OGH 10ObS160/20g

OGH10ObS160/20g26.2.2021

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.‑Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Martin Lotz (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei F*, vertreten durch Goldsteiner Rechtsanwalt GmbH in Wiener Neustadt, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Rückforderung von Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 23. Oktober 2020, GZ 9 Rs 75/20 w‑17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits‑ und Sozialgericht vom 5. Mai 2020, GZ 59 Cgs 10/20i‑12, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2021:E131243

 

Spruch:

 

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 377,50 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 62,92 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Die Tochter des Klägers wurde am 1. 4. 2018 geboren. Die Beklagte zahlte dem Kläger Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für den Zeitraum von 1. 4. 2019 bis 31. 5. 2019 in Höhe von 62,54 EUR täglich.

[2] Sämtliche vor und nach der Geburt des Kindes vorgesehenen Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen wurden fristgerecht durchgeführt. Mit Ausnahme der letzten, der fünften Untersuchung des Kindes, die am 27. 2. 2019 durchgeführt wurde, wurden die Nachweise zu sämtlichen Untersuchungen fristgerecht vorgelegt.

[3] Zunächst vergaß der Kläger, den Abschnitt mit der Untersuchungsbestätigung für die letzte Untersuchung des Kindes an die Beklagte zu schicken. Am 30. 9. 2019 – nach Auffassung des Klägers am letzten Tag der Frist gemäß § 24c Abs 2 Z 2 KBGG – fiel ihm ein, dass er diesen Nachweis an die Beklagte übermitteln muss. Der Kläger arbeitet in einer Steuerberatungskanzlei. Er war aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit der Auffassung, dass eine Postaufgabe am letzten Tag der Frist rechtzeitig für den erforderlichen Nachweis der Untersuchung sei. Den Abschnitt mit dem Nachweis der fünften Untersuchung des Kindes gab der Kläger am 30. 9. 2019 [Anm.: Montag] zur Kanzleipost zur Übermittlung an die Beklagte. Die Sendung langte bei der Beklagten am 1. 10. 2019 ein.

[4] Das dem Kläger unstrittig bekannte Informationsblatt enthält folgenden Hinweis: „Nachfrist: Die Nachweise können – spätestens – bis zur Vollendung des 18. Lebensmonats des Kindes nachgereicht werden. Werden die Nachweise zu einem späteren Zeitpunkt eingebracht, können sie endgültig nicht mehr berücksichtigt werden, die Untersuchungen gelten als nicht durchgeführt und der Nachweis gilt als nicht erbracht.“

[5] Mit Bescheid vom 27. 12. 2019 sprach die beklagte Österreichische Gesundheitskasse aus, dass sich der Anspruch des Klägers auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens um 1.300 EUR reduziere. Diesen Betrag forderte sie vom Kläger – gestützt auf die §§ 30, 31 KBGG – zurück, weil der Nachweis der erforderlichen Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen nicht zu den vorgesehenen Zeitpunkten erfolgt sei.

[6] Mit seiner Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass der Rückforderungsanspruch nicht zu Recht bestehe. Die Frist des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG sei eine verfahrensrechtliche, die Postaufgabe am 30. 9. 2019 genüge zu ihrer Wahrung. Selbst wenn man von einer Verspätung ausginge, läge ein Härtefall im Sinn des § 24c Abs 2 Z 1 KBGG vor, weil der Kläger darauf vertraut habe, dass die Postaufgabe am 30. 9. 2019 genüge.

[7] Dagegen wandte die Beklagte ein, dass die Frist des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG eine materiell‑rechtliche sei. Der Nachweis für die zehnte Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung (die fünfte Untersuchung des Kindes) hätte daher am 30. 9. 2019 bei der Beklagten eingelangt sein müssen und sei verspätet. Der Kläger sei ausführlich über die Fristen informiert gewesen und habe die Verspätung des Nachweises zu vertreten.

[8] Das Erstgericht stellte fest, dass der Rückforderungsanspruch der Beklagten nicht zu Recht bestehe. Dem Kläger könne kein Vorwurf gemacht werden, dass er vor dem Hintergrund des unklaren Gesetzeswortlauts und des ebenso wenig klaren Informationsblatts der Beklagten davon ausgegangen sei, dass die Absendung des Nachweises der fünften Untersuchung des Kindes am letzten Tag der Frist rechtzeitig sei.

[9] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge. Die Frist des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG sei eine materiell‑rechtliche Frist. Daraus sei aber für die Beklagte nichts zu gewinnen. Denn gemäß § 902 Abs 2 ABGB ende die Frist, ausgehend vom Geburtstag der Tochter am 1. 4. 2018, am 1. 10. 2019. Diese Berechnung ergebe sich auch aus dem innerstaatlich unabdingbaren Europäischen Fristenberechnungsübereinkommen. Der Nachweis über die fünfte Untersuchung des Kindes sei daher rechtzeitig erbracht worden. Die Revision sei vor dem Hintergrund der klaren Rechtslage nicht zulässig.

[10] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens begehrt.

[11] In der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt der Kläger, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

[12] Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Sie ist jedoch nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

[13] 1.1 Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in voller Höhe besteht nur, wenn die in § 24c KBGG vorgesehenen Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen gemäß der Mutter‑Kind‑Pass‑Verordnung 2002 durchgeführt und durch Vorlage der entsprechenden Untersuchungsbestätigung nachgewiesen werden. Werden die in § 24c KBGG vorgesehenen Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchungen nicht bis zu den vorgesehenen Zeitpunkten nachgewiesen, so reduziert sich gemäß § 24a Abs 4 KBGG der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für jeden Elternteil um 1.300 EUR.

[14] 1.2 Die fünfte Untersuchung des Kindes ist gemäß § 24c Abs 1 Z 2 KBGG bis zur Vollendung des 14. Lebensmonats des Kindes durchzuführen, was hier auch geschah. Der Nachweis ist spätestens bis zur Vollendung des 15. Lebensmonats des Kindes zu erbringen, was im vorliegenden Fall nicht geschah. Dessen ungeachtet besteht Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens in voller Höhe, wenn die jeweiligen Nachweise „bis spätestens zur Vollendung des 18. Lebensmonates des Kindes nachgebracht werden“ (§ 24c Abs 2 Z 2 KBGG).

[15] 2.1 Ob eine bestimmte Frist dem Verfahrensrecht oder dem materiellen Recht zuzuordnen ist, hängt nicht davon ab, in welcher Rechtsvorschrift sie angeordnet ist, sondern ob an ihre Einhaltung verfahrens‑ oder materiell‑rechtliche Folgen geknüpft sind. Fristen des materiellen Rechts sind Zeiträume, an deren Beachtung das Gesetz bestimmte materielle Rechtsfolgen knüpft (1 Ob 665/90; RIS‑Justiz RS0038465 [T1]). Eine prozessuale Frist ist nach ständiger Rechtsprechung nur eine solche, die entweder durch ein Verfahren ausgelöst wird oder in einem Verfahren läuft (3 Ob 179/07f; RS0123438; 10 ObS 125/19h mwH). Die Wertung einer Frist als materiell‑rechtliche muss vom Gesetz unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht werden; im Zweifel ist von einer verfahrensrechtlichen Frist auszugehen (VwGH 2011/03/0017 mwH).

[16] 2.2 Zutreffend hat das Berufungsgericht die Frist des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG als materiell‑rechtliche Frist beurteilt. An die Versäumung der Frist knüpft das Gesetz die materielle Rechtsfolge des teilweisen Verlustes des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens (vgl 10 ObS 90/20p [Rz 11] zur Frist des § 5a Abs 2 KBGG; 10 ObS 125/19h zur Frist des § 3 Abs 3 Satz 2 FamZeitbG). Dient eine schriftliche Verfahrenshandlung (gleichzeitig auch) der Wahrung einer materiell‑rechtlichen Frist, muss sie spätestens am letzten Tag dieser Frist bei Gericht (bzw bei der Behörde) eingelangt sein; die rechtzeitige Postaufgabe, die für die Einhaltung verfahrensrechtlicher Fristen genügt, reicht somit nicht aus (1 Ob 665/90; RS0122645).

[17] 3.1 Für die Berechnung der Frist des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG ist jedoch entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht § 902 Abs 2 ABGB anzuwenden. Denn die Berechnung der Frist des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG stellt auf die Vollendung des 18. Lebensmonats des Kindes und damit auf das Erreichen einer bestimmten Altersstufe ab (vergleichbar der Voraussetzung der Vollendung bestimmter Lebensmonate des Kindes für die jeweils unterschiedliche Höchstanspruchsdauer nach den Regelungen des KBGG vor der Novelle BGBl I 2016/53; 10 ObS 148/14h, SSV‑NF 29/59; anders hingegen zur Berechnung der Frist des § 5a Abs 2 KBGG: 10 ObS 90/20p). Die Berechnung von Altersstufen ist nicht nach § 902 Abs 2 ABGB vorzunehmen: Der Tag der Geburt wird mitgerechnet. Ein Lebensmonat endet an dem Tag, der dem nach seiner Zahl dem Geburtstag entsprechenden Tag vorangeht (10 ObS 148/14h, Pkt 4.2; vgl Reischauer in Rummel/Lukas ABGB4 § 902 Rz 6; Binder/Kolmasch in Schwimann/Kodek, ABGB4 § 903 Rz 29; Kietaibl in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 902 Rz 13; Aichberger‑Beig in Klang3 § 903 Rz 9). Nichts anderes kann für eine Frist gelten, die an die Vollendung einer Altersstufe anknüpft.

[18] 3.2 Dem steht auch nicht das Europäische Fristenberechnungsübereinkommen, BGBl 1983/254 (EuFrÜb), entgegen. Dieses erfasst zwar auch gesetzliche Fristen des Verwaltungsrechts (Art 1 Abs 1 lit a EuFrÜb). Der Explanatory Report zu diesem Übereinkommen hat zwar keinen autoritativen Charakter, bildet jedoch eine wichtige Auslegungshilfe, weil er von den Verfassern des Europäischen Fristenberechnungsübereinkommens stammt (II. des Reports; 10 ObS 148/14h, Pkt 4.3). Nach Punkt 8 der allgemeinen Erwägungen des Reports ist das Übereinkommen auf die Frage, wann ein bestimmtes Alter erreicht ist, nicht anzuwenden, weil es sich dabei nicht um eine „Frist“ im Sinn der Konvention handelt (Aichberger‑Beig in Klang3 § 903 Rz 9 mwH; Reischauer in Rummel/Lukas 4 § 902 Rz 6 mwH).

[19] 3.3 Zwischenergebnis: Die Tochter des Klägers vollendete das 18. Lebensmonat daher am 30. 9. 2019, sodass der erst am 1. 10. 2019 bei der Beklagten eingelangte Nachweis über die fünfte Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung des Kindes verspätet im Sinn des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG erfolgte.

[20] 4.1 Wird wie hier eine gesetzmäßige Rechtsrüge ausgeführt, ist der Oberste Gerichtshof nicht auf die Nachprüfung des angefochtenen Urteils im Rahmen der vom Revisionswerber ausdrücklich aufgeworfenen Rechtsfragen beschränkt. Vielmehr ist dann die Berechtigung der Rechtsrüge allseitig zu prüfen (RS0043352).

[21] 4.2 Gemäß § 24c Abs 2 Z 1 KBGG besteht trotzdem Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld in voller Höhe, wenn die Vornahme oder der Nachweis der Untersuchungen nur aus Gründen, die nicht von den Eltern zu vertreten sind, unterbleibt. Auf diese Bestimmung hat sich der Kläger im Verfahren erster Instanz berufen, die Beklagte hat das Vorliegen der Voraussetzungen bestritten.

[22] 4.3 Ausschlaggebend ist, dass die Gründe, die den Nachweis verhindern, vom beziehenden Elternteil nicht zu vertreten sind und diesem kein rechtlich relevanter Vorwurf im Sinne des § 24c Abs 2 Z 1 KBGG gemacht werden kann (10 ObS 122/20v). Nach der Rechtsprechung reicht beispielsweise das bloße Übersehen der Verpflichtung zur Erbringung eines rechtzeitigen Nachweises einer Mutter‑Kind‑Pass‑Untersuchung nicht aus, um einen nicht von den Eltern zu vertretenden Grund annehmen zu können (10 ObS 157/14g SSV‑NF 29/31). Hingegen haben die Eltern nicht zu vertreten, dass der mit der Post abgeschickte Nachweis über die durchgeführte Untersuchung beim Versicherungsträger nicht einlangt (10 ObS 88/16p, SSV‑NF 30/53). Ebenso wenig ist es von den Eltern zu vertreten, wenn das Poststück an eine interne Postabteilung des Arbeitgebers übergeben wird, bei der infolge der dort standardisierten Abläufe anzunehmen ist, dass die abgegebenen Poststücke an die Österreichische Post AG weiterbefördert werden (10 ObS 122/20v). Nicht von den Eltern zu vertreten ist auch das Unterbleiben des vollständigen Nachweises einer Untersuchung, wenn dieser auf mehrere Fehler des behandelnden Arztes und eine unrichtige Auskunft eines Mitarbeiters der Beklagten zurückzuführen war (10 ObS 15/20h).

[23] 5.1 Das Erstgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass dem Kläger im konkreten Fall kein rechtlich relevanter Vorwurf im Sinn des § 24c Abs 2 Z 1 KBGG gemacht werden kann:

[24] 5.2 Der Kläger übersah nicht die Frist des § 24c Abs 2 Z 2 KBGG zur Erbringung des Nachweises der fünften Untersuchung des Kindes, denn ihm war bewusst, dass der 30. 9. 2019 der letzte Tag dafür war. Der Kläger irrte lediglich darüber, dass für die Einhaltung der Frist die Postaufgabe des Nachweises an diesem Tag genüge. Dieser Irrtum ist dem Kläger aus den bereits vom Erstgericht genannten Gründen nicht als relevant vorwerfbar: Der Gesetzgeber verwendet in § 24c Abs 2 Z 2 KBGG die Formulierung, dass der Nachweis „nachgebracht“ werden kann. Das dem Kläger zur Verfügung gestellte Informationsblatt der Beklagten spricht davon, dass der Nachweis „nachgereicht“ werden kann und zu einem späteren Zeitpunkt „eingebrachte“ Nachweise nicht berücksichtigt werden können. Aus keiner dieser – nicht einmal einheitlichen – Formulierungen lässt sich für einen normgetreuen Kinderbetreuungsgeldbezieher mit solcher Sicherheit erkennen, dass der Nachweis zu dem in § 24c Abs 2 Z 2 KBGG genannten Zeitpunkt bei der Beklagten bereits eingelangt sein muss. Vor diesem Hintergrund ist dem Kläger der Irrtum, es genüge die Postaufgabe des Nachweises spätestens zu diesem Zeitpunkt, hier nicht vorwerfbar.

[25] Der Revision ist daher im Ergebnis nicht Folge zu geben.

[26] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG. Ein Fall des § 77 Abs 2 ASGG liegt nicht vor. Für die Kostenberechnung ist – worauf bereits das Erstgericht zutreffend hingewiesen hat – von einem Streitwert in Höhe des Rückersatzanspruchs von 1.300 EUR auszugehen (RS0085754).

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