OGH 4Ob20/21a

OGH4Ob20/21a20.4.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Matzka und die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I*****W*****, Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Vogl Rechtsanwalt GmbH in Feldkirch, wider die beklagte Partei A***** GmbH, *****, vertreten durch Dr. Dieter Brandstätter, Rechtsanwalt in Innsbruck, wegen 59.509,54 EUR sA und Feststellung (Gesamtstreitwert 69.509,54 EUR), infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgerichtvom 18. Dezember 2020, GZ 10 R 48/20i‑94, womit das Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 16. September 2020, GZ 57 Cg 64/18a‑88, bestätigt wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00020.21A.0420.000

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung als Teil- und Teilzwischenurteil nunmehr zu lauten hat:

„1. Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 59.509,54 EUR samt 4 % Zinsen seit 17. 8. 2017 zu zahlen, besteht dem Grunde nach zur Hälfte zu Recht.

2. Die beklagte Partei hat der klagenden Partei für sämtliche zukünftigen Schäden und Nachteile, welche diese als Folge des Unfalls vom 13. März 2017 vor dem Bäckereigeschäft der beklagten Partei in *****, erleidet, zur Hälfte zu haften.

3. Hingegen wird das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 29.754,77‬ EUR samt 4 % Zinsen seit 17. 8. 2017 zu zahlen, und es werde festgestellt, dass die beklagte Partei der klagenden Partei für sämtliche zukünftigen Folgen, Schäden und Nachteile, welche diese aufgrund des Unfalls vom 13. 3. 2017 vor dem Bäckereigeschäft der beklagten Partei in *****, erleidet, zu mehr als der Hälfte zu haften habe, abgewiesen.

4. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.“

Im Übrigen, also betreffend das Begehren auf Zahlung von weiteren 29.754,77‬ EUR sA, wird das Berufungsurteil samt der Kostenentscheidung aufgehoben und die Rechtssache wird in diesem Umfang an das Berufungsgericht zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens bilden insofern weitere Kosten des Berufungsverfahrens.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Beklagte betreibt eine Bäckerei‑Filiale in einem größeren Geschäftskomplex (Einkaufsareal) mit Parkplatz in ***** in Vorarlberg. Die nicht überdachte Terrasse der Beklagten befindet sich im Außenbereich zwischen dem Parkplatz und dem Geschäftskomplex, unmittelbar vor der Filiale, wobei zwischen dem Ende des Gebäudes beziehungsweise Ein- und Ausgang der Filiale einerseits und dem Beginn der Terrasse andererseits ein betonierter und überdachter ca 1,5 Meter breiter Zu‑ beziehungsweise Abgang verläuft.

[2] Die Terrasse ist an allen vier Seiten mit einer hüfthohen Holzbrüstung begrenzt, die jeweils in der Mitte eine Aussparung aufweist. Die Aussparung im Bereich der dem Gebäudekomplex (und demgemäß der Filiale) zugewandten Seite ist offen und der einzige Zugang zur beziehungsweise Abgang von der Terrasse; auf allen drei anderen Seiten ist diese Aussparung hüfthoch verglast. Der Boden der Terrasse besteht aus für die gewerbliche Nutzung im Außenbereich zulässigen und geeigneten Dielen aus sehr hartem Holz.

[3] Am 13. März 2017 gegen 8:15 Uhr kaufte die damals 46 Jahre alte Klägerin in der Filiale der Beklagten Brot ein und wollte nach dem Verlassen des Gebäudes die Terrasse überqueren, um über diese vermeintliche Abkürzung zu ihrem Fahrzeug auf dem Parkplatz zu gelangen, zumal sie die Terrassenbegrenzung nicht wahrnahm. Nach zwei bis drei Schritten auf der Terrasse rutschte die Klägerin aus; es zog ihr beide Füße weg. Sie kam zu Sturz, versuchte zunächst noch, sich rechts abzustützen, und landete schließlich auf ihrem Rücken und ihrem rechten Ellenbogen. Durch diesen Sturz wurde sie schwer an der Wirbelsäule sowie an Arm und Schulter verletzt. Der Klägerin werden Dauerfolgen aufgrund des Sturzes verbleiben; darüber hinaus sind sturzbedingte Spätfolgen nicht auszuschließen.

[4] In der Nacht zuvor war der Terrassenbodenbelag aus Holz gefroren, wodurch es zu einer Absetzung beziehungsweise Bildung von Reif auf dem Terrassenbodenbelag gekommen war. Im Zeitpunkt des Sturzes der Klägerin war der Boden im Unfallbereich mit Reif überzogen, welcher teilweise noch gefroren war, teilweise aber schon angetaut und geschmolzen. Im Bereich der angetauten und geschmolzenen Stellen hatte sich eine feuchte Oberfläche gebildet. Diese Kombination aus noch gefrorenem und schon angetautem beziehungsweise geschmolzenem Reif war rutschig und die Ursache dafür, dass die Klägerin ausrutschte und zu Sturz kam. Erst im weiteren zeitlichen Verlauf nach dem Sturz ist der Reif aufgrund von Sonneneinstrahlung rasch vollständig geschmolzen und, nachdem er für einige Zeit noch einen feuchten Film auf dem Boden hinterließ, durch Verdunstung abgetrocknet.

[5] Reifbildung ist in der Region, in der sich der Unfall ereignete, ein in den Wintermonaten völlig normales Geschehen, mit welchem sowohl von Gewerbetreibenden als auch von Kunden gerechnet werden muss.

[6] Die Beklagte stellt auf der Terrasse in den Wintermonaten einen (im Unfallszeitpunkt nicht aufgespannten) Sonnenschirm sowie einige Tische für die Benützung durch rauchende Gäste auf; sie reinigt im Winter die Terrasse zwar von Müll, kontrolliert sie jedoch nicht im Hinblick auf Witterungseinflüsse wie Reif. Die Terrasse war auch im Unfallszeitpunkt frei zugänglich und weder abgesperrt noch mit Warnhinweisen versehen; sie war weder gesalzen noch gestreut.

[7] Die Klägerin hat die von ihr eingeschlagene Wegstrecke und den Boden nicht aufmerksam beobachtet und nicht vor ihre Füße geschaut. Bei gehöriger Aufmerksamkeit und Blick vor ihre Füße hätte die Klägerin erkennen können, dass der Terrassenbodenbelag mit Reif überzogen und daher rutschig ist. Bei gehöriger Aufmerksamkeit und Blick vor ihre Füße hätte die Klägerin den Sturz vermeiden können.

[8] Die Klägerin begehrte insgesamt 59.509,54 EUR sA an Schmerzengeld, Haushaltshilfekosten, Medikamenten- und Behandlungskosten, Fahrtkosten und Verdienstentgang sowie die mit 10.000 EUR bewertete Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Unfallsfolgen.

[9] Die Beklagte brachte vor, das Alleinverschulden am Unfall treffe die Klägerin. Die Terrasse sei nicht rutschig gewesen; vor notorischen Gefahren (wie Raureif im März) müsse nicht gewarnt werden.

[10] Das Erstgericht wies die Klage ab. Die Klägerin treffe das Alleinverschulden an ihrem Sturz. Die Beklagte habe ihre Schutz-, Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt.

[11] Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[12] Mit ihrer außerordentlichen Revision beantragt die Klägerin, dem Klagebegehren stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[13] Die Beklagte beantragt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[14] Die Revision ist wegen einer aus Gründen der Rechtssicherheit aufzugreifenden Fehlbeurteilung durch die Vorinstanzen zulässig und dementsprechend auch berechtigt.

[15] 1. Entsteht im Rahmen eines Vertragsverhältnisses eine besondere Gefahrenlage, so kommt eine Haftung des Verantwortlichen aus der Verletzung vertraglicher Verkehrssicherungspflichten als nebenvertragliche Schutz- oder Aufklärungspflichten in Betracht (vgl 8 Ob 94/17g). Verkehrssicherungspflichten sind darauf gerichtet, die Sicherheit der befugten Benützer (zB Gäste) und ihre körperliche Unversehrtheit zu wahren (RIS‑Justiz RS0021735). Der Verkehrssicherungspflichtige muss den Verkehrsbereich für die befugten Benützer in verkehrssicherem und gefahrlosem Zustand erhalten und diese vor Gefahren schützen. Die Verkehrssicherungspflicht findet ihre Grenze einerseits in der Erkennbarkeit der Gefahr (RS0023801; RS0023442) und andererseits in der Zumutbarkeit ihrer Abwehr (RS0023397). Liegen angesichts des Verkehrsbereichs oder der Veranstaltung Gefahren für Andere nahe, so hat der Verantwortliche im Rahmen des Zumutbaren dagegen angemessene Maßnahmen zu treffen (vgl 8 Ob 84/12d mwN); letztlich kommt es auf die Wahrscheinlichkeit der Schädigung an (2 Ob 135/17t mwN).

[16] Nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze gilt vor allem auch für einen Gastwirt, dass er für die Sicherheit seines Lokals zu sorgen und die den Gästen zur Verfügung gestellten Räume in verkehrssicherem und gefahrlosem Zustand zu erhalten hat (RS0020753; RS0023421; 4 Ob 120/18b mwN). Der Gastwirt muss auch Sicherungsmaßnahmen im Außenbereich, soweit dies zumutbar ist, treffen. Voraussetzung sind Verfügungsmacht und Einflussnahmemöglichkeit des Gastwirts auf den Gefahrenbereich. In zeitlicher Hinsicht endet die Schutzpflicht eines Gastwirts aus dem Bewirtungsvertrag nicht schon mit der Konsumation des Getränks oder der Speise und der Bezahlung durch den Gast, sondern erst mit der Beendigung des Naheverhältnisses (

RS0078150 [T12, T13]). Auch nach Erfüllung aller Hauptleistungspflichten besteht die Pflicht des (ehemaligen) Vertragspartners, dafür zu sorgen, dass für die Zeit nach der Beendigung des Vertragsverhältnisses keine Nachteile entstehen (RS0018232 [T8]); nachvertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten sind solange anzunehmen, solange sich der Vertragspartner oder seine Güter in der Einflusssphäre des anderen Vertragspartners befinden (RS0018232 [T9]).

[17] Der Umfang und die Intensität von Verkehrssicherungspflichten richtet sich zudem auch danach, in welchem Maß die Verkehrsteilnehmer vorhandene Gefahren selbst erkennen und ihnen begegnen können (RS0023726). Sie kann auch entfallen, wenn sich jeder selbst schützen kann, weil die Gefahr leicht, also ohne genauere Betrachtung erkennbar war (RS0114360; 8 Ob 140/17x).

[18] Welche Sicherheitsvorkehrungen konkret erforderlich sind, hängt immer von den Umständen des Einzelfalls, vor allem vom Anlass, von der Situation und der Örtlichkeit ab und begründet in der Regel, abgesehen von Fällen einer krassen Fehlbeurteilung, keine erhebliche Rechtsfrage (RS0111380; RS0110202; RS0078150).

[19] 2. Eine solche Fehlbeurteilung liegt hier vor:

[20] 2.1. Nach den Feststellungen gehört die Terrasse zum Geschäftsbereich der Beklagten und stand zur Benützung durch ihre Gäste offen. Es war allgemein, und daher auch für die Beklagte damit zu rechnen, dass in den Morgenstunden Reif auftritt und damit durch Glätte eine Gefahr für Benützer der Terrasse entstehen könnte. Die Beklagte hat aber zum Schutz ihrer Kunden gegen diese Gefahr keinerlei Vorkehrungen getroffen; sie hat die Terrasse weder abgesperrt noch kontrolliert, nicht vor Gefahren gewarnt und der Glättebildung nicht entgegengewirkt. Warum keine dieser Maßnahmen möglich und zumutbar gewesen sein sollte, ist weder ersichtlich noch nachvollziehbar; die Beklagte vor diesem Hintergrund von der Haftung für den Unfall ihrer Vertragspartnerin im Geschäftsbereich generell freizustellen, ist daher unvertretbar.

[21] 2.2. Dass die Klägerin Eigenverschulden am Sturz trifft, erhellt schon aus dem von den Vorinstanzen hervorgehobenen Umstand, dass sie es unterließ, wie von jedem Fußgänger zu verlangen ist, vor die Füße zu schauen, der einzuschlagenden Wegstrecke Aufmerksamkeit zuzuwenden und einem auftauchenden Hindernis oder einer gefährlichen Stelle möglichst auszuweichen (vgl RS0027447; RS0023787 [T3]; RS0023704).

[22] 2.3. In einer Gesamtabwägung zwischen der Verletzung vertraglicher Sorgfaltspflichten auf Seite der Beklagten einerseits und Sorglosigkeit der Klägerin in eigenen Angelegenheiten andererseits ist in der vorliegenden Sachverhaltskonstellation die Zumessung gleichteiligen Verschuldens geboten (vgl 7 Ob 73/06w; 1 Ob 152/05t; 1 Ob 112/05k).

[23] 3.1. Es war daher dem Grunde nach festzustellen, dass das Zahlungsbegehren zur Hälfte zu Recht besteht; die andere Hälfte des Zahlungsbegehrens war abzuweisen.

[24] 3.2. Da feststeht, dass die Klägerin an Dauerfolgen leidet, konnte auch dem Feststellungsbegehren bereits insoweit stattgegeben werden, als die Beklagte für künftige Schäden der Klägerin zur Hälfte einzustehen hat; dabei war die Fassung des Spruches sprachlich dahin klarzustellen (RS0039357), dass die Beklagte für Unfallsfolgen haftet. Auch hier war das Feststellungsbegehren in Ansehung der anderen Hälfte im klagsabweisenden Sinne spruchreif.

[25] 4. Das Berufungsgericht klärte die Tatsachengrundlage zur Höhe des Anspruchs nicht vollständig, weil es – ausgehend von seiner vom Senat nicht gebilligten Rechtsansicht, das Klagebegehren bestehe schon dem Grunde nach gänzlich nicht zu Recht – über die gemäß § 468 Abs 2 ZPO in der Berufungsbeantwortung der Beklagten erstattete Beweisrüge nicht absprach. Schon aus diesem Grund konnte über die Höhe des dem Grunde nach zu Recht bestehenden Teils des Zahlungsbegehrens noch nicht abgesprochen werden.

[26] Das Berufungsgericht wird im fortgesetzten Berufungsverfahren die Beweisrügen vollständig zu behandeln und sodann aufgrund der ihm vorliegenden Tatsachengrundlage das verbliebene Leistungsbegehren der Klägerin zu beurteilen haben.

[27] 5. Die Kostenentscheidung des Teil- und Teilzwischenurteils beruht auf § 52 Abs 4 iVm § 393 Abs 4 ZPO; der Kostenvorbehalt im Aufhebungsbeschluss gründet sich auf §§ 50 Abs 1, 52 Abs 1 ZPO.

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