anzunehmen, dessen Ausmaß von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls abhänge. Stelle man die festgestellten Verhaltensweisen der Parteien gegenüber, so ergebe sich eine Verschuldensteilung von 1:2 zu Lasten des Beklagten.
[8] Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision nachträglich für zulässig, weil – soweit ersichtlich – eine einheitliche Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Qualität einer Provokation zur Begründung eines Mitverschuldens an der Verletzung nicht vorliege.
[9] Dagegen richtet sich die – vom Beklagten beantwortete – Revision des Klägers, die auf eine Wiederherstellung des Ersturteils abzielt.
Rechtliche Beurteilung
[10] Die Frage, ob den Geschädigten ein Mitverschulden an dem von ihm geltend gemachten Schaden trifft, erfüllt wegen ihrer Einzelfallbezogenheit zwar in der Regel nicht die Voraussetzungen des § 502 ZPO (RS0087606 [T11, T25]; RS0044088 [T30]). Im vorliegenden Fall ist dem Berufungsgericht jedoch – wie zu zeigen sein wird – eine im Interesse der Rechtssicherheit zu korrigierende Fehlbeurteilung unterlaufen. Die Revision ist daher zulässig und auch berechtigt.
[11] 1. Es liegt jedenfalls keine Nichtigkeit vor, wenn der Beklagte – wie hier – in der Berufung beantragt hat, das Ersturteil im Sinne der gänzlichen Abweisung der Klage abzuändern, und das Berufungsgericht der Berufung (nur) teilweise Folge gegeben hat (RS0041170 [T6]). Es handelt sich bei der teilweisen Klagsabweisung entgegen der Meinung des Klägers um ein Minus und um kein Überschreiten des Rechtsmittelantrags des Beklagten.
[12] 2. Die Behauptungs- und Beweislast für einen Rechtfertigungsgrund trifft generell denjenigen, der in fremdes Rechtsgut eingreift (RS0023098; zur Notwehrsituation: 4 Ob 116/19s mwN).
[13] Unter Notwehr versteht man die innerhalb der Grenzen der notwendigen Verteidigung gehaltene Abwehr eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs auf Leben, Freiheit oder Vermögen (RS0009048 [T1]).
[14] Der Beklagte hat sich in erster Instanz nicht auf Notwehr berufen und auch kein konkretes Vorbringen zum Vorliegen einer Notwehrsituation erstattet, insbesondere hat er einen Angriff auf ein notwehrfähiges Rechtsgut nicht substantiiert dargetan. Mit seiner erstmals in der Berufung erhobenen Behauptung, er habe den Kläger in Notwehr, also nicht rechtswidrig, gestoßen, der gegenseitige rechtswidrige Angriff des Klägers habe darin bestanden, dass dieser noch im Haus des Beklagten verweilt habe, setzt sich der Beklagte nicht nur in Widerspruch zu seinem erstinstanzlichen Vorbringen, er stehe zu seiner [im Strafverfahren abgegebenen] Erklärung, für alle Schäden dem Grunde nach zu haften, sondern verstößt auch gegen das Neuerungsverbot. Auf diesen Einwand ist im Revisionsverfahren daher nicht weiter einzugehen.
[15] 3. Das Mitverschulden im Sinne des § 1304 ABGB wird als Sorglosigkeit im Umgang mit eigenen Rechtsgütern charakterisiert. Dabei kommt einer solchen Sorglosigkeit Relevanz nur zu, sofern sie für den Schaden kausal ist. Überdies bedarf es des Mitverschuldenszusammenhangs und der Adäquanz (RS0022831 [T3]; vgl Schacherreiter in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.08 § 1304 Rz 12 f).
[16] Provokationen können nach der Rechtsprechung ein Mitverschulden begründen, wenn sie geeignet sind, den Verletzer in einen Gemütszustand zu versetzen, von welchem angenommen werden kann, dass er sich zu Tätlichkeiten wird hinreißen lassen (RS0027232). Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass derjenige, der den nachmaligen Angreifer schuldhaft in einen Aufregungszustand versetzt, von dem er vorauszusehen vermochte, dass er zu einem Angriff gegen ihn führen werde, Mitschuld an seinen Verletzungen trägt (7 Ob 589/81). In erster Linie ist dabei an Tätlichkeiten (etwa Stoß während einer Rangelei: 6 Ob 238/07d; Schlagen mit einem Lineal: RS0026839) oder an die Androhung von Tätlichkeiten (drohendes Erheben einer ca 40 cm langen Metallfeile: 4 Ob 143/09x) zu denken. Der Oberste Gerichtshof hat bereits mehrmals ausgesprochen, dass wörtliche Provokationen in der Regel nicht genügen (RS0027232 [T8, T10, T11]), um ein Mitverschulden des durch Tätlichkeiten Verletzten zu begründen. Es kommt aber stets auf die Umstände des Einzelfalls an (RS0027232 [T6, T9]).
[17] Auch wenn der Kläger hier die Liegenschaft des Beklagten widerrechtlich betreten hat und sehr aufgebracht auf den Beklagten zugegangen ist, hat er nach den Feststellungen doch gleich den Grund für sein Erscheinen klargestellt und sein Anliegen mitgeteilt, das ja durch das rücksichtslose Verhalten des Beklagten heraufbeschworen worden war. Der Kläger agierte dabei weder besonders aggressiv noch in irgendeiner Weise beleidigend noch drohte er dem Beklagten mit Tätlichkeiten, vielmehr stellte er bloß in Aussicht, die Polizei einzuschalten, wenn das so weiter gehe. Obwohl dem Beklagten daher erkennbar war, dass der Kläger sich vom Motorenlärm gestört fühlte und erreichen wollte, dass Ruhe einkehrt, also (nur) eine nachvollziehbare Beschwerde vorbrachte, tat der Beklagte dieses Anliegen unter Verwendung eines Schimpfwortes ab, drohte dem Kläger mit dem Umbringen und versetzte ihm unmittelbar darauf mit beiden Händen einen Stoß, durch den dieser zu Sturz kam und sich verletzte. Bei diesem Sachverhalt hat der Kläger aber den heftigen Stoß durch den Beklagten weder vorwerfbar provoziert noch musste er damit rechnen, dass sich der Beklagte zu einer solchen Tätlichkeit hinreißen lassen werde, sodass den Beklagten das Alleinverschulden an den Verletzungen des Klägers trifft. Dem Kläger steht daher der Schadenersatz ungekürzt zu.
[18] 4. Der Revision des Klägers ist damit Folge zu geben und – unter Bedachtnahme auf die bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile – das Urteil des Erstgerichts einschließlich dessen Kostenentscheidung wiederherzustellen.
[19] 5. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens beruht auf § 41 Abs 1 iVm § 50 Abs 1 ZPO. Für die Berufungsbeantwortung steht nach § 23 Abs 9 RATG lediglich der dreifache Einheitssatz zu. Das Revisionsinteresse beträgt 3.790,67 EUR, sodass Kosten für die Revision bloß auf dieser Bemessungsgrundlage entstanden sind. Ein ERV‑Zuschlag gemäß § 23a erster Satz RATG in Höhe von 4,10 EUR gebührt nur für verfahrenseinleitende, nicht jedoch für weitere Schriftsätze, zu denen auch Rechtsmittel gehören (RS0126594). Für diese beträgt der Zuschlag gemäß Satz 2 leg cit nur 2,10 EUR.
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