OGH 8Ob25/21s

OGH8Ob25/21s29.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Tarmann‑Prentner, Mag. Korn, Dr. Stefula und Mag. Wessely‑Kristöfel als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei A***** Gemeinnützige *****gesellschaft mbH, *****, vertreten durch Dr. Karl Schelling, Rechtsanwalt in Dornbirn, gegen die beklagte Partei H*****, vertreten durch Dr. Edgar Veith, Rechtsanwalt in Götzis, wegen Feststellung (Streitwert: 5.000 EUR), über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Berufungsgericht vom 29. Oktober 2020, GZ 3 R 263/20d‑15, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Bezirksgerichts Dornbirn vom 9. September 2020, GZ 3 C 575/20t‑11, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0080OB00025.21S.0429.000

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 501,91 EUR (darin enthalten 83,65 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin ist Eigentümerin der Liegenschaft EZ *****. Die Beklagte ist Eigentümerin des angrenzenden Grundstücks EZ *****. Zugunsten dieser Liegenschaft besteht entlang der Nordgrenze der Liegenschaft der Kläger ein Geh‑ und Fahrrecht.

[2] Die Klägerin plant auf ihrer Liegenschaft die Errichtung einer Wohnanlage mit Tiefgarage. Im Zuge dessen ist der Aushub einer Baugrube mit Errichtung einer Spundwand geplant. Dadurch wäre die Nutzung der Dienstbarkeitstrasse während der Dauer der Bauführung – ca 1,5 Jahren – nicht möglich. Ebensowenig besteht die Möglichkeit einer kurzfristigen Verlegung des Wegs.

[3] Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass sie als Eigentümerin des Grundstücks EZ ***** vorübergehend berechtigt ist, für die Dauer des Aushubs, der Spundung und der Errichtung der Tiefgarage auf dieser Liegenschaft das Dienstbarkeitsrecht zugunsten des Grundstücks EZ ***** der Beklagten zu unterbinden. Nach entsprechender Interessenabwägung sei es vom Dienstbarkeitsberechtigten zu dulden, dass, wenn dies für eine Bauführung notwendig sei, ein Geh‑ und Fahrrecht vorübergehend nicht genützt werden könne. Nach Durchführung des Bauvorhabens werde eine gleichwertige, für Fahrzeuge mit 40 Tonnen geeignete Zufahrtsmöglichkeit hergestellt werden. Darüber hinaus sei der Klägerin auf der im Bereich der Dienstbarkeitstrasse liegenden öffentlichen Privatstraße von der Gemeinde ein Sondergebrauch für die Bauführung eingeräumt worden. Eine Gebrauchserlaubnis der Beklagten für die Ein- und Ausfahrt liege nicht vor, weshalb ihr auch kein Anspruch auf Unterlassung der Bauführung zukomme.

[4] Die Beklagte bestritt. Die Dienstbarkeit stehe der geplanten Bauführung entgegen. Die Dienstbarkeitsfläche verlaufe in jenem Bereich, in dem die Klägerin die Errichtung der Tiefgarageneinfahrt und eines Gebäudes beabsichtige, sodass das Dienstbarkeitsrecht auch nach Beendigung der Bauarbeiten nicht mehr wie festgestellt ausgeübt werden könne. Auch die von der Klägerin geplante Beschränkung der Zufahrtsmöglichkeit auf Fahrzeuge mit bis zu 40 Tonnen müsse sie sich nicht gefallen lassen.

[5] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[6] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin nicht Folge. Die Einräumung eines Sondergebrauchs zur Durchführung der Baustelle auf der öffentlichen Privatstraße gemäß § 5 Vlbg StrG sei lediglich geeignet, die Berechtigung zum Gemeingebrauch für die Dauer der Bauführung zu beschränken. Auswirkungen auf die Dienstbarkeit seien daraus nicht abzuleiten. Ob die Zu‑ und Abfahrt auf die Landesstraße das Vorliegen einer Gebrauchserlaubnis nach § 6 Vlbg StrG voraussetzt, betreffe das Verhältnis zwischen der Beklagten und dem Straßenerhalter der Landesstraße und sei für die privatrechtlichen Beziehungen zwischen den Streitteilen ohne Relevanz. Eine iSd § 484 ABGB vorzunehmende Abwägung der Interessen der Parteien führe nicht dazu, dass es der dienstbarkeitsberechtigten Beklagten zuzumuten wäre, die gänzliche Unterbindung der Ausübung ihrer Dienstbarkeit für den (im Klagebegehren nicht näher definierten) Zeitraum der Bauführung zu dulden. Die Weigerung der Beklagten, vorübergehend auf das Servitutsrecht zu verzichten, sei auch nicht rechtsmissbräuchlich.

[7] Die Revision wurde vom Berufungsgericht nachträglich zur Frage der Zulässigkeit einer längerfristigen Unterbrechung der Ausübung einer Wegdienstbarkeit im Zusammenhang mit der Bauführung auf der dienenden Liegenschaft und den Auswirkungen eines Sondergebrauchsrechts an einer öffentlichen Privatstraße auf ein privatrechtlich eingeräumtes Weg‑ und Fahrrecht zugelassen.

[8] Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Klägerin mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahingehend abzuändern, dass der Klage stattgegeben wird, in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[9] Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[10] Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 iVm § 500 Abs 2 Z 3 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

[11] 1. Bei der Beurteilung, ob dem Dienstbarkeitsberechtigten Erschwernisse zuzumuten sind, sind Natur und Zweck der Dienstbarkeit zu berücksichtigen (vgl RIS‑Justiz RS0106411). Ziel der dabei gemäß § 484 ABGB vorzunehmenden Interessenabwägung ist es stets, dem Dienstbarkeitsberechtigten den angestrebten Vorteil zu ermöglichen, dem Verpflichteten aber so wenig wie möglich zu schaden. Beschränkungen der Ausübung von Servituten kommen nur bei nachträglicher wesentlicher Änderung von Umständen in Frage, die klar für eine stärkere Berücksichtigung der Interessen des Verpflichteten sprechen ( Koch in KBB 5 § 484 Rz 7; 1 Ob 304/01i; RS0011740).

[12] Beschränkungen der Rechtsausübung durch den Belasteten (ohne zumindest schlüssige Zustimmung des Berechtigten) werden nur dann als zulässig angesehen, wenn die Ausübung des Rechts dadurch nicht ernstlich erschwert oder gefährdet wird. Erhebliche oder gar unzumutbare Erschwernisse der Servitutsausübung müssen nicht hingenommen werden (vgl RS0011740; 2 Ob 88/06i mwN).

[13] 2. Diese Interessensabwägung ist grundsätzlich von den Umständen des Einzelfalls abhängig und wirft daher im Allgemeinen keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf (10 Ob 83/16b ua).

[14] Richtig ist, dass die bisher entschiedenen Fälle überwiegend Beschränkungen bzw Erschwernisse der Servitutsausübung etwa durch Tore, Stützmauern, Schranken oder Ähnliches betrafen (1 Ob 304/01i; 1 Ob 136/04p; 7 Ob 224/04y; 2 Ob 88/06i), oder auch die Verlegung des Servitutswegs (RS0011695). Allein der Umstand, dass zu einer bestimmten Konstellation noch keine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ergangen ist, begründet nicht das Vorliegen einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung.

[15] 3. Die Vorinstanzen haben die Rechtsauffassung vertreten, dass die vollständige Verhinderung der Ausübung der Dienstbarkeit über den im Spruch des Klagebegehrens nicht näher konkretisierten Zeitraum der Bauführung, der nach den Feststellungen aber jedenfalls mit 1,5 Jahren anzunehmen ist, eine so erhebliche Beeinträchtigung darstellt, dass sie vom Berechtigten trotz grundsätzlich beachtenswerter Interessen des Servitutsbelasteten nicht hinzunehmen ist. Darin liegt jedenfalls keine aufzugreifende Fehlbeurteilung.

[16] Allein der Umstand, dass die Beklagte sich den Vorteil aus der Nutzung der Dienstbarkeit auch auf andere Art verschaffen kann (hier andere Zugangsmöglichkeit) ist für die Beurteilung der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung der Rechte aus der Dienstbarkeit nicht von Belang.

[17] 4. Zu Recht sind die Vorinstanzen auch davon ausgegangen, dass die Einräumung einer Berechtigung durch die Gemeinde zu einer Sondernutzung einer öffentlichen Privatstraße keinen Einfluss auf die privatrechtlichen Verpflichtungen der Klägerin gegenüber am Verwaltungsverfahren nicht beteiligten Personen haben kann. Anders als nach dem in der Revision zitierten § 14 Vlbg Baugesetz, über dessen Voraussetzung die Baubehörde zu entscheiden hat, enthält diese Zustimmung der Gemeinde gerade keine Entscheidung über die von anderen privatrechtlich Berechtigten hinzunehmenden Einschränkungen.

[18] 5. Als Gemeingebrauch wird die jedermann unter gleichen Bedingungen ohne besondere behördliche Bewilligung und ohne Zustimmung des über die betroffene Liegenschaft Verfügungsberechtigten zustehende Freiheit verstanden, bestimmte Sachen entsprechend ihrer Zweckbestimmung bzw im Rahmen der Üblichkeit zu verwenden (RS0009781 [T5]; RS0009760). Der Gemeingebrauch ist eine Art öffentlich-rechtliche Dienstbarkeit, die aufgrund ausdrücklicher Widmung durch Gesetz, Verordnung, Erklärung der zuständigen Verwaltungsbehörde oder die „Ersitzung“ durch entsprechend lang dauernde Benützung (RS0009781 [T6]) entsteht und bewirkt, dass der Eigentümer den Gebrauch dieser Sache durch jedermann nicht hindern kann, sofern sich dieser im Rahmen des Gemeingebrauchs hält (RS0009781 [T4]). Der Gemeingebrauch besteht nicht nur am „öffentlichen Gut“, sondern kann auch am Privateigentum begründet werden (RS0009757 [T8]).

[19] Richtig ist, dass der Erwerb eines Privatrechts durch Ersitzung an einem im Gemeingebrauch stehenden Weg nur dann in Betracht kommt, wenn eine Benützung außerhalb des Gemeingebrauchs erfolgt. Es muss für den Liegenschaftseigentümer erkennbar sein, dass ein vom Gemeingebrauch verschiedenes Privatrecht in Anspruch genommen wird, dessen Ausübung vom Eigentümer wie die Erfüllung einer Schuld geduldet werden muss (7 Ob 207/99p mwN).

[20] Da aber im vorliegenden Fall bereits aufgrund des Vorverfahrens feststeht, dass die Beklagte ein privatrechtliches Nutzungsrecht hat, kommt es für den Umfang dieses Rechts und der daraus ableitbaren Ansprüche nicht darauf an, inwieweit die Art der Nutzung sich von der anderer Personen aufgrund des Gemeingebrauchs unterscheidet. Konkrete Feststellungen zur Breite der öffentlichen Privatstraße waren daher ebenfalls nicht erforderlich.

[21] 6. Wie bereits die Vorinstanzen ausgeführt haben, handelt es sich bei der Dienstbarkeit zu Lasten der Klägerin nicht nur um ein Fahrrecht, sondern auch um ein Gehrecht. Darauf, ob die Beklagte daher eine Genehmigung eines Anschlusses nach § 6 Vlbg Straßengesetz benötigt oder gegebenenfalls über einen solchen verfügt, kommt es daher nicht an.

[22] 7. Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn das unlautere Motiv der Rechtsausübung das lautere Motiv eindeutig überwiegt. Als schikanös ist eine ausschließlich oder doch weit überwiegend zum Zweck der Schädigung eines anderen erfolgende Rechtsausübung zu verstehen (RS0037903). Dabei ist Rechtsmissbrauch bereits dann gegeben, wenn unlautere Motive der Rechtsausübung augenscheinlich im Vordergrund stehen und daher andere Ziele der Rechtsausübung völlig in den Hintergrund treten beziehungsweise wenn zwischen den vom Handelnden verfolgten eigenen Interessen und den beeinträchtigten Interessen des anderen Teils ein krasses Missverhältnis besteht (RS0026271 [T23, T24]). Die Beweislast trifft denjenigen, der sich auf Rechtsmissbrauch beruft, wobei selbst relativ geringe Zweifel am Rechtsmissbrauch zugunsten des Rechtsausübenden den Ausschlag geben, weil demjenigen, der an sich ein Recht hat, grundsätzlich zugestanden werden soll, dass er innerhalb der Schranken dieses Rechts handelt (RS0026205 [T4]). Die Beurteilung als (nicht) rechtsmissbräuchlich kann immer nur eine Frage des Einzelfalls sein (RS0025230 [T9]).

[23] Die Rechtsauffassung der Vorinstanzen, dass die Weigerung der Beklagten, ein Aussetzen ihres Rechts über 1,5 Jahre hinzunehmen, nicht als rechtsmissbräuchlich anzusehen ist, hält sich auch unter Beachtung der baurechtlichen Regelungen noch im Rahmen des eingeräumten Ermessensspielraums.

[24] 8. Die Revision ist daher mangels Vorliegens einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO zurückzuweisen. Einer weiteren Begründung bedarf dieser Zurückweisungsbeschluss nicht (§ 510 Abs 3 Satz 3 ZPO).

[25] 9. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Die Beklagte hat in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen.

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